Nicht der Drachenkopf
Von Uwe BehrensDie Problematik ist keine neue: »Die Russen machen den westlichen Reedern mit der Transsibirischen Eisenbahn Dampf«, erklärte der Chef des Speditionskonzerns Kühne und Nagel im August 1977 dem Spiegel. Die 1971 gegründete transsibirische Containerline habe sich bisher mit einem Frachtanteil von sieben Prozent begnügen müssen, er könne aber auf 25 Prozent ansteigen. Der rasante Aufschwung der japanischen Elektroindustrie ließ damals den Transportbedarf von Japan nach Europa, insbesondere Deutschland, schlagartig ansteigen. Die Häfen und Schiffskapazitäten konnten die Nachfrage nicht abdecken.
Die mit der Einführung des Containerverkehrs möglichen kombinierten Bahn-See-Transporte boten eine Alternative. Spediteure, heute würde man von Logistikunternehmen sprechen, entwickelten gemeinsam mit den sowjetischen Bahnen neue Transportketten. In den fernöstlichen Häfen, aber auch an den Enden der Schienensysteme wurden die Container umgeladen. In den sowjetischen Häfen auf Eisenbahnwaggons der Breit- und an den sowjetischen Grenzen auf europäische Normalspur. So wurden 1980 ungefähr 60.000 Standardcontainer mit der Bahn nach Europa »verschifft«.
Die Transportzeiten wurden in den darauffolgenden Jahren weiter verkürzt, als China mit den zentralasiatischen Ländern, ehemaligen sowjetischen Republiken, eine Transport- und Industriekooperation entwickelte. Neue Bahngrenzübergänge und Strecken zwischen China und Russland über Kasachstan wurden eröffnet. Als sich jedoch in Russland die Liberalisierung durchsetzte und die Bahn nicht mehr pünktlich fuhr, konnten diese technologisch und kommerziell anspruchsvollen Transportlösungen nicht mehr weiterbetrieben werden.
Die neuralgischen Flaschenhälse der Transportkette von Fernost über See waren und sind der Suezkanal, das Horn von Afrika und auch die Straße von Malakka zwischen Singapur und Malaysia. In Krisen, sei es durch Seeunfälle, Naturereignisse oder Kriege, müssen zur Aufrechterhaltung der Handelsbeziehungen von den Schiffahrtslinien lange Umwege in Kauf genommen werden. Die Lieferketten verteuern sich, was der Wirtschaft nicht bekommt.
Spätestens mit US-Präsident Barack Obamas 2011 angekündigter »Wende nach Asien«, der Verstärkung der Präsenz der US-Navy in Pazifik und Südchinesischer See sowie der US-Vision einer »New Silk Road« von Afghanistan über die zentralasiatischen Staaten, proklamiert 2010 durch US-Außenministerin Hillary Clinton, verstanden die chinesischen Händler und Logistiker, dass eine Alternative geschaffen werden musste. Auch deswegen verkündete Chinas Präsident Xi Jinping 2013 die seitdem mit der Bezeichnung »Neue Seidenstraße« verbundene »Belt-and-Road-Initiative« (BRI) als Wiederbelebung des historischen Handelswegs.
In Europa und Deutschland erkannten Logistikunternehmen und Transporteure die Chance. Bereits 1984 hatte die Stadt Duisburg, die zwei Jahre zuvor eine Partnerschaft mit Wuhan geschlossen hatte, mit Werner Gehrig einen Experten nach China geschickt. Er war einer der ersten »Fachdirektoren aus dem Ausland« nach der Öffnung der chinesischen Wirtschaft und gab uneigennützig seine Erfahrung im Bereich Management und Technologie weiter – die Kooperation nahm ihren Anfang.
Der Hafen der Ruhrstadt war um das Jahr 2000 eine brache Einrichtung, orientierungslos und unterbeschäftigt nach der Krise der Stahlindustrie. Einst wurden Kohle und Produkte der Schwerindustrie verschifft. Neue Geschäftsfelder mussten erschlossen werden. Es bot sich an, den chinesischen Partnern und den europäischen Logistikunternehmen die freien Kapazitäten zu offerieren. Die Gründung der BRI weckte große Hoffnungen und Erwartungen. Sie begann 2011 als Test mit einer Zugverbindung von Chongqing nach Duisburg. In den ersten Jahren gab es regelmäßig ein bis zwei Züge die Woche. Die Zahl stieg aber kontinuierlich und erreichte in der Coronazeit einen Höhepunkt mit bis zu 60 Zügen pro Woche. Mit einem neuen Terminal sollen es 100 werden. Seit über zehn Jahren ist Duisburg der europäische Logistikknotenpunkt für Bahntransporte von und nach China. Im Hafen kommen täglich Züge mit Waren aus über 20 chinesischen Metropolen an, die dann direkt in mehr als 20 europäische Großstädte weitergeleitet werden.
Mit dem Ausbau der Zugverbindung stieg auch die Zahl der Investoren, die sich in Duisburg ansiedelten. Gegenwärtig sind mehr als 120 chinesische Unternehmen registriert. Über 1.000 Staatsbürger der Volksrepublik wohnen in der Stadt, ein Zentrum der Community ist der Stadtteil Neudorf, in dem sich auch ein chinesischer Garten und die Universität befinden, an der viele chinesische Studierende eingeschrieben sind.
2014 kam Präsident Xi nach Duisburg und wertete die Stadt so gleichsam offiziell zu einem Zentrum seines »Seidenstraßen«-Projekts auf. Der Bedeutungsgewinn erwies sich als ökonomisch vorteilhaft. Die Stadtregierung versuchte erst nach Xis Besuch, die Aufmerksamkeit, die Duisburg in China erlangt hatte, auszunutzen. Ziel war es, die Geschäftsbeziehungen im Logistiksektor zu stärken, um auch in anderen Bereichen ein auf China orientiertes Geschäft zu etablieren.
In der Volksrepublik glauben inzwischen viele Menschen, dass Duisburg die Hauptstadt Deutschlands ist. Auf manchen Landkarten ist die 500.000-Einwohner-Stadt größer eingezeichnet als London, Paris oder Berlin. Aber auch hierzulande glauben viele, Duisburg sei der Drachenkopf der »Neuen Seidenstraße«. Doch nicht alle Erwartungen der Stadt haben sich erfüllt: Sie hatte mehr als die tatsächlich geschaffenen 1.000 Arbeitsplätze erhofft. Auch »Spillover«-Effekte vom Hafen in die Stadt fallen gering aus.
Duisburg ist deshalb eine wichtige Endstation für den Schienenverkehr der BRI, weil die Hafengesellschaft der Stadt der leistungsfähigste Logistikdienstleister ist, nicht weil irgend jemand in China die Stadt »auserwählt« hat. Es geht um eine kommerzielle Beziehung. Die Hafengesellschaft ist Eigentum der Stadt und des Landes Nordrhein-Westfalen. Der chinesische Staat ist hier nicht involviert. Das Ganze ist entstanden als Geschäftsbeziehung der Hafengesellschaft mit anderen international erfolgreichen Logistikdienstleistern. Das China-Geschäft erbringt nur einen nachgeordneten Teil des Gesamtumsatzes. 2022 wurden im Duisburger Hafen rund vier Millionen Container, fast ebenso viele wie in Bremen und Bremerhaven, umgeschlagen. Die Transporte über die Schiene mit Asien machten davon nur drei bis fünf Prozent aus. Der Duisburger Hafen ist mit oder ohne China der größte Binnenhafen Europas.
Nach wie vor stellt die Zugverbindung für die Unternehmen eine interessante Alternative zur See- und Luftfracht dar. Sie wird sich auch weiterhin positiv entwickeln, wenn die weltpolitischen Rahmenbedingungen dies erfordern und zulassen. Infolge der Auseinandersetzungen um Israel, der Angriffe der »Huthis« im Roten Meer verlegen die Schiffahrtsunternehmen ihre Routen um die afrikanische Südspitze. Die Transportzeiten verlängern sich, die Frachtraten steigen an – teils haben sie sich vervierfacht. Mit den verstärkten Sanktionen gegen Russland sank das Volumen der Transporte über die Bahnen 2022/23 drastisch, seit dem ersten Halbjahr 2024 steigt es aber erneut, pro Woche gibt es wieder 30 bis 40 Züge. Der Transit dauert elf bis 14 Tage, das ist viermal schneller als der Seetransport.
Deutschland ist nie der »Seidenstraßen«-Initiative beigetreten. Statt dessen ist es gemeinsam mit der EU-Kommission einer der aktivsten Kritiker der BRI. Italien, Griechenland und osteuropäische Länder wurden für ihre Kooperation kritisiert. Der Hafen Duisburg ist nicht der Drachenkopf der chinesischen »Neuen Seidenstraße«, allenfalls das Endterminal eines internationalen Logistikprojektes.
Uwe Behrens ist Ökonom und hatte als Direktor eines deutsch-chinesischen Logistik-Joint-Ventures in der ersten Hälfte der 1990er Jahre Anteil an der Organisation der ersten durchgehenden Containerzüge von China nach Deutschland.
Uwe Behrens: Der Umbau der Welt. Wohin führt die Neue Seidenstraße? Edition Ost, Berlin 2022, 265 Seiten, 18 Euro
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