China-Schock fürs deutsche Kapital
Von Jörg KronauerZu den Vorteilen, die China aus der Öffnung seiner Wirtschaft für westliche Unternehmen gezogen hat, gehören zwei, die über Jahrzehnte hin recht problemlos nebeneinander ihre Wirkung entfalteten, die inzwischen aber mehr und mehr in Widerspruch zueinander geraten. Einerseits halfen westliche Investitionen, modernste Technologie ins Land zu bringen, die die Volksrepublik für ihren Aufstieg dringend benötigte. Andererseits entwickelte China sich für viele Investoren zu einem herausragenden Absatzmarkt; das dämpfte die Bereitschaft im Westen ein wenig, die Konfrontation mit der aufsteigenden Volksrepublik allzu heftig zu verschärfen – es war ja klar, dass man damit einzigartige Profite langfristig aufs Spiel setzen würde. Für Beijing waren die Gewinne, die westliche Unternehmen in China einstreichen konnten, stets ein Puffer, der ein wenig Schutz gegen westliche Aggressionen bot.
Die Ära, in der die beiden Vorteile nebeneinander Wirkung entfalteten, scheint nun aber dem Ende entgegenzugehen. Denn auf der Grundlage der ins Land geholten modernen westlichen Technologie gelingt es chinesischen Unternehmen immer häufiger, sich eigenständig weiterzuentwickeln und die einstigen westlichen Vorbilder abzuhängen. Das führt dazu, dass westliche Firmen in der Volksrepublik Marktanteile verlieren und auch auf Exportmärkten jenseits Chinas, langfristig gar auf ihren Heimatmärkten starke chinesische Konkurrenz fürchten müssen. Deutlich zeichnet sich das aktuell im Fall deutscher Unternehmen ab – und zwar gleich in den drei wichtigsten Branchen der deutschen Industrie: in der Automobilbranche, dem Maschinenbau und der Chemieindustrie.
Die Branche, in der die Entwicklung vielleicht am deutlichsten zutage tritt, ist der Autobau. Dass die deutschen Kfz-Konzerne bei der Umstellung auf Elektromobilität nur recht langsam vorankommen, rächt sich auf dem riesigen chinesischen Markt, wo der Anteil der Verbrenner an den verkauften Neuwagen von 94 Prozent im Jahr 2020 stark gesunken ist und in diesem Jahr wohl nur noch bei 50 Prozent liegen wird. Da aber bei Elektro- und Hybridmodellen chinesische Hersteller die Nase weit vorn haben, ist der Marktanteil von Volkswagen, BMW und Mercedes-Benz von insgesamt 26,5 Prozent im Jahr 2020 auf 21,8 Prozent im Jahr 2023 zurückgegangen, und in diesem Jahr wird er wohl noch weiter schrumpfen. Während BYD seine Produktion um 55 Prozent steigern und Volkswagen als Marktführer in China ablösen konnte, liegen bei Volkswagen Kapazitäten brach; in den chinesischen Fabriken des Konzerns, die 4,8 Millionen Fahrzeuge herstellen können, wurden 2023 kaum 3,1 Millionen Autos gefertigt. Haben BMW und Mercedes bei Verbrennern noch einen Marktanteil von jeweils mehr als 4,5 Prozent, so kommt BMW bei Elektroautos nur auf 1,7 Prozent, Mercedes gar nur auf 0,7 Prozent.
Gelingt es den deutschen Kfz-Riesen nicht, bei Elektroautos das Ruder herumzureißen – und daran arbeiten sie aktuell hart –, dann sind die Zeiten des blühenden Chinageschäfts für sie wohl bald vorbei. Zugleich haben ihre Abwehrkämpfe gegen chinesische E-Auto-Hersteller, die nicht nur in Drittländer, sondern auch auf den EU- und auf den deutschen Heimatmarkt vordringen, längst begonnen und werden härter; die EU-Kommission hat zu ihrem Schutz inzwischen Strafzölle auf die Einfuhr von Elektroautos aus China verhängt. Ob das aber hilft, bleibt fraglich.
In ernste Schwierigkeiten ist auch der deutsche Maschinenbau geraten. Nicht, dass er nicht gewachsen wäre: Die Exporte der Branche schnellten laut Berechnungen der staatlichen Außenwirtschaftsagentur Germany Trade & Invest (GTAI) von 87,4 Milliarden Euro im Jahr 2000 auf 223,1 Milliarden Euro im Jahr 2020 in die Höhe. Damit gelang dem deutschen Maschinenbau, sich weit von seinen japanischen Verfolgern abzusetzen und den bisherigen Exportweltmeister der Branche, die USA, klar abzuhängen. Trotzdem hat er im selben Zeitraum Weltmarktanteile verloren: China hat ihn überholt. Während die Volksrepublik ihren Weltmarktanteil von 1,9 Prozent im Jahr 2000 auf 14,1 Prozent im Jahr 2020 steigern konnte, fiel der deutsche Anteil von 14,6 Prozent auf 13,9 Prozent zurück. Wieso? Chinesische Unternehmen hätten, ihren riesigen Binnenmarkt ausnutzend, »enorme Produktionskapazitäten« aufgebaut, erläuterte im Juli der Präsident des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA), Karl Haeusgen; damit hätten sie die deutsche Konkurrenz in die Schranken gewiesen – zunächst in der Volksrepublik selbst.
Und in der Tat: Der chinesische Markt wächst ungebrochen; der China-Export des deutschen Maschinenbaus aber stagniert seit dem Jahr 2018 und kommt nicht über die Schwelle von 19 Milliarden Euro hinaus; die chinesische Konkurrenz ist zu stark geworden. Längst zeichnen sich weitere Konsequenzen ab: Auch auf weiteren Märkten in aller Welt drängen chinesische Maschinenbauer nach vorn. Die deutsche Branche könne sich die harten Preiskämpfe »auf weniger wichtigen Drittmärkten« kaum noch leisten; man werde womöglich »solche Märkte komplett aufgeben« müssen, warnte Haeusgen im Juli. Im September schlug der VDMA Alarm: Im ersten Halbjahr seien die Maschinenexporte um 4,8 Prozent gesunken, und wegen der Schwäche auch im Inland gehe man inzwischen davon aus, dass die Gesamtproduktion im Jahr 2024 um acht Prozent gegenüber 2023 schrumpfen werde. Erneut zeigt sich: Die Volksrepublik hat sich vom einzigartigen Absatzmarkt zur Konkurrenz entwickelt; die erklecklichen Profite aus dem Chinageschäft schwinden.
Damit nicht genug. Dramatische Meldungen kommen auch aus der Chemieindustrie, der – nach der Kfz-Industrie und dem Maschinenbau – drittgrößten Branche der Bundesrepublik. Wie das Handelsblatt kürzlich konstatierte, wirken sich die gestiegenen Erdgaspreise vor allem auf die Basischemie gravierend aus, etwa auf die Herstellung von Massenkunststoffen wie Polypropylen oder Polyethylen, die deutlich teurer geworden ist. Gleichzeitig hat China seine Produktion nach einem Unterangebot in den Jahren von 2015 bis 2019 hochgefahren, und dies in einem Umfang, der nun zu einem Überangebot geführt hat. So drängt nun etwa chinesisches Polyethylen in großen Volumina auf den Weltmarkt. Dies wiederum führt dazu, dass die billigeren chinesischen Produkte der deutschen Konkurrenz Marktanteile abnehmen – und zwar auch in Europa. Laut dem Handelsblatt schnellten die Chemieeinfuhren der EU von einem Wert von rund 107 Milliarden Euro im Jahr 2017 auf einen Wert von gut 238 Milliarden Euro im Jahr 2023 in die Höhe. Besonders stark stieg dabei der Anteil der Basischemie an den Importen, und der Anteil, der aus China kam, wuchs rapide.
Die Folge: In Europa sinken die Profite der Basischemiehersteller, sofern diese überhaupt noch Gewinne erzielen. BASF etwa hat bereits begonnen, Werke stillzulegen, und es stehen dem Handelsblatt zufolge »weitere Anlagen vor dem Aus«. Auch andernorts auf der Welt stecke die Chemieindustrie in Schwierigkeiten, konstatierte die Marktforschungsfirma ICIS; »der Schwerpunkt« der bereits zu verzeichnenden Unternehmensschließungen aber liege »eindeutig auf Europa«. Während in China das Geschäft boomt, bricht es in Europa, insbesondere in Deutschland, weg.
Gelingt es der deutschen Industrie, eine Wende einzuleiten? Experten geben sich skeptisch. Rolf Langhammer vom Kiel Institut für Weltwirtschaft urteilte kürzlich, er mache sich »Sorgen um das deutsche Exportmodell«. Es sei »nicht ausgeschlossen«, dass dieses »in den kommenden Jahren zu Ende« gehe. Kommt es dazu, dann liegt das nach aktuellem Stand keinesfalls nur, aber eben auch an der erstarkten chinesischen Konkurrenz. Im Handelsblatt war kürzlich bereits von einem »China-Schock« die Rede. Leidet dann auch noch das Geschäft deutscher Unternehmen in China selbst – also die Produktion in der Volksrepublik für den chinesischen Markt –, dann schwindet ein Faktor, der die deutsche Politik bei ihrem Vorgehen gegen Beijing immer wieder mäßigte, während der steigende Konkurrenzdruck zu einer in Zukunft noch aggressiveren deutschen Politik führen könnte. Die Folgen für die Volksrepublik liegen auf der Hand.
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