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Aus: VR China, Beilage der jW vom 25.09.2024
Volksrepublik China

Der Ingenieur am Taxameter

Überqualifizierte Chinesen kämpfen mit nicht zufriedenstellenden Berufen. Der Staat arbeitet an größerer Spezialisierung für kommende Hochschulabsolventen
Von Maik Rudolph
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»Liebe die Wissenschaft – Studiere die Wissenschaft – Nutze die Wissenschaft.« Plakat aus der Zeit von Deng Xiaoping von 1980

Nachdem Merkel die »Bildungsrepublik« ausgerufen hatte, überschwemmten angehende Geisteswissenschaftler die Unis: Ein Heer an Bullshit-Jobbern, ­Content Creators und Callcenter-Mitarbeitern ward geboren. Auch in der Volksrepublik China sind es überqualifizierte Hochschulabsolventen, die Taxis bzw. die weitaus verbreiteteren Fahrzeuge von Didi ­Chuxing, dem chinesischen Uber-Pendant, fahren oder Essen und Pakete ausliefern. Laut The Economist vom 18. April setzt der Flughafen in Wenzhou Architekten und Ingenieure für die Abfertigung oder zur Vogelabwehr ein. Die Sozialwissenschaftler Li Xiaoguang und Lu Yao haben erhoben, dass 25 Prozent der Arbeitskräfte zwischen 23 und 35 Jahren 2021 für ihre Arbeit überqualifiziert waren, ein Anstieg von vier Prozent in sechs Jahren, Tendenz: steigend.

Seit 2000 hat sich die jährliche Zahl der Hochschulabsolventen verzehnfacht. Der Ökonom Tang Min hat sich in den späten 1990er Jahren an den damaligen Premier Zhu Rongji gewendet; er wollte Hochschulen vor der asiatischen Finanzkrise schützen. Sein Vorschlag ist 1998 umgesetzt worden: Durch diese Reform sind die Unis weiter geöffnet worden, heißt es in einem Kommentar des staatlichen Rundfunksenders China Plus zum 20. Jubiläum dieser Maßnahme. Dafür wurden Studiengebühren erhoben und der enge Zirkel universitärer Eliten aufgebrochen. Die Universitäten müssen sich seither selbst finanzieren, die staatliche Förderung wurde verringert oder umgelagert in Programme für Eliteuniversitäten, was auch den Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation 2001 erleichtert hat. Die Universität hat sich damit auch zum breiten Vehikel sozialer Mobilität vom Land in die Stadt und zum Standard für Karrieren, gerade im öffentlichen Dienst, gemausert und das Ansehen der Ausbildungsberufe gemindert.

Oft als schwerstes Examen überhaupt verpönt oder gefürchtet gilt die Aufnahmeprüfung für allgemeine Hochschulen, kurz: Gao Kao. Allein in diesem Jahr nahmen 13.420.000 junge Menschen daran teil. In den 1990er Jahren lag die Aufnahmerate zwischen 20 und 40 Prozent, nach der Reform steigerte sie sich auf bis zu 90 Prozent, 2023 waren es immerhin 84,97 Prozent. Universitäten kämen laut The Economist gar nicht mehr hinterher, genug Wohnheimplätze anzubieten. Vergangenes Jahr wurden 11,58 Millionen Absolventen auf dem freien Markt entlassen. Doch der städtische Pool an Bürojobs ist begrenzt. Auch Unternehmer hätten ihre Zweifel, zeigten wieder mehr Interesse an stärkerer Spezialisierung im Beruf, schreibt Li Xiaoguang 2023 im Onlinemagazin Sixth Tone. Damals hat er konstatiert, dass Universitäten den Gegebenheiten des Arbeitsmarktes bisher nicht genug folgen würden.

Am 20. August wurde in der seit 1959 erscheinenden China Science Daily eine aktuelle Studie dazu veröffentlicht. Das fünfköpfige Autorenteam hat sich mit dem »Verschwinden von Studiengängen« beschäftigt, so der Titel. Genutzt wurden Datensätze des Bildungsministeriums über die Registrierung von Studiengängen im Zeitraum 2018 bis 2022, betroffen waren 714 Hochschulen, zumeist in Zentral- und Ostchina: In der Provinz Shaanxi haben 53 Universitäten Studiengänge abgebaut, Shandong liegt mit 47 auf Platz zwei im Ranking.

In abgelegeneren Regionen wie Tibet, Xinjiang oder auf der Ferieninsel Hainan hat sich wenig verändert. Nicht viel hat sich auch an den Eliteuniversitäten der Ostküste getan: Die Peking-Universität, die drei Kilometer davon entfernte Tsinghua-Universität oder die Jiaotong-Universität Shanghai sind kaum betroffen. Sie liegen in Regionen starken Wachstums, mit Nachfrage an einer möglichst breiten Palette an Studienoptionen. Gerade die ersten beiden sind im weltweiten QS-Universitätsranking erstmals in den Top 20, demnach erste Wahl für den Arbeitsmarkt.

Welche Studiengänge sind überhaupt betroffen? Vorweg, die Geisteswissenschaften sind es eher nicht: 30,98 Prozent Ingenieursstudiengänge; 18,04 Prozent Management; 14,77 Prozent Naturwissenschaften; erst mit 13,81 Prozent folgt die Kunstgeschichte; 9,45 Prozent Literatur; 3,63 Wirtschaftswissenschaft; 3,2 Bildung und Erziehung; 3,17 Jura und 2,11 Landwirtschaft. Zwar haben, so wird auch in der Studie argumentiert, gerade BWL und Ingenieurswissenschaften ein hohes Ansehen und damit auch eine hohe Beschäftigungsquote (bei letzteren liegt sie um die 100 Prozent), jedoch geht es beim Einstampfen um mehr: Die Qualität der Beschäftigung wird als mangelhaft betrachtet, das Gehalt sei zu niedrig, an Aufstiegschancen mangelt es auch, der Wettbewerb für wenige Plätze ist heftig, die Unzufriedenheit mit dem Beruf dadurch hoch. Privatunternehmen würden auch, gerade nach der Coronapandemie, als nicht stabil wahrgenommen, viele interessierten sich an einer Position im Staatsdienst, in der sogenannten eisernen Reisschale, analysierte Sixth Tone im November vergangenen Jahres. Doch allein 2023 entfielen 66 Teilnehmer des Staatsexamens für den Beamtendienst auf eine Stelle.

Damit verschwinden aber die bestehenden Studiengangprofile nicht, sie werden ersetzt durch staatlich geförderte neue und besser spezialisierte Programme in den Bereichen künstliche Intelligenz, Cloud-Computing, Robotik und intelligente Fertigung. Klassische Studiengänge mit rigiden Forschungsmethoden wie Geschichte, Medizin und Philosophie sind kaum von den Streichungen betroffen.

Mit der Einführung neuer Studiengänge folgen die Universitäten einer Tendenz, die erst im vergangenen Jahr mit dem »Reformplan zur Optimierung und Anpassung der Fachbereiche und Studiengänge in der allgemeinen Hochschulbildung« des Bildungsministeriums in einen Auftrag gegossen worden ist. Demnach sollen bis 2025 etwa 20 Prozent aller Studiengänge optimiert werden, ergo den gesellschaftlichen Ansprüchen und damit auch staatlichen Strategien gerecht werden. Mehr Interdisziplinarität und die Anpassung des Studiums an lokale Gegebenheiten wird auch gefordert: also Intelligente Fertigung gerade dort zu lehren, wo sowieso die Fließbänder laufen. Auf der diesjährigen Vollversammlung des Nationalen Volkskongresses im Frühjahr betonte entsprechend auch der Premierminister Li Qiang, dass es darum gehe, jungen Menschen zu Arbeitsplätzen zu verhelfen und zugleich die berufliche Ausbildung neuen Herausforderungen anzupassen.

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