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Aus: Welt im Umbruch, Beilage der jW vom 23.10.2024
Welt im Umbruch

Das Trojanische Pferd

Das BRICS-Mitglied Indien wird von Faschisten regiert. Für den Westen ist dies ein Einfallstor gegen China
Von Jörg Tiedjen
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Adressaten Trumps: Die Abgehängten in den deindustrialisierten Städten des sogenannten Rust Belt (Chicago)

Normalerweise sind es die BRICS-Mitglieder Russland und China, die in der westlichen Berichterstattung als Schurkenstaaten im Mittelpunkt stehen. Doch vor dem Gipfeltreffen der Gruppe in Kasan in dieser Woche befand sich unversehens ein Land negativ in den Schlagzeilen, das ansonsten gern umworben wird: Indien. New York Times und ­Washington Post verbreiteten, dass Indiens Innenminister Amit Shah persönlich in die Ermordung eines Sikh-Aktivisten in Kanada verwickelt gewesen sei. Das Verbrechen hatte sich bereits im vergangenen Jahr zugetragen, und schon damals hatte die kanadische Regierung Neu-Delhi vorgeworfen, aus Indien geflohenen Angehörigen der Sikh-Minderheit nachzustellen und das Attentat eingefädelt zu haben. Doch mittlerweile seien Audiomitschnitte ausgewertet worden, die nicht allein Shahs Verantwortung, sondern auch direkte Kenntnis und Mittäterschaft belegten.

Der Sinn eines solchen Mordes blieb dem indischen Magazin The Wire ein Rätsel. Die Sikh-Gemeinde in Kanada sei zu unbedeutend, als dass sie eine Gefahr darstellen könnte. Aber haben Kanada oder die USA, die an den Ermittlungen beteiligt waren, die Geschichte einfach frei erfunden? Ganz gleich, ob sie wahr ist, nicht in Frage stehen die Methoden der Hindu-Nationalisten der Indischen Volkspartei (BJP) um Premierminister Narendra Modi und dessen rechte Hand Amit Shah – und auch nicht die Folgen: »Heute sind Punjab, Jammu und Kaschmir und Ladakh an der nordwestlichen Grenze des Landes, Kerala und Tamil Nadu an der Küste sowie die ganze Region von Bihar bis Manipur von Unruhen betroffen«, zitierte The Wire ironischerweise eine Rede von RSS-Chef Mohan Bhagwat von Mitte Oktober, um den zweifelhaften Erfolg der BJP-Regierung zu beschreiben. Die BJP ist der parlamentarische Flügel des RSS, Abkürzung für Nationaler Freiwilligenverein, der kommendes Jahr sein 100. Jubiläum begeht und einst nach dem Vorbild europäischer Faschisten geformt worden war.

Die Karriere des RSS-Mitglieds Modi war überhaupt erst durch die Massaker im Bundesstaat Gujarat 2002, denen Hunderte Muslime und Oppositionelle zum Opfer fielen, in Schwung gekommen. Nach Recherchen der Zeitschrift Tehelka orchestrierte Modi als damaliger Chefminister von Gujarat die Pogrome im Hintergrund. Indem er die Hindumehrheit gegen Marginalisierte aufhetzte, festigte er seine Macht. Vergangenen Sommer schnitt die BJP bei den Parlamentswahlen zwar schlechter ab als allgemein erwartet. Doch mittlerweile beginnen auch Gegner wie Arvind Kejriwal – Vorsitzender der aus der Antikorruptionsbewegung hervorgegangenen Aam-Adhmi-Partei und sogar als Chefminister des Hauptstadtbezirks im Vorfeld der Parlamentsabstimmung hinter Gittern gebracht – ihre Rhetorik zu übernehmen. Die Kongresspartei hatte schon lange vor der BJP politische Gewalt gegen Minderheiten zum Machterhalt geschürt – gegen die Sikh.

»Der Hindu-Nationalismus ist nichts anderes als ein Trojanisches Pferd, um die Vorherrschaft der Kaste einzuschmuggeln und aufrechtzuerhalten«, sagte die Schriftstellerin Arundhati Roy jüngst in einem Interview mit dem Deshabhimani Weekly. Das hätten viele Angehörige insbesondere der Dalit und der Stammesbevölkerungen mittlerweile erkannt, die nicht allein von der BJP immer wieder instrumentalisiert werden. Doch kontrollierten die Rechten die Medien, die Indiens »wahre Situation« verschleierten: »Die Wirtschaft liegt in Trümmern. Die Gesundheitsversorgung und das Bildungswesen sind in der Krise. Jeder noch so kleine Schritt in Richtung sozialer Gerechtigkeit wurde rückgängig gemacht. (…) Unsere Verfassung ist praktisch inoffiziell außer Kraft gesetzt. (…) Alles wird zu Staub verwandelt von einem Regime, das Intellektuelle hasst, die Wissenschaft hasst, alle Formen von Intelligenz hasst«, so Roy, der wegen Äußerungen über den Kaschmirkonflikt, die sie 2010 machte, bis heute ein Gerichtsverfahren droht.

Erst kurz vor dem anlaufenden Skandal um politisch motivierten Mord in Kanada hatte die Washington Post des am 9. Oktober verstorbenen Ratan Tata als eines »Philanthropen« gedacht. Unter der BJP konnten Indiens Industrielle gewaltige Reichtümer anhäufen und zu den Superreichen der Welt aufschließen. Ihre Unternehmen besitzen in Indien Monopolstellungen. Die Atommacht Indien ist zwar das bevölkerungsreichste Land der Welt und auf dem Papier die größte Demokratie und fünftgrößte Wirtschaftsmacht. Aber ein tiefer Gegensatz bestimmt die Gesellschaft. Der vergleichsweise kleinen Mittel- und Oberschicht steht mehr als eine Milliarde Menschen gegenüber, die wirtschaftlich und sozial abgehängt sind. Das gepriesene indische Wirtschaftswachstum beruht nur auf der Ausbeutung der Mehrheit durch die Minderheit. Indien bietet in sich selbst ein Abbild der globalen Probleme.

Ein fortschrittlicher Staatenbund ist nicht unbedingt ein Bündnis fortschrittlicher Staaten. Indien müsste schon allein wegen der Klimakatastrophe, durch die es unbewohnbar zu werden droht, eine internationale Führungsrolle einnehmen. Doch nicht nur in dieser Hinsicht ist von Neu-Delhi wenig zu erwarten. Es bremst auch die BRICS. Ein unabhängiges Zahlungsmittel hat für die BJP-Regierung keine Priorität. Auch am »Neue Seidenstraße«-Projekt beteiligt sich Neu-Delhi nicht, jedoch am sogenannten Quad-Dialog mit den USA, Japan und Australien gegen China. Die Konkurrenz mit dem Nachbarn, von dem sich auch die Hindu-Nationalisten »entkoppeln« wollen, bietet dem Westen Angriffspunkte, Zwiespalt in das BRICS-Bündnis zu treiben. Im SPD-nahen IPG-Journal war vor dem BRICS-Gipfel des vergangenen Jahres zu lesen: »Für die Vereinigten Staaten ist Indien eine zentrale Kraft, die nicht nur eine lange, umstrittene Landgrenze mit China teilt, sondern das Potential sowie – im gewissen Umfang – auch die Potenz hat, um China regional herauszufordern.« Das dürfte sich allerdings als Fehleinschätzung erweisen.

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