Gegründet 1947 Dienstag, 21. Januar 2025, Nr. 17
Die junge Welt wird von 3005 GenossInnen herausgegeben
Aus: Migration, Beilage der jW vom 11.12.2024
Migration

Rosso: Transitort und Blockadepunkt

»Intendierter Mord«: Auswirkungen der Auslagerung der EU-Grenzen auf die Mobilität im senegalesisch-mauretanischen Grenzgebiet
Von Leonie Jantzer
2.JPG
Auch Rossanas Partner Widman wurde beim Versuch, den Fluss zu überqueren, mitgerissen und ertrank (Eagle Pass, 24.2.2024)

Um nach Rosso in Senegal zu gelangen, passiert man zunächst einen unscheinbaren Grenzposten, an dem ein Polizist die Dokumente kontrolliert und nach dem Reiseziel fragt. Im senegalesischen Grenzort herrscht reges Treiben. Hier begegnen sich Bewohner von Rosso und Migranten aus Ländern wie Senegal, Gambia, Guinea, Mali oder Sierra Leone – teils auch aus Pakistan und Bangladesch –, die Rosso als Transitort nutzen. Für andere ist es ein Rückkehrort, wenn sie von den mauretanischen Behörden abgeschoben wurden.

Entlang der Hauptstraße gelangt man zum Grenzbereich, wo Holzboote und Fähren Menschen, Vieh und Lastwagen über den schlammig-braunen Fluss nach Rosso-Mauretanien bringen. Autos mit spanischem Kennzeichen, gesteuert von Senegalesen auf Heimatbesuch, und Frauen mit Eimern voller getrocknetem Fisch prägen das Bild. Sie überqueren den Fluss täglich mit einem monatlichen Visum – für sie kaum mehr als eine Flussfahrt.

Die EU hat ihre Migrationsabwehr inzwischen weit »vorgelagert« und externalisiert, was sich daran zeigt, dass Senegal, an der Westspitze Afrikas gelegen, zu einem wichtigen Transitland geworden ist. Von hier aus wagen Menschen mit Holzbooten, sogenannten Pirogen, die riskante Überfahrt zu einem entfernten Teil der EU im Atlantik: den Kanarischen Inseln. Die bis zu 2.000 Kilometer lange Route birgt enorme Gefahren, verstärkt durch die Patrouillen der spanischen Guardia Civil und der EU-Grenzagentur Frontex vor Senegals Küsten. Gleichzeitig nimmt auch der Landweg über Rosso an Bedeutung zu. Der Senegal-Fluss markiert die 742 Kilometer lange Grenze zwischen Senegal und Mauretanien, mit Rosso als einem von nur zwei offiziellen Übergängen.

Fälschlicherweise befürchtet die EU, dass viele Migranten nach Europa wollen und ignoriert dabei die zirkuläre Migration zwischen West- und Nordafrika. Senegalesen arbeiten oft temporär in Mauretanien und kehren nach einigen Monaten zurück – ein gängiges Muster über Jahre hinweg, das sich nicht nur bei den senegalesischen Marktverkäuferinnen abzeichnet.

Der verstärkte Grenzschutz zwischen Senegal und Mauretanien soll Migration in die EU verhindern, unabhängig von den Absichten der Migranten. Selbst ein senegalesischer Polizist kritisiert: »Die Grenzen, die sie ziehen, spiegeln nicht das wahre Afrika wider.« Während Westafrikaner früher Grenzen problemlos passieren konnten, erschweren biometrische Pässe und strenge Kontrollen seit 2011 die Mobilität. Frontex agiert seit langem inoffiziell in Westafrika, unterstützt die Grenzpolizei und übermittelt Migrationsdaten an die EU.

Die Migrationsrouten verlagern sich zunehmend nach Mauretanien, bedingt durch die Präsenz von Frontex vor der senegalesischen Küste und die verstärkte Küstenüberwachung in Tunesien und Libyen. Pushbacks durch Sicherheitskräfte in Nordafrika treiben diese Entwicklung weiter voran. Diese Maßnahmen werden durch EU-Finanzierung ermöglicht und wissentlich fortgesetzt, wie eine Recherche von Mai 2024 zeigt. Trotz der restriktiven Maßnahmen bleibt Migration bestehen – nur auf anderen Wegen.

Darüber hinaus hat die EU das Narrativ der »irregulären Migration« importiert, obwohl Migration im Senegal genauso wie in anderen westafrikanischen Staaten Teil des Alltags ist. Saliou Diouf, Sprecher einer Partnerorganisation von Medico International im Senegal namens Boza Fii, betont, dass dieses Narrativ der traditionellen Mobilität im Senegal widerspricht. Nicht nur staatliche Akteure, sondern zunehmend zivile Organisationen übernehmen jene Erzählung, der zufolge sie gegen die »irreguläre Migration« kämpfen würden.

Zurück zum Transitpunkt an der mauretanisch-senegalesischen Grenze: In Rosso- Mauretanien arbeiten viele zunächst, um Geld für die Weiterreise zu verdienen. »Der Leidensweg beginnt in Rosso und verschärft sich danach«, sagt ein malischer Community-Vertreter, der Migranten in ihren diversen Belangen unterstützt. Rosso ist eine Schlüsselstation auf dem Weg nach Nordafrika, wo Westafrikaner oft in der Landwirtschaft und asiatische Migranten im Baugewerbe arbeiten. Viele berichten von Ausbeutung oder gar »moderner Sklaverei«, da mündliche Arbeitsverträge häufig zur Verweigerung von Löhnen führten, insbesondere für Personen ohne Papiere.

Im mauretanischen Rosso ist die Atmosphäre anders als im gleichnamigen senegalesischen Grenzort: ruhig, leergefegt – Migrantinnen und Migranten verstecken sich. Einige, wie ein 22jähriger Senegalese, sparen seit Jahren für die Weiterreise nach Spanien. Andere, wie ein Mann aus Sierra Leone, leben unter prekären Bedingungen, teilen sich Zimmer oder schlafen an öffentlichen Orten wie dem lokalen Busbahnhof. Arbeiten ohne Papiere ist schwierig, dauerhafte Jobs sind rar. Viele kämpfen ums Überleben und können weder (ausreichend) Geld für ihre Familien noch für die Weiterfahrt sparen. Einen permanenten Job zu finden, scheint schier unmöglich.

Zudem erleben sie am Busbahnhof in Rosso regelmäßig Razzien. Im Zuge dieser Kontrollen werden Personen ohne Papiere abgeschoben. Rosso ist damit nicht nur ein Transit-, sondern auch ein Blockadeort. Regelmäßig treffen Busse mit Migranten ein, die aus der mauretanischen Hauptstadt Nouakchott oder der zweitgrößten Stadt Nouadhibou zurückgeschoben wurden, oft ohne Wertsachen, die ihnen von Grenzpolizisten abgenommen wurden.

Zwischen November 2023 und Februar 2024 kamen täglich Abgeschobene in Rosso-Senegal an, berichtet ein lokaler Aktivist, der die Menschen mit Hygieneartikeln versorgt und moralisch zu unterstützen versucht. Da Senegal nur eigene Staatsangehörige aufnimmt, werden andere Migranten zurück nach Mauretanien geschickt – es entsteht der Eindruck, dass Menschen zwischen den Flussufern hin- und hergeschoben werden.

Die senegalesische Menschenrechtsorganisation Boza Fii betont, dass Migration ein hochpolitisiertes Thema ist. Afrikanische Regierungen erhalten finanzielle Unterstützung von der EU und profilieren sich im Kampf gegen sogenannte irreguläre Migration. Das zeigt sich nicht zuletzt an den diversen Deals zur Kontrolle und Eindämmung von Migration.

Vor dem Hintergrund, dass von der mauretanischen Küste wieder mehr Boote ablegen und der Staat aus EU-Perspektive als Transitland eingeordnet wird, schloss die EU im Frühjahr 2024 mit Mauretanien einen Deal über 210 Millionen Euro, um sogenannten Menschenschmuggel zu bekämpfen und Abfahrten nach Europa zu verhindern. Nach einem Besuch der EU-Kommissionspräsidentin und des spanischen Premierministers führte Mauretanien im September 2024 strengere Abschieberegeln, technisch besser ausgestattete Grenzkontrollen und Maßnahmen zur Erhöhung der »nationalen Sicherheit« ein. Obwohl Haftstrafen für »Schleuser« nicht explizit vorgesehen waren, wurden viele – oft Fischer, die Migranten über den Senegal-Fluss oder entlang der Küsten halfen – inhaftiert. Diese Transportdienste wurden von einem Tag auf den anderen kriminalisiert, was Migration insgesamt weiter stigmatisiert.

Denn die Grenzüberquerung ohne Dokumente ist zwar möglich, aber riskant. Schmiergelder für Grenzbeamte oder die Hilfe von Fischern, die Migranten an unauffälligen Stellen über den Fluss bringen, sind Alternativen. Doch auch die Fischer stehen zunehmend unter Druck, da sie als Schmuggler diffamiert und kriminalisiert werden, obwohl sie lediglich eine Dienstleistung anbieten.

Da es für viele Menschen aus (West-)Afrika nahezu unmöglich ist, ein Visum für Europa zu erhalten, setzen sie trotz der lebensbedrohlichen Risiken und in dem Willen, das Beste für ihre Familien zu tun, auf die sogenannte klandestine Migration. Viele nehmen dabei das Risiko zu sterben bewusst in Kauf. »Wir haben alle Schwestern und Brüder, die im Atlantik gestorben sind«, sagt Saliou Diouf von Boza Fii und spricht von »gewaltvollem und intendiertem Mord«, wenn Menschen auf der Überfahrt sterben. Doch das hindert ihn und seine Mitstreiter nicht, ihre Arbeit in Solidarität mit Migranten, Angehörigen von Vermissten und Zurückgekehrten fortzusetzen. Sie stehen für die Bewegungsfreiheit aller Menschen ein.

Leonie Jantzer ist ­Referentin für Flucht und Migration bei ­Medico international

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Ähnliche:

  • Am Fischereihafen in Joal in Senegal (12.11.2020)
    18.02.2022

    Senegal wird EU-Außenposten

    EU will erstmals Grenzpolizei Frontex in Afrika einsetzen. Truppen und Drohnen versprochen
  • Weiterreise auf das Festland gefordert: Rund 700 Geflüchtete aus...
    13.04.2021

    Das neue Lesbos

    Kanarische Inseln: Neuer Hotspot für Geflüchtete. EU schafft Bedingungen wie in Griechenland und Italien

Mehr aus: Ausland