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Aus: Thälmann, Beilage der jW vom 14.08.2024
Thälmann

Bilanz und Abschied

Der ermordete KPD-Vorsitzende und der antifaschistisch-demokratische Neubeginn 1945/46
Von Günter Benser
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Thälmann trotz alledem: KPD-Bezirksdelegiertenkonferenz in Frankfurt-Höchst (10.3.1946)

Mit der Befreiung vom Faschismus und unter den von den Besatzungsmächten gesetzten Rahmenbedingungen stand die KPD-Führung vor der Aufgabe, sich zur Gesamtgeschichte der Partei sowie zu ihrem Kurs in den letzten Jahren der Weimarer Republik einerseits und den davon abweichenden neuen strategischen wie taktischen Zielstellungen andererseits zu positionieren. Das hatte auch Konsequenzen für Charakter und Praxis der anvisierten kommunistischen Massenpartei, die sich nicht mehr als strikte Oppositionskraft, sondern als »Aufbaupartei« verstand. Als ein Gradmesser erweist sich dabei der Umgang mit dem Vermächtnis des ermordeten Parteiführers Ernst Thälmann. In dieser Problematik verbirgt sich die Frage, wie sich Kontinuität und Neustart der Kommunistischen Partei Deutschlands zueinander verhielten.

Das soll im Folgenden anhand authentischer Zeugnisse der Führungsorgane und von Spitzenpolitikern der KPD untersucht werden. Zuerst jedoch setzten die befreiten Buchenwaldhäftlinge ein Zeichen, noch bevor die aus Moskau entsandten sogenannten Initiativgruppen der KPD-Führung in Deutschland eingetroffen waren. Die in diesem Konzentrationslager gewählte Parteileitung der KPD führte am 16. April – Thälmanns Geburtstag – die erste Gesamtmitgliederversammlung durch, an der 658 Mitglieder und auch Vertreter ausländischer Bruderparteien teilnahmen. Allerdings sollte diese Versammlung bereits am 13. April stattfinden – die eingerückten US-Truppen hatten jedoch sofort jegliche politische Tätigkeit im Lager verboten.

Als die KPD-Führung mit ihrem Aufruf vom 11. Juni 1945 an die Öffentlichkeit trat, bezog sie sich nur knapp auf die Tradition der Partei und erklärte: »Sie ist nie von diesem Weg abgewichen. Sie hat die Fahne Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs, Ernst Thälmanns und Jonny Schehrs stets reingehalten.« In unterschiedlichen Zusammenhängen und von verschiedenen Personen sind voneinander abweichende, zu Thälmann hinführende »Ahnenreihen« vorgetragen worden. Anton Ackermann etwa benannte auf dem 15. Parteitag der KPD August Bebel, Wilhelm Liebknecht, Karl Liebknecht und Ernst Thälmann. Paul Verner, der über die Jugendarbeit berichtete, berief sich auf Bebel, Liebknecht, Luxemburg. Walter Bartel stellte auf der Kulturkonferenz der KPD in seinem Referat Münzer, Luther, Lessing, Weitling, Bebel, Marx, Engels, Thälmann in eine Reihe. Als im Zentralsekretariat am 22. Oktober 1945 beschlossen wurde, Personen der Arbeiterbewegung zu plakatieren, fiel die Wahl auf Marx, Engels, Lenin, Stalin, Dimitroff, Liebknecht, Luxemburg, Mehring, Zetkin, Thälmann, Florin, Heckert, Pieck. Es existierte hinsichtlich der Würdigung der Vorkämpfer der Arbeiterbewegung kein festes Ritual – aber nie fehlte Ernst Thälmann.

Nach einem Gespräch mit dem politischen Berater der Sowjetischen Militäradministration W. S. Semjonow hatte Wilhelm Pieck im August 1945 notiert: »Rolle Thälmanns mehr hervorheben – seine Reden veröffentlichen – wo manches gesagt – was heute nicht opportun.« Zu diesem Zeitpunkt hatte das Zentralsekretariat der KPD bereits Vorbereitungen getroffen, um der Ermordung Thälmanns zu gedenken und am 26. August gemeinsam mit der SPD eine Veranstaltung zur Würdigung von Ernst Thälmann und Rudolf Breitscheid durchzuführen. Dieser Vorschlag fand aber in der Sitzung des gemeinsamen Arbeitsausschusses beider Parteien vom 9. August nicht die Zustimmung der SPD, so dass die Großberliner Parteiorganisation der KPD beauftragt wurde, eine Gedenkveranstaltung auszurichten. Diese fand am 2. September 1945 im Kino Babylon statt. Der Fürsorge für Thälmanns Witwe Rosa und seine Tochter Irma trug die KPD-Spitze ebenfalls Rechnung. Es wurden eine monatliche Pension in Höhe von 500 Mark und eine zusätzliche Lebensmittelversorgung beschlossen. Für die Tochter sollte eine Lehrstelle in der Verwaltung von Berlin-Lichtenberg und für die Familie eine Wohnung besorgt werden.

Den Parteimitgliedern wurde Thälmann nahegebracht, indem auf den Mitgliedskarten die Entrichtung des Eintrittsbeitrages durch eine Beitrittsmarke mit seinem Konterfei bestätigt wurde. In der Folgezeit fehlte es bei zentralen Ereignissen wie der Kulturkonferenz vom Februar 1946 und der Reichskonferenz vom März 1946 nicht an Würdigungen Thälmanns, die sich vorwiegend auf dessen Standhaftigkeit in den Jahren der Haft bezogen. Als Anton Ackermann auf der erweiterten Sitzung des Zentralsekretariats den selbstkritischen Umgang der Kommunisten mit Fehlern der Vergangenheit mit der Abstinenz der SPD verglich, spitzte er zu und erklärte, dass »wir sogar die Politik Thälmanns kritisiert haben«. Mit diesem »sogar« bezeugte er, auf welchen Sockel Thälmann gestellt war. Für Walter Ulbricht war er »nach August Bebel der populärste Arbeiterführer Deutschlands«. Wilhelm Pieck nannte er den »engsten Mitarbeiter des Führers der Partei Ernst Thälmann« (obwohl er in den innerparteilichen Auseinandersetzungen nicht immer an dessen Seite stand).

Höhepunkt dieser frühen Thälmann-Ehrung war dessen 60. Geburtstag und der 15. Parteitag der KPD. Im Februar 1946 beschloss das Zentralsekretariat, am 16. April eine Gedenkkundgebung abzuhalten. Zugleich wurde festgelegt: Da wegen der Erkrankung Willy Bredels dessen Thälmann-Biographie noch nicht in Druck gegeben werden konnte (sie erschien erst 1948), sollte eine Broschüre veröffentlicht werden. Besonderes Interesse verdient folgende Festlegung: Es sei zu erwirken, »dass auf dem Nürnberger Prozess vom Ankläger die Frage an Göring nach dem Verbleib von Thälmann gestellt wird«. Beauftragt wurde damit Walter Ulbricht. Am 16. April trug Wilhelm Pieck in seiner Rede diese Initiative auch in die Öffentlichkeit. Es ließ sich leider nicht ermitteln, ob dieser Vorschlag tatsächlich an den sowjetischen Ankläger herangetragen worden ist.

Die Gedenkfeier für Thälmann fand eine Woche vor dem letzten Parteitag der KPD und deren Aufgehen in der Einheitspartei statt. Sie wurde zugleich zur Gesamtbilanz und zum Abschied von der alten KPD. Die lange Rede Piecks erschien im Parteiorgan Deutsche Volkszeitung am 17. April. Nach einer Erläuterung der Umstände von Thälmanns Ermordung folgte eine Skizze seines Lebens, in der Thälmann auf nahezu allen Feldern der Parteipolitik als Inspirator und Organisator erscheint. Bemerkenswert ist dabei, wie betont sich ­Pieck in diesem Zusammenhang unter Berufung auf G. W. Plechanow vom Personenkult abgrenzte. Hierher gehören auch die schlichten Worte Rosa Thälmanns auf der Reichskonferenz der KPD im März 1946: »Als ich das letzte Mal den Genossen Thälmann besuchte, hat er mir gesagt: Wenn du rauskommst, sollst du allen Genossen und Genossinnen die herzlichsten Grüße bestellen, und das möchte ich hiermit tun.«

Auf der beim 15. Parteitag verlesenen »Totenliste« nahm Ernst Thälmann unter 24 Personen selbstverständlich den ersten Platz ein. Die Erinnerung an die Mitglieder der KPD, die im Zuge der Stalinschen Säuberungen zu Tode gekommen waren – darunter waren den meisten Delegierten gut bekannte führende Kader der KPD –, unterlag bereits einem Tabu, dem sich auch die kommunistischen Parteien in jenen Ländern beugten, in denen es keine sowjetische Besatzmacht gab.

Es hat hinsichtlich der Parteigeschichte vor allem auf dem 15. Parteitag nicht an kritischen Wortmeldungen gefehlt. Pieck erklärte, »beide Auffassungen, die der Kommunisten und die der Sozialdemokraten, sind durch die Geschichte erledigt«. Der neue Weg, »der sich uns heute angesichts der besonderen Lage in Deutschland eröffnet, ist weder der alte Weg der KPD noch der alte Weg der SPD«. Ackermann führte in seinem Bericht nicht alle Korrekturen auf die veränderte Lage zurück. Man habe »Fehler gemacht, im direkten Angriff mit der Stirn gegen die Wand«. So habe sich »unsere Stellung zur Demokratie wesentlich verändert«. Ulbricht sprach in seinem Bericht von »großen sektiererischen Hemmnissen« und benannte als Fehler und Versäumnisse, dass »aus den Veränderungen der Lage im Jahre 1932 nicht rechtzeitig die politischen Schlussfolgerungen« für eine »Einigung aller Kräfte auf die Verteidigung der Reste der Demokratie« gezogen worden seien. Allerdings wurde diese Kritik nicht mit konkreten Personen in Verbindung gebracht.

Es tat also ein gewisses Dilemma auf. Der Name Thälmann stand für die antikapitalistische, antimilitaristische, antifaschistische Grundlinie der KPD, für Interessenvertretung der Arbeiterklasse, für enge Freundschaft zur Sowjetunion. Aber für die Bewältigung der nun in den Vordergrund gerückten Hauptaufgaben, für die unausweichliche Abkehr von nicht mehr zeitgemäßen Auffassungen und Überzeugungen langjähriger Parteimitglieder boten sich bei Thälmann kaum Anknüpfungspunkte. Folglich taucht Thälmann in vielen Reden zur Tagespolitik nicht als Kronzeuge auf. Wir begegnen ihm vorwiegend als Vorbild für Standhaftigkeit, aber für die Erarbeitung und Begründung der einzelnen Schritte der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung gab die unter Thälmann verfolgte Politik – vereinfacht gesprochen – kaum etwas her.

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