Der Osten bleibt rot
Von Sebastian Carlens, GuangzhouKurt Georg Kiesinger, Kanzler der ersten »großen Koalition«, plagten 1969 verstörende Visionen. Der frühere NSDAP-Mann hatte seinen Bundestagswahlkampf ganz im Zeichen der kommunistischen Weltgefahr geführt; auf einem CDU-Konvent schweifte sein Blick nach Fernost: »Ich sage nur China, China, China!« Der Sinn seiner düsteren Prophezeiung war niemandem so richtig klar. In der damals bitterarmen Volksrepublik tobte die Kulturrevolution, ihre Auswirkungen hatten die jugendliche Protestkultur Amerikas und Europas erreicht. Oder besorgte ihn, ganz im Sinne der Dominotheorie Eisenhowers, die revolutionäre Situation in Teilen Asiens? Dass einmal bedeutende deutsche Monopole wie jüngst VW ins Taumeln geraten könnten, weil der chinesische Markt einen Schnupfen bekommt: Daran hatte der frühe Warner ganz sicher nicht gedacht.
1969 war tatsächlich nur mit viel Phantasie vorstellbar, welche Rolle China heute spielen würde. Am ehesten kamen den Menschen vor deutschen Fernsehschirmen die »blauen Ameisen«, die einheitlich gekleideten chinesischen Arbeiter, in den Sinn. Das Land war weit weg, die ersten »China-Restaurants« mit stark europäisierter Speisekarte begannen sich gerade in westdeutschen Großstädten anzusiedeln. Und doch fand etwas statt, dass die Welt für immer verändern und den Kanzler der betulichen alten BRD in Wallung versetzen würde: Der Wiedereintritt des riesigen Landes in die Arena der Weltpolitik. Seit Gründung der Volksrepublik vor 75 Jahren am 1. Oktober 1949 war das chinesische Territorium im wesentlichen wieder vereint (Tibet konnte zwei Jahre später eingegliedert werden; Hongkong und Macao erst 1997 bzw. 1999, die Wiedervereinigung mit Taiwan steht noch aus), eine Zeit jahrhundertelanger Wirren fand ihren Abschluss. Zunächst als weiterer Satellit Moskaus und Teil des »Ostblocks« wahrgenommen, trat Beijing nach dem Bruch mit der UdSSR immer nachdrücklicher in Erscheinung – zunächst als Unterstützer antikolonialer Kämpfe im Trikont.
Nicht Chinas Wiederaufstieg, sondern seine Absenz von der internationalen Bühne war die Ausnahmeerscheinung gewesen. Tatsächlich war das antike China, Eigenbezeichnung »Alles unter dem Himmel«, nie völlig abgeschottet. Seit vorgeschichtlicher Zeit existierten bedeutende Handelsrouten zu Wasser und zu Lande, die einen eurasischen Waren- und Güterverkehr ermöglichten – die Seidenstraßen. »Die Serer«, so nannte der römische Geschichtsschreiber Plinius der Ältere die Chinesen, »sind berühmt für die wollartige Substanz, die sie aus ihren Wäldern gewinnen. Vielfältig ist die aufgewendete Arbeit und weit entfernt in der Welt ist die Region, auf die man sich stützt, damit römische Mädchen in aller Öffentlichkeit mit durchsichtiger Kleidung protzen können.« Der wirkliche Ursprung der Seide war ihm unbekannt, das Monopol darauf hielten die alten Chinesen. Es war nicht das einzige.
Tatsächlich hatte die territoriale Ausdehnung des alten China ihren Höhepunkt erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts erreicht. Die Wirtschaftskraft des Kaiserreiches war damals einsame Weltspitze, kein Land verfügte über eine ähnlich große Bevölkerung – im Jahr 1700 etwa 138 Millionen Einwohner. China war autark, lediglich Luxusprodukte wurden importiert. Die Militärtechnologie war entwickelt genug, um es mit den feudalistischen Mächten des alten Europa aufnehmen zu können. Doch der Niedergang hatte längst begonnen: Gegenüber den sich entwickelnden kapitalistischen Staaten geriet die starre, konfuzianisch verfasste chinesische Zivilisation ins Hintertreffen. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts kam das Land militärisch immer stärker unter Druck, nach 1895 konnte der industriell-militärischen Macht Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands – und nun auch Japans – nichts mehr entgegengesetzt werden. Selbst schwache Staaten wie das zaristische Russland bedienten sich hemmungslos, immer mehr Territorien gingen verloren, etwa Taiwan und die südliche Mandschurei. Auch die bürgerliche Revolution von 1911, die der vierhundert Jahre alten Qing-Dynastie ein Ende bereitete, erreichte keine Konsolidierung. Die folgenden Jahre standen unter dem Eindruck des expansiven japanischen Kaiserreiches, das Marionettenstaaten aus dem Nordosten Chinas schnitt. Das Kernland war zwischen Warlords, Aufständischen der chinesischen Roten Armee und der – selbst vielfach gespaltenen – bürgerlichen Partei Guomindang aufgeteilt. Ethnische Minderheiten wurden aufgewiegelt; in den Groß- und Hafenstädten hatten sich Kolonialherren festgesetzt; christliche Missionare und Opiumhändler erledigten den Rest. Es hatte den Anschein, als ob der Kontakt mit dem kapitalistischen Westen für die chinesische Gesellschaft tödlich enden sollte.
Erst der Sieg der Kommunisten im Bürgerkrieg eröffnete eine Perspektive für das zerrissene, gedemütigte Land. Die Gründung der Volksrepublik fiel in die – insgesamt über 20 Jahre andauernde – Zeitspanne einer nachholenden, postkolonialen Nationenbildung. Zur gleichen Zeit wurde Indien unabhängig, afrikanische und weitere asiatische Staaten sollten folgen. Woran lag es, dass es keinem anderen der »späten« Staaten – auch nicht dem vergleichbar großen indischen Subkontinent – gelingen sollte, es auf Augenhöhe zum Westen zu bringen? Zunächst ist es fraglich, ob eine Einigung und Entwicklung Chinas unter bürgerlichen Vorzeichen überhaupt hätte gelingen können; das Scheitern der Guomindang zeigt die Grenzen nationalistischer Projekte in einer unter imperialistischen Großmächten aufgeteilten Welt. Die Zugehörigkeit zur kommunistischen Bewegung ermöglichte China in den 50er Jahren eine rasante (Schwer-)Industrialisierung, denn die ersten beiden Fünfjahrespläne kamen unter tatkräftiger Hilfe der UdSSR zustande. Sie legten das Fundament für alles folgende, darunter auch für die Marktöffnung in den späten 70er und frühen 80er Jahren, mit denen das chinesische »Wirtschaftswunder« heute überwiegend erklärt wird. Die Kommunistische Partei Chinas konnte eine Alternative zur Ein- und Unterordnung in die kapitalistische Wirtschaft aufzeigen, bis das Land stark genug geworden war, selbst als Akteur des Weltmarktes aufzutreten – und den Westen das Fürchten zu lehren.
Diese Aufholjagd hat innerhalb von wenigen Jahrzehnten die gesamte industrielle Revolution, die im Westen vor über 200 Jahren ihren Anfang nahm, nachgeholt: Eine komplexe Angelegenheit, die es nicht bei Maschinen, Fabriken und Eisenbahnen belässt, sondern auch das Bewusstsein der Menschen grundstürzend verändert. Die gesamte primäre Akkumulation in allen Facetten, von der Karl Marx als Bedingung für einen entwickelten Kapitalismus (und alles weitere) spricht, musste der Frühsozialismus erledigen. Für die Ökonomie der BRD sollte sich dieser Vorgang ab der Marktöffnung als wahrer Jungbrunnen erweisen: Ohne den gigantischen Absatz in China wäre Volkswagen niemals zum zeitweise größten Autobauer der Welt (mit über 30 Fabriken in China) geworden. Etliche weitere deutsche »Traditionsunternehmen« wären längst Geschichte, wenn sie sich ab den 80er Jahren nicht in Fernost hätten gesundstoßen können. Dass all dies unter Herrschaft einer kommunistischen Partei stattfand, ist damals offenbar nicht weiter ins Gewicht gefallen.
Auch diese Phase ist weitgehend beendet, denn Chinas Tour de Force in die Moderne hat den Westen eingeholt und mancherorts bereits überrundet. Die »Herausforderung« durch diesen »Systemkonkurrenten«, die bürgerliche Politiker um den Verstand bringt, ist anderer und grundsätzlicher Art, denn zum ersten Mal überhaupt wird die ökonomische Dominanz der klassischen imperialistischen Staaten ernsthaft in Frage gestellt – auch die Sowjetunion hatte dies in den 70 Jahren ihrer Existenz nie wirklich vermocht. Mit der ökonomischen Vorherrschaft werden viele Bastionen fallen, darunter auch die kulturelle Hegemonie des Westens. Bis es soweit ist, um herausfinden zu können, ob es die KP Chinas obendrein mit dem Sozialismus ernst meint, bleiben andere unbekannte Erfahrungen für das so lange erfolgsverwöhnte Europa. Die South China Morning Post berichtete am 12. September, dass chinesische E-Auto-Bauer, die unter anderem in der EU Werke errichten wollen, auf lokale Endmontage zugelieferter Module setzen. Der Vorsprung in Forschung und Entwicklung solle vor den neugierigen Blicken der Europäer geschützt werden, heißt es. Die Impulse kommen aus dem Osten – neu ist das, welthistorisch betrachtet, keineswegs. Doch plötzlich steht die Werkbank im Westen. Das gab es noch nicht.
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