Mehr als zweiundsiebzig Tage
Von Siegfried ProkopIst die Geschichte der DDR ebenso wie die Geschichte der Pariser Kommune Teil der europäischen Emanzipationsgeschichte? Bertolt Brecht hat sich sein Leben lang mit der Pariser Kommune beschäftigt. Das Theaterstück »Die Tage der Commune« wurde erst ein Jahr nach seinem Tod uraufgeführt. Die Hauptfragen, die Brecht beschäftigten, lauteten: Wie schaffen wir mehr als zweiundsiebzig Tage? Wieviel Gewalt wird nötig sein? Was müssen wir aus den Fehlern der Kommunarden lernen? Für Brecht war die Geschichte der Kommune ein Vehikel, um daraus Lehren für die Gegenwart zu ziehen.
Die DDR hat fast 15.000 Tage existiert. Mit ihrer im Vergleich zur Kommune ungleich längeren Existenz bietet die DDR-Geschichte ein enormes Erfahrungspotential, auf das heute nicht verzichtet werden kann. Lehren zu ziehen, heißt, sich bei dem, was sich bewährte und ebenso bei dem, was sich nicht bewährte, nichts vorzumachen. Als »realer Sozialismus« repräsentierte die DDR den Prototyp einer unvollständigen sozialistischen Gesellschaft, die sich im Vergleich etwa mit den anderen Ländern gleichen Gesellschaftstypus in Osteuropa in mancher Hinsicht sehen lassen konnte. Die DDR belegte in fast allen Leistungskriterien in Wirtschaft, Kultur, Sozialem und Wissenschaft des RGW vordere Plätze. Die Phase der unvollendeten revolutionären Umwälzung zeichnete sich in der DDR durch einen vergleichsweise zivilisierten Verlauf aus.
Die lebensweltliche Qualität der DDR lag in einigen Kriterien über der aller bisherigen deutschen Staaten. Die DDR verfügte bereits über ein gesellschaftliches System, das das Individuum von Existenzangst befreite. Die Gesellschaft ermöglichte eine neue soziale Qualität im Miteinander der Menschen. Solidarität wurde als Pflicht gegenüber Bürgern aller Nationen empfunden und geübt, was mit einer neuen Art von Internationalismus verbunden war. Das bürgerliche Bildungsmonopol war ebenso gebrochen wie das Eigentumsmonopol, auf dem es beruht. Die gesundheitliche Betreuung war kostenlos. Der Zynismus »Weil du arm bist, musst du früher sterben« gehörte der Vergangenheit an. Die Klasse der Finanz- und Industriekapitalisten war entmachtet. Die Außenpolitik der DDR wurde in allen Etappen dem proklamierten Hauptziel, Frieden zu stiften, gerecht. Kein Minister der DDR forderte die Bürger auf, »kriegstüchtig« zu werden. Solange es die DDR gab, ging von deutschem Boden kein Krieg aus. Das antifaschistische Erbe, das die DDR hinterließ, muss in der Bundesrepublik Deutschland erst noch voll erschlossen und nutzbar gemacht werden.
Die DDR entstand 1949 unter Bedingungen eines sich rasch verschärfenden Ost-West-Konflikts unmittelbar nach der separaten Konstituierung der Bundesrepublik ebenso wie diese als Provisorium. Zum Kapitalismus hatten sich schon im 19. Jahrhundert zahlreiche Gegenbewegungen gebildet, und es waren Parteien entstanden, die sich in sozialreformerische und radikal-revolutionäre Richtung differenzierten. Die Gründergeneration der DDR folgte Zielvorstellungen, die aus dem Industriekapitalismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts abgeleitet worden waren. Dazu zählten solche Auffassungen wie die von der proletarischen Revolution als radikalem Bruch mit der kapitalistischen Gesellschaft, die der Diktatur des Proletariats als politischer Organisationsform der sozialistischen Gesellschaft, die vom ökonomischen Determinismus, die von der Dominanz des Gesellschaftlichen gegenüber dem Individuellen und dem Prinzip »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen« geprägt war. Als Axiom galt die Rolle der Arbeiterklasse, die nach Marx eine »historische Mission« zu verwirklichen hatte.
Die DDR entstand als Teil des sozialistischen Lagers, das von der Sowjetunion geführt wurde. Angenommen wurde, dass eine »Epoche des Zusammenbruchs des Imperialismus« und des »weltweiten Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus« begonnen habe. Das sowjetische Entwicklungsmodell wurde in der DDR mit einer gewissen Zurückhaltung und Spezifik – mit Rücksicht auf die Deutschlandpolitik – durchgesetzt. Ein Erfolg blieb dieser Politik versagt. Die von enormen Reparationen ausgezehrte DDR schlitterte in die Krise des Juni 1953 hinein, die allerdings auch die unmittelbar zuvor belebte Hoffnung in Moskau auf eine Art Verkauf der DDR an den Westen zunichtemachte. Aus dem Provisorium wurde nolens volens eine Dauerlösung, was durch Entscheidungen Mitte der 50er Jahre seine völkerrechtliche Verankerung fand. Ebenso wie die Bundesrepublik zum Mitglied der NATO wurde, fand die DDR Aufnahme in den Warschauer Vertrag. Damit wurde für mehrere Jahrzehnte über den militärischen Status beider Staaten entschieden.
Die Chance, die der 20. Parteitag der KPdSU schuf, wurde von Vertretern der Opposition unter Intellektuellen und in den regierenden Apparaten in der DDR erkannt. Sie konnten sich nicht durchsetzen, weil sie zersplittert agierten und vom Volk isoliert blieben. Die Tatsache, dass eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Stalin-Ära ausblieb, hatte Folgen.
Ebenso wie in der UdSSR konsolidierte sich die DDR ab Mitte der 1950er Jahre in einer autoritären politischen Struktur bei gleichzeitigen Ansätzen zur Demokratisierung auf der Produktionsebene. Stalinistische Strukturen, wie sie am deutlichsten beim Nomenklatur- und Informationssystem zum Ausdruck kamen, blieben aber bis in das Jahr 1989 bestehen. Ihre »führende Rolle« stützte die SED nach dem Vorbild der KPdSU faktisch auf die bewaffneten Organe und nicht – wie gerne gesagt wurde – auf die Arbeiter und Bauern. Hinsichtlich des Repressionsapparates ist aber unbedingt auch zu berücksichtigen, dass die DDR vom Westen mit besonderer Feindseligkeit bekämpft wurde.
Der 1958 verkündete Kurs auf den »Sieg des Sozialismus« verzichtete auf die Herstellung von sozialistischem Gemeineigentum bzw. gesellschaftlichem Eigentum – die volkseigenen Betriebe verharrten im Status des Staatseigentums. Die herrschende Funktionärsschicht im Partei- und Staatsapparat der DDR suchte ihre Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel und ihre Verwendung zu festigen. Für die große Mehrheit der etwa acht Millionen Arbeiter und Angestellten blieb es bei der Entfremdung, die die Masseninitiative im Rahmen der Wettbewerbskampagnen erheblich hemmte.
Die Abwanderung von Facharbeitern, Ärzten und Wissenschaftlern in den Westen nahm danach für die DDR einen bedrohlichen Umfang an. Weder die UdSSR noch die USA, Großbritannien und Frankreich wollten sich den Konsequenzen stellen, die ein chaotischer Zusammenbruch der DDR im Jahre 1961 nach sich gezogen hätte. Der Flüchtlingsstrom konnte nur durch die Schließung der letzten noch durchlässigen Stelle in der von der Ostsee bis an das Schwarze Meer reichenden Grenze zwischen den Blöcken unterbrochen werden – durch den Mauerbau in Berlin.
Anschließend erstarkte die DDR wirtschaftlich bis Mitte der 60er Jahre. Die DDR sah sich geschichtlich vor die Frage gestellt, durch eine Renaissance der bislang unvollendeten sozialistischen Revolution zu neuem Schwung zu verhelfen oder auf dem Wege der Konvergenz in eine Restauration privatkapitalistisch-staatsmonopolistischen Zuschnittes zurückzufallen. Die Wirtschaftsreform erschloss einerseits neue Potentiale, blieb aber andererseits vor dem zweiten Schritt der Revolution, den der Demokratisierung auf dem Felde der Politik, stehen. Nichtsdestoweniger waren die 60er Jahre die erfolgreichste Etappe der DDR-Geschichte. Das Jahr 1970 wurde das Jahr mit der höchsten Akkumulationsrate. Walter Ulbricht hatte die DDR an die Schwelle zur weltweiten völkerrechtlichen Anerkennung herangerückt.
Eine kritische Würdigung der DDR-Geschichte erfordert einen sachlichen Terminus, der kritische Distanz ebenso ermöglicht wie die Anerkennung der Novationen. Der häufig verwandte Begriff »Sozialismusversuch« wird diesem Erfordernis nicht gerecht. Die DDR war ein Land, das in der deutschen Arbeiterbewegung eine große Vorgeschichte hatte, reichlich vier Jahrzehnte existierte und dessen Geschichte auf unübersehbar lange Zeit nachwirkt. Andere Begriffe wie »realer Sozialismus«, »autoritärer Sozialismus« oder »Prototyp einer unvollständigen sozialistischen Gesellschaft« entsprechen da schon eher diesem Erfordernis. Auf die Frage, ob die DDR sozialistisch war oder nicht, gab Alfred Kosing eine Antwort. Die Gesellschaften sowohl in der Sowjetunion als auch in den anderen sozialistischen Ländern seien »trotz aller Defizite, Mängel und Entstellungen« als sozialistisch zu bezeichnen: »Zwar waren sie noch in einem Entwicklungsstadium, in dem ihr sozialistischer Charakter erst mit gewissen Einschränkungen zur Geltung und Wirkung kommen konnte, aber doch schon in einem solchen Grade, dass ihr prinzipieller Unterschied zur kapitalistischen Gesellschaft deutlich zum Ausdruck kam.«
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