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Aus: Recht auf Wohnen, Beilage der jW vom 06.11.2024
Mietenboykott

Nicht legal, aber legitim

In Spanien bereiten Streikkomitees eine massenhafte Verweigerung von zu hohen Mietzahlungen vor
Von Carmela Negrete
Mietstreikbewegung Spanien.jpg
Am 19. Oktober gingen in Valencia Tausende für günstige Mieten und gegen die wachsende Zahl von Ferienwohnungen auf die Straße

Der Zugang zu einer bezahlbaren Wohnung bliebt auch in Spanien eine der zentralen Fragen für die arbeitende Bevölkerung. Anders als hierzulande ist man dort bei der Wahl der Protestformen kreativer und mitunter wesentlich radikaler. Neben Demonstrationen und Besetzungen von im Besitz der Banken befindlichen, aber leerstehenden Wohnungen planen nun die Sindicatos de Inquilinas, die Mieterinnengewerkschaften, angesichts der dramatischen sozialen Lage und der Untätigkeit des Staates Massenaktionen. Ein großer Mietstreik gegen hohe und weiter steigende Mietkosten sowie unmenschliche Wohnbedingungen wird vorbereitet.

In Spanien wurden infolge der Wirtschaftskrise ab 2008 immer wieder Menschen zwangsgeräumt, weil sie ihre Hypotheken nicht mehr zahlen konnten. Die von der Plataforma de Afectadas por la Hipoteca (in etwa: Verein der von Hypotheken Bedrohten) organisierten Blockaden fanden damals auch im Ausland Beachtung und sogar einige Nachahmer. Seitdem hat sich die Wohnstruktur in Spanien recht stark verändert, und insbesondere in den großen Städten leben immer mehr Menschen zur Miete und besitzen keine eigene Wohnung. Vor der Krise konnten noch rund 80 Prozent der Spanier eine Wohnung oder ein Haus ihr eigen nennen. Dagegen wohnt heute mancherorts ein Drittel oder gar die Hälfte der Einwohner zur Miete.

Gepaart mit steigenden Mieten und fehlenden Rechten, führt das für viele zu unhaltbaren Zuständen. Junge Leute verlassen erst mit durchschnittlich 30 Jahren das elterliche Zuhause, weil sie keine bezahlbare Wohnung finden. Täglich werden rund 80 Familien zwangsgeräumt, die meisten, weil sie die Miete nicht bezahlen können. Die Spanier, die nicht über Wohneigentum verfügen, zahlten 2023 bereits 43 Prozent des Durchschnittseinkommens von 2.180 Euro allein für die Miete. Zwischen 2015 und 2022 wurden die Mieten im Schnitt rund 30 Prozent angehoben, vor allem in den großen Städten. Doch nicht fehlender Wohnraum ist das Problem: Allein in der Hauptstadt Madrid stehen bis zu 200.000 Wohnungen leer, schätzt das Mietersyndikat. In ganzen Land sollen es über drei Millionen sein.

In großen Städten wie Madrid, Barcelona und Valencia, aber auch in kleineren Ortschaften haben sich deshalb in den vergangenen Wochen Dutzende Komitees gegründet, um einen landesweiten Mieterstreik zu koordinieren. Jede dieser Gruppen agiert zwar unabhängig, aber alle arbeiten zusammen, um ihre gemeinsamen Forderungen gegenüber der Zentralregierung durchzusetzen. Die Idee dahinter: Zigtausende Bewohner von Häusern, die im Besitz großer Immobilienkonzerne oder Finanzfonds sind, sollen gleichzeitig die Zahlung der Miete verweigern, »so dass die Unternehmen ein Problem haben und nicht die Mieter«, wie Fernando de los Santos von der Mieterinnengewerkschaft in Madrid bei der Youtube-Sendung »Al lío« (Zur Sache) der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CGT das Vorhaben erklärte.

Auch Enric Aragones, der Sprecher des katalanischen Ablegers Sindicat de Llogateres de Catalunya, kam dort zu Wort und wies auf einen wichtigen organisatorischen Aspekt des Streiks hin: »Ein Faktor, der hier eine wichtige Rolle spielt, ist die Solidaritäts- und Widerstandskasse, die Teil aller Arbeitskämpfe ist und natürlich auch Teil eines Mieterstreiks sein muss.« Zur Zeit tauschen sich die Betroffene aus, um »über unsere Ängste zu sprechen, und damit wollen wir eine kollektive Katharsis erzeugen.« Denn ein Mietboykott ist im bürgerlich-juristischen Sinne natürlich keineswegs legal, und diese Form des zivilen Ungehorsams kann sehr teuer werden. Doch die Mietergewerkschaften hoffen darauf, dass sich so viele beteiligen, dass eine Strafe für alle unmöglich wird.

Der Mietstreik ist in Spanien keine gänzlich unbekannte Form des Protests, auch wenn darüber selten berichtet wird und er zuletzt nur in kleinem Rahmen zur Anwendung kam. Selbstorganisationen der Mieter nutzten dieses Instrument während der Coronakrise erfolgreich. Viele Menschen hatten durch Lockdownmaßnahmen und das Ausbleiben des Tourismus von heute auf morgen ihre Arbeit verloren. In Madrid beispielsweise organisierten Aktivisten daher ihre Nachbarn, um eine kollektive Senkung der Mieten während der Krise zu erzwingen. Ein Vorbild dabei ist der große Mietenboykott in Barcelona 1931. In der katalanischen Metropole, in der nach der Krise von 1929 Arbeitslosigkeit und Armut grassierten, verweigerten hunderttausend Arbeiter vier Monate lang die Mietzahlung. Die Aktion war erfolgreich, sie konnten eine Senkung der Mieten erreichen.

Nach einer Großdemonstration für das Recht auf Wohnen entstand Mitte Oktober in Valencia ein spontanes Protestcamp unter dem Motto »Valencia no está en venta«, also »Valencia steht nicht zum Verkauf«, das allerdings wegen der Unwetter abgebrochen werden mussten. Am 25. Oktober hatten die Organisatoren erklärt, dass die bisherigen Vorschläge »der Zentralregierung und auch der valencianischen Institutionen« in bezug auf das Wohnen »weder nützlich noch eine richtige Antwort auf die Probleme sind, mit denen die Bevölkerung zu kämpfen hat«.

Denn trotz einer Koalitionsregierung aus sozialdemokratischer Partei und dem Linksbündnis Sumar ist die Realität weit vom in Artikel 47 der spanischen Verfassung verankerten Recht, »in einer würdigen und angemessenen Wohnung zu leben« entfernt. Am Tag nach der Demonstration in Valencia verkündete Ministerpräsident Pedro Sánchez ein weiteres Hilfspaket für die Jugend: Mit zusätzlichen 200 Millionen Euro soll der 2022 eingeführte Mietzuschuss von monatlich 250 Euro für Menschen von 18 bis 35 finanziert werden. Doch Mietervereinigungen weisen schon darauf hin, dass zum einen nicht nur Jugendliche betroffen sind und zudem die Maßnahmen die steigenden Mieten nicht eindämmen, sondern sie eventuell sogar noch befeuern. Sie sehen darin eine verdeckte Hilfe für die Finanzhaie.

Carmela Negrete ist freie Journalistin, lebt in ­Berlin und schreibt regel­mäßig für die Tages­zeitung junge Welt

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