Gefährlicher Machtverlust
Von Wolfram ElsnerDie bleierne Zeit der westlichen Hegemonie scheint beendet. Die Gruppe der »BRICS plus« hat schon jetzt mehr Mitglieder und repräsentiert weitaus mehr Menschen als die G7, die immer noch glauben, die Welt kommandieren zu können. Das Gipfeltreffen der BRICS im russischen Kasan wird die nächsten Stufen der Entthronung der ehemaligen Weltbeherrscher forcieren: Mittelfristig wird es ein eigenes Währungssystem geben mit einer elektronischen Währung (dann vielleicht Sur, »Süden«, genannt), und der US-Dollar wird als Transaktionseinheit für den Handel weiter an Bedeutung verlieren.
Als Alternativen zu Währungsfonds (IWF) und Weltbank gibt es die Asiatische Infrastrukturinvestmentbank (AIIB), die BRICS-Bank oder die China Development Bank. Sie geben günstigere Kredite ohne politische Bedingungen und bieten dem globalen Süden so eine Wahlmöglichkeit und erstmals Souveränität. Hinzu kommen die gewaltigen Infrastrukturprojekte, die China zusammen mit mehr als 150 Partnerländern als »Neue Seidenstraßen« (Belt-and-Road-Initiative, BRI) plant und durchführt.
Reaktionärer Umbau
Die Hegemonie des Westblocks kollabiert an vielen Stellen. Das führt allerdings zu immer gefährlicheren Reaktionen. In den Staaten des Blocks selbst wird das angeblich einzig wahre Demokratiemodell zu autoritär-bürokratischen Überwachungs-, Zensur- und Polizeistaaten einer neuartigen Postdemokratie umgebaut, und viele diagnostizieren einen aufkommenden Protofaschismus. Das ruft weiteren Widerstand hervor, hat aber auch eine Dimension von Verzweiflung: Auch im Innern also erodiert die Hegemonie.
Unter dem Hegemonialsystem hatte es seit den 1980er Jahren keinen relevanten Aufstieg, dafür aber einige Abstiege, vor allem von Schwellenländern, gegeben, die nach erstem Aufstieg in die »Middle Income Trap« geführt worden waren: Hegemonhörige Eliten vor allem in Lateinamerika hatten nach ersten Wohlstandssteigerungen den Reichtum nach oben umverteilt, an die Wall Street verbracht, Realinvestitionen und Produktivitätssteigerungen vergessen und beim zwangsläufigen Rückfall des Landes das Entwicklungskonzept wieder auf Abstieg in der Wertschöpfungskette und wieder verschärfte Rohstoffausbeutung zurückgedreht. Ausnahmen waren im wesentlichen nur China und die »kleinen Tigerstaaten« Südostasiens.
Die Reaktion des Hegemonialsystems auf Chinas Aufstieg und den eigenen Abstieg und Hegemonieverlust (wirtschaftlich, technologisch, sozial, politisch und militärisch) war und ist nicht, was in seinen eigenen Lehrbüchern vom »freien Wettbewerb« steht: die eigene Strategie überdenken und zukunftsträchtig anpassen. Offenbar geht man lieber mit Maschinengewehren rüber zum Headquarter der Konkurrenz, die Marktanteile gewonnen hat, und will es zusammenschießen.
Zuletzt wurde ein Westblock zusammengeschweißt mit verschärfter Unterordnung unter die USA und die NATO. 49 von 200 Ländern der Welt sind in der NATO organisiert. Sie stehen nur noch für etwa 20 Prozent der Weltbevölkerung und ungefähr 35 Prozent des Weltsozialprodukts, mit deutlich sinkender Tendenz.
Die letzten nichtmilitärischen »Pfunde« wurden nun eingesetzt und sind verpufft. Auch der Chipkrieg geht soeben verloren. Wirtschaft, Finanzen und Technologie sind im hybriden Krieg der Dominanz einer Medienoligarchie und eines Politkartells unterworfen und als Waffen politisiert worden, was der Wirtschaftsnachrichtendienst Bloomberg eine »protektionistische Katastrophe« nennt. Der globale Kooperationsindex sinkt. Zu den Ergebnissen gehören Wachstumsverlust, eine weiterhin unkontrollierte Umwelt- und Klimakrise und ein Sicherheitsverlust. Internationale Auslandsinvestitionen oder auch Wissenschaftsaustausch nehmen ab. Im Ergebnis soll die Welt in zwei separate Blöcke von Gewinnern und Verlierern dieses hybriden Krieges aufgespalten werden, in der unfassbar unrealistischen Hoffnung, hier noch der Stärkere zu sein.
»Eiserner Vorhang 2.0«
Das Hegemonialsystem besitzt allerdings noch eine relative militärische Dominanz. Es verfügt über 80 bis 90 Prozent aller Militärstützpunkte der Welt und steht für 70 bis 80 Prozent aller Militärausgaben. Seine Reaktion ist daher »naturgemäß« eine militärische. Dies selbst aber ist wiederum ein Ausdruck von Hegemonieverlust: Es »zeigt an, dass sie die kulturell-zivilisatorische Hegemonie bereits verloren haben«, wie Sabine Kebir in der UZ formulierte.
Auch entlang der »Neuen Seidenstraßen« werden Kriege geführt: Sie sollen durch einen »Eisernen Vorhang 2.0« verhindert werden. Beispiele sind die Kämpfe und Farbrevolten in der Kaukasusregion, in Tschetschenien, Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Ziel ist die Unterbrechung des mittleren Seidenstraßen-Korridors über das Kaspische und das Schwarze Meer.
Sodann geht es um die Ukraine, Moldau und Transnistrien, die Verhinderung der ursprünglich geplanten Nord-Süd-Spange Moskau–Budapest, die durch die Ukraine gelaufen wäre. Der Unterbrechung des Südkorridors dienten und dienen schließlich die Farbenrevolutionen in Kasachstan und Georgien und der Krieg um Aserbaidschan und Armenien. Auch der Krieg im Nahen Osten wäre hier zu nennen, der diese traditionelle südliche Trasse der Seidenstraßen durchschneidet, die schon in der Antike in den syrischen Mittelmeerhäfen endete und dann übers Meer nach Europa weiterführte.
Der »Eiserne Vorhang 2.0« in Osteuropa soll die Nordroute über Polen in die EU unterbrechen.
Die Zerstörung der eurasischen Kooperation für viele Generationen ist Washington und seinen EU-Helfershelfern bereits gelungen. Sie folgt der sogenannten Heartland-Konzeption: Wer Eurasien beherrscht, beherrscht die Welt, wie der Geograph Halford John Mackinder 1904 schrieb. Da Großbritannien und die USA als maritime Mächte Eurasien nicht beherrschen können, sind jegliche eurasische Zusammenarbeit und jeder Handelsaustausch zu verhindern. Die Bevölkerungen der EU schauen in die Röhre.
Namentlich der kapitalistische Hauptkonkurrent Deutschland und der systemische »Erzfeind« Russland sind voneinander zu trennen, da sie geeint für die angelsächsischen Mächte zu stark wären. Wie der erste NATO-Generalsekretär Lord Hastings Lionel Ismay 1949 sagte: »NATO-Ziel ist es, die USA drin, Russland raus und Deutschland unten zu halten.« 2024: Mission completed!
Next stop is Taiwan und damit China. Regionale Konflikte um Inseln und Atolle im Südchinesischen Meer sollen genutzt und eskaliert werden. Neben der Taiwanstraße stehen die Malakka- und im weiteren die Straße von Hormus, die Jemen-Straße und der Suezkanal im Fadenkreuz. Durch die Malakka-Straße allein gehen 80 Prozent des chinesischen Meereshandels, aber nur zwei Prozent des US-amerikanischen. Die USA reklamieren für die ganzjährigen US- und NATO-Manöver vor den chinesischen Küsten die »Freiheit der Seefahrt«, die allerdings keine Freiheit für Marinemanöver vor fremden Küsten beinhaltet. Die USA haben zudem die Seerechtskonvention, auf die sie sich verbal beziehen, nie unterzeichnet.
Gefahr des Atomkriegs
Regionale Konfliktlösungen gegen Einmischungen von außen sind in Südostasien auf dem Weg. Es gibt Verhandlungen zwischen China und Indien über ihren Grenzkonflikt, China und Vietnam sind eine neue strategische Partnerschaft eingegangen, China und Indonesien kooperieren, China und Thailand führen gemeinsame Militärübungen durch, Myanmar, Laos, Thailand, Singapur, Kambodscha, Malaysia oder Brunei sind Partner der BRI und verbinden sich mit Hochgeschwindigkeitstrassen.
Aber zehn Kilometer vor der festlandchinesischen Küste haben die USA jüngst auf einem Außenposten Taiwans Elitetruppen und Raketen stationiert, eine maximale Provokation. Auf den Philippinen werden aktuell vier neue US-Militärbasen mit Mittelstreckenraketen errichtet. 250 US-Militärbasen (und etliche Biowaffenlabore) existieren bereits um China herum.
Die ehemals einzige Weltmacht USA hat es sich im Hegemonialsystem also gut eingerichtet: Sie hat Eurasien gespalten und ihren Vasallen in der EU alle Risiken und Kosten aufgebürdet sowie die Rolle als Schauplatz eines dritten Weltkrieges zugewiesen, die diese auch noch stolz annehmen.
Werden eine neue produktive Multipolarität, eine neue Souveränität der Länder des globalen Südens, ein neues friedlicheres Verhältnis der Länder der Erde durch immer mehr regionale Kriege verhindert, alle mit dem Potential zur atomaren Vernichtung, gar durch einen großen Krieg gegen China und Russland? Man muss auf die Reste menschlicher Fähigkeiten bei den Eliten des Imperialsystems setzen, auf ihre Angst vor dem eigenen Untergang sowie auf eine Restrationalität bei Kapitalbossen und Topmilitärs, die lieber leben, einige Macht behalten und einige Profite machen wollen, als auf die Gefahr des Untergangs hin Weltbeherrscher zu bleiben.
Wolfram Elsner ist Professor für Volkswirtschaft an der Universität Bremen (i. R.). 2022 erschien von ihm im Kölner Papyrossa-Verlag der Band »China und der Westen«.
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
Ähnliche:
- 04.04.2024
Im Kampf gegen Moskau
- 21.02.2023
Bis alles in Flammen aufgeht
- 06.10.2022
»Permanente Auseinandersetzung«
Mehr aus: Ausland
-
Libanons Kliniken im Visier
vom 23.10.2024 -
Blinde Justiz
vom 23.10.2024 -
Melonis Dekret
vom 23.10.2024 -
Ein Leben im Widerstand
vom 23.10.2024 -
Musks Millionen
vom 23.10.2024 -
»Seit drei Jahren besteht kein Kontakt zur Außenwelt«
vom 23.10.2024