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Aus: VR China, Beilage der jW vom 25.09.2024
Volksrepublik China

Blick in die Theoriewerkstatt

Nur langsam wird im Westen das chinesische Denken erschlossen. Ein neuer Sammelband hilft dabei
Von Marc Püschel
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»Revolutionäre Lehrer und Schüler sind Genossen im selben Schützengraben«. Plakat aus der »Großen proletarischen Kulturrevolution« von 1974.

Die Asymmetrie ist immer noch bemerkenswert. Während man in der Volksrepublik China den aktuellen Stand politischer, philosophischer und ökonomischer Diskussionen im Westen gründlich rezipiert, kennt man hierzulande kaum etwas von chinesischen Intellektuellen. Vereinzelt wurden in den vergangenen Jahren auch zeitgenössische Denker ins Deutsche übertragen, etwa Zhao Tingyangs politphilosophisches Werk »Alles unter dem Himmel«. Doch die Selektivität der Übersetzungen ruft den Eindruck hervor, einzelne Texte stünden stellvertretend für »das« chinesische Denken, was das Vorurteil bestärkt, in China gebe es nur Einheitsbrei und keine lebhaften Debatten.

Die ganze Breite der chinesischen Theorieproduktion gerät zumeist nur im Rahmen stark spezialisierter sinologischer Forschungen oder in politikwissenschaftlichen Thinktanks wie dem Mercator Institute for China Studies in den Blick. Projekte, die dem Publikum durch Übersetzungen, die nicht von vornherein in wertende Analysen eingebunden sind, einen unvoreingenommenen eigenen Blick gestatten, gibt es dagegen kaum. Im englischen Sprachraum gibt es immerhin Projekte wie den Blog »Reading the China Dream«, der Texte chinesischer Intellektueller der Gegenwart übersetzt und damit zugänglich macht – doch für deutsche Leser gibt es kaum Vergleichbares.

Vielheit in Einheit

Angesichts dieser Schieflage ist der neue Sammelband »Chinesisches Denken der Gegenwart. Schlüsseltexte zu Politik und Gesellschaft« um so bemerkenswerter. Die von dem Freiburger Sinologen Daniel Leese und dem freien Journalisten Shi Ming herausgegebene Anthologie besticht vor allem durch eine relativ vorurteilsfreie Auswahl an Texten. Enthalten sind 21 Essays oder Vorträge zu den vier Themenbereichen Chinesisches Selbstverständnis, Staatsdenken und Herrschaftslegitimation, Bauernfrage und ländliche Modernisierung sowie Zukunftsfragen.

Die Herausgeber geben sich zwar einleitend bescheiden und betonen, ihre Textsammlung erhebe »keinen Anspruch auf Repräsentativität unterschiedlicher Denkströmungen oder inhaltliche Vollständigkeit« und sei »bewusst eklektisch«. Dennoch bündelt das Buch einige der wichtigsten Beiträge chinesischer Intellektueller aus den letzten beiden Jahrzehnten. In einem einleitenden und abschließenden Essay scheint zwar die politische Meinung der Herausgeber durch, doch die Textauswahl hält ein ehrliches Gleichgewicht, liberale Kritiken und Beiträge parteitreuer Marxisten sind ungefähr zu gleichen Teilen präsent. Auf eine ausführliche Kommentierung der Beiträge wurde zum Glück verzichtet; die Vielfalt der Positionen steht für sich.

Um die Vielheit in der Einheit geht es auch in den Texten, die sich im ersten Themenblock dem chinesischen Selbstverständnis als Staat und Nation widmen. In »Die Zweite Generation der Nationalitätenpolitik« fordern Hu Angang und Hu Lianhe, nach der Identifikation von 56 Nationalitäten benötige es nun eine Politik, die »die Verschmelzung aller Nationalitäten innerhalb des Staates zu einer organischen Einheit vorantreibt«. Dazu sollen politische Sonderrechte von ethnischen Gruppen schrittweise abgebaut und gezielt auf ein allmähliches Verschmelzen der Nationalitäten hingearbeitet werden. Als liberale Kritik daran lassen sich die Texte der Historiker Ge Zhaoguang und Xu Jilin lesen, die zunächst um eine Bestandsaufnahme der ethnischen Pluralität Chinas in Vergangenheit und Gegenwart bemüht sind. Besonders Xu plädiert für die Bewahrung kultureller Eigenarten, indem er strikt zwischen Staatsvolk, Nationalität und ethnischen Gruppen unterscheidet und einen »Verfassungspatriotismus« fordert, bei dem sich ein politisch-rechtlich einheitliches Staatsvolk aus einer Vielfalt von Kulturen und Nationalitäten zusammensetzt.

Nicht alle Beiträge ergeben einen solchen direkten Gegensatz. Die Verteidigung des »Gesetzes zur Bewahrung der nationalen Sicherheit in Hongkong« durch den Juristen Chen Duanhong steht ebenso für sich wie die kritische Einlassung »Was ist wahrer Patriotismus?« seines Kollegen Zhang Qianfan, der darauf pocht, dass Patriotismus keine »Liebe« zu einer autokratischen Regierung verlange und der Staat keine anderen legitimen Interessen haben könne als die Summe der Einzelinteressen der Menschen. Beides ließe sich nur sehr vermittelt in Zusammenhang bringen, insofern sich beide auf die philosophische Tradition berufen, Chen auf Thomas Hobbes und Zhang auf John Locke.

Der zweite Abschnitt behandelt Fragen von Staat und Herrschaft und stellt die drei großen politischen Strömungen der chinesischen Gegenwart vor. Der Neukonfuzianismus wird durch Beiträge von Gan Yang und Chen Ming repräsentiert, die das historische Kontinuum der chinesischen Zivilisation betonen und in deren Verständnis das Konzept der chinesischen Nation, wie es Xi Jinping entwirft, »sowohl das Individuum als auch die Klassen transzendiert«. Aus der liberalen Ecke kritisiert Liu Qing, es bestünde »keinerlei Bedarf, Begriffe (…) aus den konfuzianischen Klassikern zu entlehnen«; Cui Weiping fordert einen »humanen« Sozialismus. Bemerkenswerterweise stammt der längste Beitrag des Buches von dem klassischen Marxisten Jiang Shigong, der sich in »Philosophie und Geschichte: Eine Interpretation der ›Ära Xi Jinping‹ auf Basis des Berichts auf dem 19. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas« von 2018 um eine Definition des »Sozialismus chinesischer Prägung« bemüht und dabei besonders die Rolle von Xi Jinping als »Kernführer«, der über eine besondere »charismatische Autorität« verfüge, herausstellt.

Zukunftsfragen

Stärker auf politische Einzelfragen fokussieren sich der dritte und vierte Themenbereich. In Fragen der Bauernschaft zeigen sich auch hier scharfe Gegensätze zwischen Neuen Linken wie etwa Wen Tiejun, der für eine nachhaltige staatliche Entwicklungspolitik auf dem Land eintritt, und Liberalen wie Qin Hui oder Guo Yuhua, welche die Rückgabe der vollen Bodenrechte an die Bauernschaft und damit ihre Unterwerfung unter die Marktlogik fordern. Alle politischen Richtungen aber stehen vor der Frage, ob und wie sich in einem Land, dessen Sozialstruktur sich in einem extremen Wandel befindet, die Bauern überhaupt als Klasse verstehen lassen – der Aufsatz »Wer ist ein Bauer?« des Soziologen He Xuefeng erörtert das Problem.

Die spannendsten Beiträge drehen sich um die Frage der zukünftigen Ausgestaltung des Sozialismus in China. Am kontroversesten dürfte hier sicherlich Yu Qingsongs Forderung nach einem mittels des Sozialkreditsystems und einer algorithmischen Verwaltung geschaffenen »digitalen Sozialismus« sein. Die Marxismus-Professorin Song Shaopeng demonstriert in »Sozialismus und Frauen: Warum China erneut eine marxistisch-feministische Kritik etablieren muss«, dass die westliche Frauen- und Geschlechterforschung auch in der Volksrepublik rezipiert wird, fordert aber zugleich deren »revolutionäre Transformation« und eine Rückkehr zu ökonomischer Kritik statt Identitätspolitik.

Am eindrücklichsten ist aber Fang Nings Text »Stärken und Schwächen des chinesischen Systems: Über die zwei Seiten der Leistungsfähigkeit zentralisierter Machtstrukturen«. Sehr differenziert erörtert der ehemalige Vorsitzende der politikwissenschaftlichen Sektion der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften hier Pro und Contra des eigenen Regierungswesens. Die Zentralisierung des Machtsystems ermögliche zwar ein effizientes Reagieren auf Krisensituationen, andererseits werde der Staatsapparat aber zunehmend schwerfällig. Notwendig sei daher, so der Marxist, ein »tiefgreifendes Verständnis für die eigenen Unzulänglichkeiten«.

Schlecht ausgewählt ist lediglich der letzte Beitrag. Erkennbar wollten die Herausgeber den Band mit einem staatskritischen Artikel beschließen. Die Schrift »Das wütende Volk lässt sich nicht länger einschüchtern« des 2020 kurzzeitig inhaftierten Dissidenten Xu Zhangrun ist allerdings ein rein polemisch-anklagender statt analytischer Text und fällt insofern aus dem Rahmen der anderen Beiträge, die alle nüchtern argumentieren. Der Güte des Sammelbands tut diese Dissonanz am Ende jedoch kaum Abbruch. Zwar bleiben viele Texte voraussetzungsreich, doch auch ohne Vorkenntnisse gewinnt man bedeutende Einblicke in die theoretischen Auseinandersetzungen in der Volksrepublik.

Chinesisches Denken der Gegenwart. Schlüsseltexte zu Politik und Gesellschaft. Übersetzt und kommentiert von Daniel Leese und Shi Ming. C. H. Beck, München 2023. 640 Seiten, 29,90 Euro

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