Zur Gegenwart der Geschichte
Von Hauke NeddermannDeutsche Kriegsschiffe in der Taiwanstraße, jubelt Mitte September die Berliner Hauptstadtpresse und begeistert sich für den »weltpolitischen Coup« des Kanzlers: Mit der Passage der schwerbewaffneten Fregatte »Baden-Württemberg« vom Ost- ins Südchinesische Meer am Freitag, den 13., habe Deutschland mit »Mut und Stärke« ein Zeichen für die westlichen »Werte« gesetzt, da könne das säbelrasselnde Regime in Beijing noch so toben. Endlich wieder deutsche Weltpolitik also – so geht »Zeitenwende«! Für chinesische Beobachter dürfte das Flottenmanöver der deutschen Marine allerdings eher nach einem »Panthersprung« in die Vergangenheit ausgesehen haben.
»Unsere Festsetzung an der chinesischen Küste (…) war ein erster praktischer Schritt auf dem Wege der Weltpolitik«, räsonierte 1916 Bernhard von Bülow, der dem deutschen Kaiserreich seit Ende des 19. Jahrhunderts zuerst als Staatssekretär im Auswärtigen Amt, dann als Reichskanzler zum sprichwörtlichen »Platz an der Sonne« verhelfen wollte. Deutscher Kolonialismus in China war dabei stets Sache der deutschen Marine. So im November 1897, als das Landungskorps einer deutschen Kreuzerdivision die Jiao zhou-Bucht in Ostchina besetzte, um sie zum Flottenstützpunkt auszubauen: Die Kolonie wurde dem Reichsmarineamt unterstellt, ein Flottenoffizier residierte in Qingdao als Gouverneur, über dem Territorium wehte die Flagge der deutschen Seestreitkräfte. Und auch im Juni 1900 stand die deutsche Marine im Zentrum des kolonialen Geschehens, als mit dem Bombardement chinesischer Festungen durch das deutsche Kanonenboot »Iltis« ein mörderischer Angriffskrieg begann, mit Plünderungen chinesischer Kulturschätze, mit Vergewaltigungen, Massenmorden, verbrannter Erde, wohl 100.000 Toten allein in Beijing, unzählige mehr im Umland – das berüchtigte »Pardon wird nicht gegeben«, was Deutschlands oberster Militär, Wilhelm II., seinen Seebataillonen im Juli 1900 bei der Ausschiffung nach Ostasien zugebrüllt hatte, war angekommen.
»Liebe Mutter, am 26. August haben wir 400 Chinesen erschossen«, liest man im Feldpostbrief eines deutschen Seesoldaten, »erst halb tot geschlagen und dann die Leine zusammengebunden, dann Leine gezogen, aber an die Zöpfe gebunden. Erst haben sie ihre Löcher graben müssen, und dann wurden sie erschossen. Es war graulich anzusehen, aber uns macht es Vergnügen.« Im Echoraum des Historischen hallen die Ereignisse bis heute nach – der Rassismus der kolonialen Besatzer, die entfesselte Gewalt, die blutige Unterwerfung. Als sich der spätere Literaturnobelpreisträger Mo Yan 2001 in seinem Roman »Die Sandelholzstrafe« des 100jährigen Kolonialtraumas seiner Landsleute annimmt, tragen die europäischen Teufelsfiguren, die die alptraumhafte Geschichte in Gang setzen, deutsche Marineuniformen.
Doch in seiner gleichgerichteten Chinakritik interessieren das deutsche Kommentariat weder Geschichten noch Geschichte. Für die chinesische Perspektive ist es schon deshalb blind. Denn in China gelte, meint der Soziologe Jonathan Unger, »die Geschichte, stärker als in anderen Ländern, als Spiegel« durch den alle Jetztzeit betrachtet werde.
Dazu passt, dass in der Volksrepublik, anders als in deutschen Debatten, nur selten von einem »Aufstieg« (Jueqi) Chinas die Rede ist. Denn aus chinesischer Perspektive spiegelt sich schon in der Redeweise der Griff des globalen Westnordens nach historischer Deutungshoheit, wobei Kolonialismus und Imperialismus nicht zufällig aus der Geschichte getilgt werden. Als chinesisches Gegenkonzept hat seit den 1990er Jahren »Wiedererstehung« (Fuxing) Einzug in die Diskussion gehalten. In seinen Bezügen reicht dieser Begriff über die Entwicklungen der vergangenen vier Jahrzehnte hinaus, hinein in die Trümmerlandschaften der kolonialen Geschichte.
Damit ist die chinesische Erzählung über China der westnördlichen grundsätzlich entgegengesetzt. Nicht Chinas »Aufstieg« erschüttert in ihr die Ordnung der Welt und sorgt für tektonische Verwerfungen, vielmehr stellt – umgekehrt – Chinas Sturz im 19. Jahrhundert die eigentliche Verschiebung der Ordnung dar. Er war die neuzeitliche Urkatastrophe, aus der ein Jahrhundert der Demütigung als schier endlose Serie weiterer Katastrophen erwuchs. In ihnen zerstob Chinas traditionelle Hegemonie in Ostasien. Das Selbstbewusstsein »Alles unter dem Himmel« (Tianxia) zu sein, Hort einziger Zivilisation, zerbröselte; die zuvor weltweit führende Ökonomie brach in sich zusammen; immer breitere Teile der Bevölkerung verarmten; der konfuzianische Staat implodierte. China wurde vom einzigen Ort, der Welt, zu einem Ort in der Welt, an ihrem Rand zumal. Dabei war noch das 18. Jahrhundert, so der Sinologe Helwig Schmidt-Glintzer, ein Jahrhundert des Wohlstandes gewesen. »Der chinesische Bauer der Yongzheng-Ära (1722–35) und der ersten Hälfte der Qianlong-Ära (1735–96) war ganz allgemein bei weitem besser ernährt und führte ein angenehmeres Leben als der französische Bauer unter Ludwig XV. (1710–74) und er war zudem meist auch noch gebildeter.«
Im geschichtsbasierten Gegenwartsverständnis in China ist das sich derzeit schärfende Profil der Volksrepublik als Groß- und womöglich kommende Supermacht mithin als Überwindung einer bloß vorübergehenden Disruption und Wiederherstellung der eigentlichen Ordnung perspektiviert: Es ist das Ende eines Ausnahmezustands. Und während ein »Aufstieg« bloß in etablierte internationale Ordnungsmuster hineinführen würde, scheint im chinesischen Selbstbild des »Wiedererstehens« eine störrische Nichtunterwerfung auf, ein »Nie wieder« des einst Entmachteten, als Wille und Anspruch, die künftige Ordnung der Welt entscheidend mitzugestalten.
Wenn die Besitzstandswahrer des Westnordens, kostümiert als hehre Verteidiger der Freiheit der Meere, an Chinas Grenzen also wieder einmal ihre Kriegsgeräte vorzeigen, sollte das niemanden wundern. Es ergibt ein schlüssiges Bild. Eines, das man »Völker Europas, wahrt Eure heiligsten Güter« nennen könnte – so wie das Gemälde, das Wilhelm II. 1895 anfertigen ließ, um gegen die »gelbe Gefahr« zu hetzen. Dass die »heiligsten Güter« am Ende bloß die liebgewonnenen Privilegien waren, wollte schon damals keiner laut sagen.
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