Das »Ich« klingt nicht akzentfrei
Von Martin WillemsEine Zeit lang schien der Literaturpreis Ruhr undurchdringlicher als der Berufsverkehr auf der A 40. Problemlos konnten bestens eingesessene Juroren ein und denselben Autor gleich dreifach auszeichnen, die Satzung negieren und reine Dokumentation über das Erschaffen von Literatur erheben oder prädestinierte Kandidaten wie Wolfgang Welt übersehen. 2019 waren es der Kuriositäten genug, man sorgte für deutlich mehr Transparenz, neue Jurykonstellationen und erhöhte anhand einer Shortlist die Sichtbarkeit der Schreibenden vor Ort. So das Ideal. Ein Wohnsitz im Ruhrgebiet ist keine feste Voraussetzung, um prämiert zu werden, thematische Andockungen dann allerdings schon. Wie umfassend jene ausfallen sollten, bleibt offen.
In Necati Öziris »Vatermal«, dem diesjährigen Siegertitel, sind dergestaltige Passagen rar. Dazu später. Der bei Recklinghausen aufgewachsene, mittlerweile in Berlin ansässige Schriftsteller und Dramaturg experimentierte an verschiedenen Spielstätten mit einer Poetik der Korrektur, etwa indem er Heinrich von Kleists Novelle »Die Verlobung in St. Domingo« antirassistisch umarbeitete. Eine hehre Leistung. Auch das Romandebüt erfuhr gewisse Metamorphosen, hervorgegangen aus dem Stück »Get Deutsch or die tryin’«, räumte eine Prosavariante während der Klagenfurter Tage der deutschsprachigen Literatur 2021 beim Publikumsvoting ab. Als zwei Jahre darauf das vollständige Werk erschien, lag der Deutsche Buchpreis im Bereich des Greifbaren.
Gerechtfertigterweise. Öziri verschafft »marginalisierten Stimmen« Projektionsflächen, beeinflusst womöglich manche Biographie – wie ermutigend allein die Vorstellung wäre. Das Setting lässt unweigerlich an Kafka denken: Mit schwerwiegender Diagnose im Krankenhaus, schreibt Arda seinem Vater, ein nebulöser Charakter zwischen Freiheitskämpfer und Nationalist, der die Familie einst überstürzt verließ, gleichwohl nie richtig verschwand: »Ich werde von mir erzählen, Metin, aber ich werde permanent lügen. Nichts stimmt, und doch ist jedes Wort wahr.« Perspektivwechsel erweitern die Szenerie, der neben Aylin, der Schwester, und der Mutter Ümran einige Freunde (Danny, Savaş, Bojan) angehören, allesamt verbunden durch teils klaffende Erlebniswunden, der Ahnung des Nirgendwoankommens. »Ausländeramt«, »Aufenthaltsstatus«, »Ausweispflicht«, »Verschollenheitserklärung« – Begriffe, die Ardas Sprachfeld früh umreißen, jedoch keineswegs eingrenzen, er möchte »was mit Literatur machen«, denn im Vergleich zu Behördenunterhaltungen muss das »Ich« hier nicht akzentfrei klingen.
Gerade aufgrund der Vielzahl persönlicher Dramen ist »Vatermal« ein empowerndes Buch, sogar semantisch, so stehen türkische Formulierungen grundsätzlich unübersetzt. Ein Kniff, der unter anderem lehrt, dass »Aslan kizim benim« »meine Löwentochter« bedeutet. Häufiger erreicht Öziris Ton die Ebenen eines Dinçer Güçyeter, dessen »Unser Deutschlandmärchen« (2022) bislang die eindrucksvollste Schilderung migrantischer Lebenswelten darstellt. Nämlich wenn die Sonne mit einer »Orangenscheibe«, der Erzählvorgang mit Wasser, das, einmal fließend, eigene Richtungen nimmt, assoziiert wird, die Namensgebung des Romans Erläuterung findet: »Heute Morgen stand ich vor dem Badezimmerspiegel, legte meinen Finger auf diesen Fleck und fragte mich, wie mein Gesicht ohne ihn aussehen würde. Als ich den Finger wegnahm, war der Fleck nicht mehr da. Er klebte an meiner Fingerkuppe. Ich holte tief Luft, schloss die Augen und pustete ihn weg.«
Bands und Marken – Öziri hat seinen Stuckrad-Barre gelesen – verraten, dass Ardas Jugend, ein größerer Abschnitt der Handlung, bis in die 2000er Jahre abläuft. Wobei der Slang zuweilen arg gegenwärtig wirkt – riefen Teenager sich damals tatsächlich bereits »Ehrenloser«, »Hunde-« beziehungsweise »Hurensohn«? Kleinkram. Ebenso braucht Necati Öziri nicht kümmern, inwiefern der völlig zurecht gewürdigte Text nun mit dem Ruhrgebiet korrespondiert. Aber vielleicht ja die Verantwortlichen. Bemühen wir uns in Close-Reading-Sphären, ist da ein müffelnder »Schalke-Fan«, ein »Pappaufsteller mit dem Wappen des VfL Bochum« und eine »Glaskonstruktion«, die in der Gegend hängt »wie eine Regenwolke über dem Ruhrgebiet«. Das war’s. Die schmalen Bezüge notierte die Jury offenbar genügsam, in der Bekanntgabe hieß es: »Ohne dass der Ort oder das Ruhrgebiet jemals genannt werde«, was (siehe oben) nicht zutrifft, »sei man als Bewohner*in sofort dort«. Beinahe romantisch: das Ruhrgebiet letztlich ein Gefühl.
Necati Öziri: Vatermal. Claassen-Verlag, Berlin 2023, 304 Seiten, 25 Euro
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