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Aus: Weihnachten, Beilage der jW vom 24.12.2024
Weihnachten

Und schon wieder ist Weihnachten

Ein Fest für die Tapferen: Ken Wardrops Dokumentation »So this is Christmas«
Von Ronald Kohl
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»So this is Christmas«: Gibt es Weihnachtsbäumchen auch in Teetassengröße?

Der Filmtitel »So this is Christmas« lässt sich nicht so einfach ins Deutsche übertragen, jedenfalls nicht wörtlich, obwohl die Bedeutung ziemlich klar sein dürfte. Sieht man sich die zahlreichen Übertragungen von John Lennons und Yoko Onos Song »Happy Xmas (War Is Over)« an, wird der erste Vers »So this is Christmas« dort zum Beispiel mit »Das also ist Weihnachten« übersetzt, was in erster Linie meinen dürfte: Na ja, so ist es eben. In einer anderen Version heißt es: »Und schon wieder ist Weihnachten«. Oder auch: »Da wär’s also schon wieder Weihnachten« und so weiter. Doch niemand bisher hat »So this is Christmas« als ausdrücklich frohe Botschaft interpretiert.

Auch als Titel für Ken Wardrops neuen Film scheint »So this is Christmas« keinesfalls rein freudvoll gemeint zu sein; erst recht nicht, wenn man die Dokumentation schon gesehen hat. Es ist ein Film voller herzzerreißender Szenen. Doch hat unser filmschaffender Santa Claus nicht nur Schluchzer und Tränen in seinen großen Sack gepackt. Es gibt auch andere Überraschungen: Liebe, Zuversicht und einzigartigen irischen Humor.

»Weihnachtsstimmung ist etwas, das du fühlen musst«, sagt Anette und schnippt die Asche von ihrer Zigarette. »Aber meistens spüre ich da nichts. Tut mir leid.« Anette wohnt allein in einem Haus, das einsam und verlassen in der Landschaft steht, »irgendwo im Nirgendwo«, wie der Regisseur es nennt. »Einsamkeit ist eine Sache«, sagt sie. »Aber unsichtbar und vergessen zu sein, ist etwas anderes.« Alle Leser dürfen jetzt einmal die Augen schließen und sich Anettes Weihnachtbäumchen vorstellen. Wie groß war es? Wenn Sie die Höhe einer Teetasse vermuten, haben Sie genau richtig geraten.

In einem einstündigen Interview, das Regisseur Wardrop der kanadischen Journalistin Carolyn Hinds gab, hat er überaus offenherzig erklärt, weshalb er einen Film über fünf Menschen gedreht hat, die in der Vorweihnachtszeit vor allem eines sein müssen: sehr tapfer.

Bei Jason, einem selbständigen Handwerker, rührt der Schmerz aus dem Verlust seiner Frau, die wenige Monate zuvor nach schwerer Krankheit verstarb. Er musste ihr nicht nur das Versprechen geben, sich um ihre beiden Kinder zu kümmern, er erhielt außerdem den Auftrag von ihr, Weihnachten so mit den halbwüchsigen Jungs zu feiern, dass Mommy im Himmel ihre Freude daran hat. Und obwohl Jason seine Kinder über alles liebt und das auch zeigt, verbringt er den 24. auf der Arbeit: Kein Geld, kein Baum. Und erst recht kein Truthahn und keine Geschenke.

Im Interview erzählt Ken Wardrop von seiner Nichte, die genau wie Loretta, eine weitere Protagonistin, alleinerziehend ist und von staatlicher Unterstützung lebt. Als seine Nichte sich an Wardrops Schulter ausweint, weil sie ihren Kindern kein anständiges Fest bieten kann, hat er sie damit getröstet, dass sein Baum sicher größer ist als ihrer, dass er als schwuler Single ohne Kinder, aber Weihnachten allein mit seinem Hund feiern müsse, sie hingegen bräuchte nur Zeit mit ihren Kindern zu verbringen, und schon wären alle glücklich.

Dabei geht es dem Regisseur nicht so sehr um den Unterschied oder gar den Kontrast zwischen denen, die Weihnachten geliebte Menschen um sich haben, und denen, die ganz allein sind. Seit seine Großmutter, die ein sehr enges Verhältnis zu ihrer Tochter, also zu Wardrops Mutter hatte, vor vielen Jahren am Heiligen Abend verstarb, gab es in der Familie keine einzige fröhliche Weihnacht mehr. Deshalb interessieren den Filmemacher auch so sehr die Abweichungen jeglicher Art vom »idealen Fest«, das in unser aller Vorstellung ähnlich aussieht: Schnee, Gebimmel, sinnvolle Geschenke und kein Zank unterm Baum. Und gutes Essen: Marys ultimativer Alptraum.

Mary sieht aus wie die Lieblingsgehilfin von Santa Claus. Langes goldenes Haar, ein hübsches Gesicht und ein sanfter, etwas trauriger Blick. Sie hat gelernt, mit Weihnachten umzugehen. Ihren Eltern erzählt sie, sie würde bei den Eltern ihres Freundes feiern und denen wiederum sagt sie, sie wäre bei ihren Eltern. In Wirklichkeit feiert sie nur mit ihrem Baum, der ihrem Hang zur Perfektion entsprechend sehr festlich aussieht in dem großen Fenster. Zu essen gibt es wie immer nichts. Mary ist froh, allein zu sein, denn eine Essstörung wäre nun mal kein gutes Thema für eine Weihnachtstafel.

Nicht nur bei Mary fragt sich der Zuschauer: Wie schafft es der Regisseur, dass sich seine Protagonisten trotz ihrer jeweils wirklich nicht beneidenswerten Situation so ungehemmt öffnen? Die einfache Antwort lautet: Er zeigt kein Mitleid, nicht mit sich und auch nicht mit ihnen. Tränen gehören zum Leben.

Darüber hinaus war es mir vor allem ein Rätsel, wie Wardrop diese Menschen überhaupt vor die Kamera bekommen hat. Woher kannte er sie? Wie hat er sie gefunden?

Wardrop bezeichnet sich zwar, und das sicher zu Recht, als emotionalen Dokumentarfilmer, dennoch arbeitet er nach ausgetüftelten Plänen. Nach seinen Protagonisten hat er methodisch gesucht. Er ist wochenlang durch die tiefste irische Provinz gereist, hat den Menschen von seinem Vorhaben erzählt und gefragt, ob sie nicht jemanden kennen würden, der in den Film passen könnte. Auch sein Marketingkonzept ist sehr effizient. In der Manier eines Fernsehjournalisten setzt er jeweils den aussagekräftigsten Satz seiner Protagonisten in den Mittelpunkt ihrer Story und lässt die restliche Komposition darum kreisen. Die stärksten Sätze schaffen es dann in den Trailer. Man muss jedoch anerkennen, dass er so einen zauberhaften filmischen Weihnachtsbaum aufgestellt hat, für alle, die in Familie feiern, und erst recht für die vielen, die niemanden haben.

Übrigens hat John Lennons und Yoko Onos Weihnachtslied nach seinem Erscheinen im Dezember 1972 Platz vier der ­Single Charts im Vereinten Königreich belegt. Nachdem Lennon am 8. Dezember 1980 erschossen worden war, erreichte es noch vor Heilig Abend Platz zwei. Die Menschen waren wohl in der passenden Stimmung: »Eine fröhliche Weihnacht und das neue Jahr so ganz ohne Angst das wär’ wunderbar!«

»So this is Christmas«, Regie: Ken Wardrop, Irland 2023, 90 Min.

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