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Aus: Weihnachten, Beilage der jW vom 24.12.2024
Weihnachten

Von der Hühnerfarm ins Konzerthaus

Auch Weihnachten soll vom Bruckner-Jahr profitieren: Die Geschichte von Georg Tintner, dem brucknerianischsten aller Dirigenten
Von Stefan Ripplinger
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Wer nicht zum Äußersten bereit ist, wird ihm nicht folgen: Anton Bruckner (4.9.1824 - 11.10.1896)

Anton Bruckner (1824–1896) ist der Iannis Xenakis des 19. Jahrhunderts. Er eicht sein Maß am Maßlosen. Die ihm stets zu kleine Welt der Prahler und Poseure lässt er mit jedem Schritt hinter sich, auch wenn wir nicht sicher sein können, wohin er schreitet. Wenig überraschen kann es deshalb, dass sich hinter ihm die Maßlosen jeglicher Couleur scharen, mit Paul Scheerbart gesprochen: die »lachenden Fanatiker«. Wer nicht zum äußersten bereit ist, wird diesem Komponisten nicht folgen wollen und ihn langweilig, aufgebauscht, hohl finden. Und wer ihm folgt, macht sich unbeliebt. Das ist die Geschichte des Dirigenten und Komponisten Georg Tintner (1917–1999).

Tintner war der erste jüdische Junge bei den Wiener Sängerknaben. Seine Familie war längst lutheranisch assimiliert, der Vater diente als Leutnant bei den »k. u. k. Luftfahrtruppen«. Aber wer Jude ist, bestimmten schon damals die anderen (nicht nur die Antisemiten), und so kam es, dass der Junge, der ein absolutes Gehör besaß, am Jahresende keine Auszeichnung erhielt. Für den Juden gebe es selbstverständlich nichts, erklärte coram publico der Rektor der Sängerknaben, der frühere Hofkaplan Josef Schnitt.

In diese finstere Zeit, in der Tintner sich »wie ein gehetztes Wild« vorkam, fällt ein Ereignis, das ihn prägen soll: Franz Schalk, der Schüler und berüchtigte Verschlimmbesserer Anton Bruckners, dirigiert die Sängerknaben. Tintner erinnert sich: »Franz Schalk war, was wir einen ›Intriganten‹ nannten, ganz und gar ein Mensch von dieser Welt: zynisch, sehr schlau, grausam, skrupellos – das volle Programm … Es war die Generalprobe von Bruckners f-Moll-Messe mit den Wiener Philharmonikern. Als das Benedictus kam, fiel uns auf, dass Schalks Taktschlag, der sonst sehr gut und sehr klar war, immer weniger klar und immer weniger gut ausfiel. Und plötzlich hielt er inne, ging zum Fenster und begann zu weinen. Er weinte nur. Und das war ihm wohl äußerst peinlich. Diese Tränen waren die wichtigsten in meinem Leben. Sie könnten mich zum Musiker gemacht haben. Ich spürte, was Musik vermag, sogar bei diesem furchtbaren Kerl.«

Jude muss er sein, Sozialist wird er aus freien Stücken. Als die zuvor wohlhabende Familie auch deshalb in eine finanzielle Krise stürzt, weil sie wertlos gewordene Kriegsanleihen gezeichnet hat, erklärt er, das geschehe ihr gerade recht. Aber es kommt noch schlimmer. Nach dem Anschluss Österreichs 1938 an Nazideutschland gehört Tintners Vater zu denjenigen Juden, die das Trottoir mit der Zahnbürste putzen müssen. Die Familie will fliehen, aber wird als inzwischen mittellose von allen Staaten abgewiesen. Tintner selbst gelingt es, in letzter Minute davonzukommen. Im Januar 1940 trifft er in Auckland, Neuseeland ein.

Auckland, schon damals eine Stadt mit mehr als 200.000 Einwohnern, verfügt weder über eine Oper noch über ein Konservatorium oder ein eigenes Orchester. Auch um die inzwischen in Großbritannien internierten Eltern nachzuholen, sieht sich Tintner genötigt, zusammen mit seiner ersten Frau, die ihm nach Neuseeland gefolgt ist, eine Hühnerfarm aufzubauen. Wer eine Farm hat, hat einen offiziellen Grund, Arbeitskräfte aus dem Ausland einreisen zu lassen. Für den Vater kommt diese Hilfskonstruktion zu spät, er stirbt 1944. Drei Jahre später trifft die Mutter ein, vor der Zeit gealtert.

Nebenher müht sich Tintner um eine Musikerkarriere. Das Komponieren will ihm nicht glücken. Doch trotz der fremdenfeindlichen Stimmung im Land wird er 1946 Leiter der Chorgesellschaft von Auckland. Es kommt vor, dass er von der Farm ins Konzerthaus eilt, von oben bis unten mit Federn und Hühnerscheiße bedeckt.

Er darf bald auch unbedeutende Orchester in Neuseeland und Australien dirigieren. Doch schon zeigen sich die Probleme, die ihn bis ans Ende seines Lebens verfolgen werden: Zwar fallen die Kritiken freundlich aus, doch die Chöre und Orchester fühlen sich wie das Publikum von seinem Anspruch überfordert und den Veranstaltern ist nicht nur seine Weigerung, leichte Muse zu spielen, ein Graus, sondern auch die närrische Liebe des Veganers Tintner für sämtliche Lebewesen bis hin zu den Kakerlaken.

Je strenger ein Künstler sich selbst und seiner Arbeit gegenüber ist, desto strenger zeigt sich der Kulturbetrieb. Und Tintner ist ein sehr strenger Mann. Der australische Komponist Alfred Hill bemerkt 1951 in einer Ansprache: »Meine Frau sagt, die dümmsten Wesen auf zwei Beinen seien die Hühner. Ich denke, es gibt Leute, die noch dümmer sind. Es sind die Leute dieser Stadt, die einen Mann eine Hühnerfarm statt ein Orchester führen lassen.«

Auch als Tintner die Farm und seine erste Frau hinter sich gelassen hat, gestaltet sich sein Leben nicht bequemer. Immer wieder werden ihm weniger begabte, aber kompromissbereite Kollegen vorgezogen. Und noch mit 47 muss er, der 17 Opern auswendig dirigieren kann, als Souffleur aushelfen. Als er nach einem Unfall ein Bein in Gips trägt und nicht allein aus dem Souffleurskasten krabbeln kann, vergisst man ihn eines Abends darin. Eine tiefere Demütigung lässt sich kaum vorstellen, aber komisch ist sie doch. Ungefähr zur selben Zeit jagt Franz Schalks Schüler Herbert von Karajan von Erfolg zu Erfolg.

Die exzellente Biographie, die Tintners dritte Frau über ihn geschrieben hat, zeichnet nicht nur die Leidensgeschichte des großen Künstlers, sondern an vielen Beispielen auch die Mechanismen des Musikbetriebs nach, die dieses Leid verursacht haben. Und doch dringt wunderbarerweise etwas durch den Wall der Ignoranz. In diesem Fall ist es Bruckner. Es verblüfft, dass Tintner, der sich ganz am Ende seines Lebens als eine der größten Autoritäten für diesen Komponisten erweisen soll, während etlicher Jahrzehnte, erst in Neuseeland und Australien, später in Kanada, ganz selten Bruckner dirigiert hat. Das hat auch damit zu tun, dass dessen Musik noch bis in die 1970er weithin verachtet wurde.

Im Januar 1953 leitet Tintner die f-Moll-Messe, die einst Schalk zusammenbrechen ließ. »Ich dirigierte das Kyrie und das Benedictus, als hinge mein Leben davon ab. Und in gewisser Hinsicht tat es das auch.« Bruckners Siebte lässt er 1966, seine Neunte 1976 zum ersten Mal spielen. 1982, mit 65, dirigiert er die erste nordamerikanische Aufführung der Urfassung von Bruckners Achter. Und das war es fast. So lässt sich ohne Übertreibung sagen, dass er sich Bruckner erst nach 1993 ganz erschließt, als er bereits an Krebs erkrankt ist. Im Wettlauf mit der Krankheit spielt er sämtliche Sinfonien ein, ihnen hätten die sakralen Werke folgen sollen. Doch als ihm der Krebs die Weiterarbeit unmöglich macht, stürzt sich Tintner vom Balkon seiner Wohnung im elften Stock. Er hat es nicht mehr erlebt, dass sein Bruckner-Zyklus auf der ganzen Welt gepriesen wird und weit über eine halbe Million CDs verkauft.

Es gibt einen Bruckner für Schöngeister (von Eugen Jochum), einen für Schulmeister (von Günter Wand), einen für Katholiken (von Stanisław Skrowaczewski), einen für Protestanten (von Herbert Blomstedt), einen für Buddhisten (von Sergiu Celibidache), einen für Mystiker (von Teodor Currentzis) und einen für Moderne (von Simone Young oder Kent Nagano). Doch Tintners Bruckner ist weder jüdisch noch sozialistisch, er ist für die Säkularen, ein nüchterner, asketischer oder, wie die New York Times formuliert, »A Thinking Man’s Bruckner«. Es fällt gar nicht so leicht, mit ihm vertraut zu werden, denn dass Tintners Interpretationen derart herb ausfallen, liegt keineswegs nur daran, dass er fast überall die nicht geglättete Urfassung wählt.

Nehmen wir die Achte in seiner Einspielung. Die Ecksätze, die Tintner selbst »erschreckend« und »gigantisch« nennt, bewegen sich langsam und mächtig wie Riesen, aber es sind bizarre Riesen mit unendlich feinen Fingern; kein Detail, keine Härte wird ausgelassen. Und das setzt sich im Adagio fort, das für den Dirigenten, neben dem der Neunten von Beethoven, der »großartigste langsame Satz ist, der je geschrieben worden ist«. Es berührt in seiner Version tief, obwohl er nirgendwo der Verführung zur Sentimentalität oder Spiritualität auch nur um ein Jota nachgibt. Tintners Bruckner-Einspielungen sagen mit jedem Ton: Dein Leben ist hart, ja unerträglich, aber es gibt keinen Grund, dich vor ihm kleinzumachen.

Doch, zugegeben, solche Behauptungen sind subjektiv, ja hilflos. Florian Neuner weist das in seinem köstlichen »Brucknermaterial« auf. Neuner, selbst enthusiastischer Bruckner-Hörer, kein Fanatiker, aber doch ein Lachender, fällt auf, dass Sprache gerade an Bruckner zerschellen muss. »Es dürfte keine Musik geben, über die in so schrillen Tönen, schrägen Metaphern und grotesken Bildern gehandelt und dabei so dick aufgetragen wird.« In das, was er in langen Montagen aus der Bruckner-Literatur zusammenstellt – »wie außerhalb seiner zeit / wie ein geheiligter fels / wie phönix aus der asche / wie ein riese / wie ein kind / wie ein springbrunnen / wie ein verklärter genius / wie die starken eichen seiner heimat …« – ließe sich auch der vorstehende Artikel mit seinen Riesen und seiner Maßlosigkeit problemlos inkorporieren.

All das sind, wie Neuner richtig schreibt, »Bruckner-Clichés«. Aber es könnte durchaus sein, dass Sprache ohnehin aus nichts als Klischees besteht. Das fällt uns im Alltag nicht auf, aber doch dann, wenn wir daran scheitern, ein großes Erlebnis, sagen wir: Tintners Bruckner, zu umschreiben. Dass es für Anton Bruckner keine Worte gibt, ist selbst ein brucknerianisches Moment: Er schweigt uns beredt an.

Tanya Buchdahl ­Tintner: Out of Time. The Vexed Life of Georg Tintner. Wilfried Laurier Univer­sity Press, Waterloo 2013, 420 Seiten, 65 Euro

Florian Neuner: Brucknermaterial. Mit einem Beitrag von Christoph Herndler. Klever-Verlag, Wien 2024, 130 Seiten, 20 Euro

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