75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Dienstag, 17. September 2024, Nr. 217
Die junge Welt wird von 2939 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Thälmann, Beilage der jW vom 14.08.2024
Thälmann

Die gefährlichste Lage

Verlorener Optimismus: Die beiden Defa-Zweiteiler über das Leben Ernst Thälmanns
Von Kai Köhler
5.jpg
Werbung für den Thälmann-Film »Führer seiner Klasse« 1955 in Zeitz

Zwei Spielfilme waren in der DDR Thälmann gewidmet, beide zweiteilig. 1954 bzw. 1955 kamen Kurt Maetzigs »Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse« und »Ernst Thälmann – Führer seiner Klasse« in die Kinos. Gut drei Jahrzehnte später, 1986, folgte ein – verglichen mit den Maetzig-Filmen weitaus weniger bekannter – Fernsehzweiteiler, bei dem Ursula Bonhoff (Teil eins) und Georg Schiemann (Teil zwei) Regie führten. In allen vier Filmen tritt Thälmann als nahezu mythische Figur auf. Er irrt mit keinem Satz und keiner Handlung. In schwierigen Situationen und angesichts unerwarteter Wendungen bestimmt er binnen weniger Sekunden die richtige Linie. Andere Kommunisten dienen entweder als Stichwortgeber für Thälmann oder als Beispiele, an denen sich Fehler und notwendige Korrekturen demonstrieren lassen.

Es verkleinert Thälmann nicht, wenn man dieses Bild als idealisiert bezeichnet. Wer handelt, macht unweigerlich Fehler – und politisches Können zeigt sich nicht zuletzt darin, solche Fehler rechtzeitig zu erkennen und zu korrigieren. Das geht nicht ohne ein kluges Umfeld, mit Leuten, die eigenständig denken. Ein solches zu schaffen und zu behalten, zeigt erst Führungsqualität.

Nun diente das Thälmann-Bild einem richtigen Zweck: nämlich dem, einen Orientierungspunkt zu geben für richtiges Verhalten. Der Thälmann der Filme war ungeachtet der Verschönerungen im Detail realistisch darin, dass er eine historische Wahrheit vermittelte. Die KPD der Weimarer Republik war die einzige Partei, die konsequent die Revolution von 1918/19 zu einem sozialistischen Ziel weitertreiben wollte, und sie war die einzige Partei, die die Gefahr durch den Faschismus rechtzeitig erkannte und tatsächlich Widerstand dagegen organisierte.

Thälmann steht zeichenhaft für diese Verdienste. Doch ergibt sich daraus ein doppeltes Problem. Das eine ist ästhetisch: Wie schafft man Publikumsinteresse für einen Helden, der menschlichen Niederungen so ganz entrückt scheint? Das andere Problem ist stofflich bedingt. Im Nibelungenlied erschlägt der Held Siegfried den Drachen ganz außerhalb einer historischen Zeit. Der Held Thälmann dagegen wird nicht nur vom Drachen Faschismus ermordet. Er handelt auch in einer konkret geschichtlich bestimmten Zeit, die noch sehr gut in Erinnerung ist. Mit diesen Konfliktfeldern gehen die beiden Zweiteiler jeweils unterschiedlich um.

Die Handlung bei Maetzig beginnt im Jahr 1918. Thälmann, zum Fronteinsatz gezwungen, bekommt die Nachricht von der Revolution. »Sohn seiner Klasse« ist im Grunde ein irreführender Titel, denn der 32jährige ist politisch schon qualifiziert und zeigt bei einer Revolte gegen reaktionäre Offiziere Führungseigenschaften. Der Hauptteil des Films ist dann Thälmanns politischer Arbeit in seiner Hamburger Heimat gewidmet und gipfelt in einer aufwendigen Darstellung des Aufstands von 1923.

Aus heutiger Sicht ist bemerkenswert, wie wenig die einzelnen Episoden historisch erklärt werden. Doch waren die Ereignisse zur Entstehungszeit des Films eben noch Zeitgeschichte und lagen ungefähr so weit zurück, wie es der Anschluss der DDR heute ist. Noch näher an der Gegenwart lag der zweite Teil, in dem Thälmann als »Führer seiner Klasse« auftritt. Er setzt 1930 ein, als Thälmann Vorsitzender der KPD ist. 1930 ist das zweite Jahr der Weltwirtschaftskrise und zugleich das Jahr einer Reichstagswahl, die den parlamentarischen Durchbruch der NSDAP bringt. Maetzigs Film vermittelt (wie auch die aus den 80er Jahren), dass der Aufstieg der Nazis ohne das Wohlwollen sowie vor allem ohne das Geld des Kapitals nicht möglich gewesen wäre, und dass aus Sicht der Finanziers der Hauptzweck des Faschismus darin bestand, die Linke zu bekämpfen.

Beide Zweiteiler bringen auch einen Auftritt Thälmanns vor französischen Kommunisten ins Bild. In einer Episode in Maetzigs zweitem Teil geht es um einen Bergarbeiterstreik im Ruhrgebiet, bei dem ein Arbeiter mit polnischem Akzent ein klares politisches Bewusstsein zeigt. Internationalismus war wichtiger Bestandteil der DDR-Kultur. Dies zeigt sich auch in den Schlusspassagen des Films von 1955.

Dramaturgisch müssen sie eine Schwierigkeit bewältigen. Thälmann wurde 1933 verhaftet, 1944 im KZ Buchenwald ermordet und hatte im letzten Jahrzehnt seines Lebens kaum mehr praktische Handlungsmöglichkeiten. In »Führer seiner Klasse« ist das Problem gelöst, indem die letzte halbe Stunde vorwiegend an der Front spielt. Die Nebenfigur Fiete Jansen – ein junger Mann, der schon in den Hamburger Kämpfen auftrat – setzt sich auf der Seite der Roten Armee für die Befreiung Deutschlands ein. Dabei trifft er den Sohn eines Schließers. Thälmann hatte seinen Bewacher überzeugt, nicht noch sein letztes Kind in den Tod gehen zu lassen; vom Vater instruiert, will der Junge zur Roten Armee überwechseln.

Das ist gut und realistisch erfunden. Es demonstriert die historische Wahrheit, dass, wer als Deutscher auf seiten der Nazis kämpfte, sowohl gegen das eigene Interesse als auch gegen das der deutschen Bevölkerung handelte. Ebenfalls künstlerisch und politisch wahr ist dann die Schlusseinstellung, die Thälmanns Ermordung andeutet. Thälmann, der abgeführt wird, schreitet auf das Publikum zu. Die Bewacher hinter ihm verschwinden, und eine wehende rote Fahne füllt den ganzen Hintergrund aus. Von einem naturalistischen Standpunkt her lässt sich das selbstverständlich als Kitsch abwerten. Jede Hinrichtung bedeutet Angst, Grauen, Blut. 1955 hingegen war das Bewusstsein möglich, dass Thälmanns Mörder verloren hatten und seine Ziele verwirklicht würden.

Problem, dramaturgisch wie politisch, ist ein Thälmann, der gleichermaßen als Sohn wie als Führer seiner Klasse unfehlbar ist. 1954/55 stehen seine Gegner gleich auf der anderen Seite oder sind Verräter. Der USPD-Mann, der in Hamburg gegen ein radikales Vorgehen auftritt, ist ebenso ein Agent kapitalistischer Kräfte wie der KPD-Vorsitzende Heinrich Brandler, den tatsächlich keine Schuld trifft, dass im Oktober 1923 der kommunistische Revolutionsversuch in Hamburg isoliert blieb. »Vorwärts«, ruft der Thälmann von 1954/55 unentwegt, und wer da zögert, ist ein Feind.

1986 tritt Thälmann ganz anders auf. Der erste Teil beginnt erst mit dem 1. Mai 1929, als in Berlin vom Sozialdemokraten Karl Zörgiebel kommandierte Polizisten auf Demonstranten schossen und 33 Menschen töteten. Auch in diesem Zweiteiler gibt es einen jungen Mann als Nebenfigur. Man sieht ihn zuerst, wie er am Abend des 1. Mai mit anderen zusammen fordert, zu den Waffen zu greifen. Thälmann hält dagegen: Mit dem Argument, dass der Feind genau darauf warte, um den Kommunisten eine vernichtende Niederlage beizubringen.

Als Lageeinschätzung war das richtig. Politisch-dramaturgisch setzt das den Akzent für die folgenden knapp vier Stunden Film. Der Thälmann aus der Spätzeit der DDR kämpft gegen die »Kinderkrankheit« Linksradikalismus und für Aktionseinheit. Als innerparteilicher Gegenspieler tritt der – damit allerdings aus der historischen Versenkung geholte und durchaus als Genosse dargestellte – Heinz Neumann auf, der die Notwendigkeit einer Bündnispolitik gegen den Faschismus nicht einsieht. Thälmann dagegen fordert nicht nur, auch die Nöte von Bauern aufzugreifen, sondern weiß zudem, dass es ohne die aufrichtigen Sozialdemokraten nicht geht. Der Film zeigt, wie diese von ihrer opportunistischen Parteiführung getäuscht werden, welche Nöte es aber für, zum Beispiel, einen alten Gewerkschaftsfunktionär bedeutet, sich von einer anerzogenen falschen Disziplin zu lösen.

Und die Jungen? Der Linksradikale verliebt sich, und zwar in die Aktivistin eines kommunistischen Straßentheatertrupps. Beide lernen politisch dazu, und sie heiraten 1932. Die proletarische Hausgemeinschaft feiert im Hinterhof. Der einzige Nazi drückt sich etwas verlegen an den Bänken vorbei. Und doch weiß man, was folgen wird und wie gering die Aussichten des Paars sind, im Jahr 1945 noch zu leben und halbwegs heil zu sein.

Dieses Wissen überschattet zumal den zweiten Teil. Unter Thälmanns Führung schlägt die Partei den Nazis manches Schnippchen, die Grundlinie ist richtig und bei der Reichstagswahl im November 1932 ist sie so stark wie nie. Allerdings nur stark genug, um zu drohen, aber nicht, um wirklich zuzuschlagen. Dies ist die gefährlichste Lage, und tatsächlich hat der relative Erfolg die Machtübergabe an die Nazis zur Folge.

Richtig, aber vergeblich: So könnte das Motto der Filme von 1986 lauten. Im einzelnen sind sie politisch klüger als die früheren. Thälmann hat zwar immer noch stets recht, doch wägt er ab, bespricht sich (vor allem mit Wilhelm Pieck; Walter Ulbricht tritt auch auf und wird als Redakteur der Roten Fahne belehrt, wie man zu schreiben habe). Thälmann bekommt ein Familienleben, und es gibt mehr Szenen, die das soziale und politische Umfeld beleuchten, in dem er seine Entscheidungen trifft. Am Ende steht seine Rede in Ziegenhals und sein Aufruf, auch nach der Machtübergabe an Hitler für den Sieg des Sozialismus zu kämpfen.

Doch zunächst einmal ist die Niederlage da, und die Jungen sind aus der Handlung verschwunden. In drei Jahrzehnten DDR hat man dazugelernt, was die Abwägung von Einzelheiten betrifft. Und im gleichen Maße ging der historische Optimismus verloren, auf der Gewinnerseite zu stehen.

Kai Köhler ist Literaturwissenschaftler

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Ähnliche:

  • KPD lebt. Losung am Wasserturm in Hamburg-Uhlenhorst 1956
    07.08.2023

    »Links von Bonn«

    Serie. Klassenkampf im Äther – 100 Jahre Rundfunk in Deutschland. Teil 9: Nach dem Verbot der KPD 1956 wurde der Deutsche Freiheitssender 904 die Stimme der illegalen Partei
  • Gegen die Entsorgung antifaschistischer Geschichte: Gedenkkundge...
    19.04.2011

    Das Erbe verteidigen

    Dokumentiert. Rede bei der Thälmann-Ehrung in Hamburg am 16. April 2011

Regio: