Das notwendige Außen
Von Daniel Bratanovic![6-7 Kopie.jpg](/img/450/204054.jpg)
»Die kapitalistische Produktion ist von Anbeginn in ihren Bewegungsformen und -gesetzen auf die gesamte Erde als Schatzkammer der Produktivkräfte berechnet. In seinem Drange nach Aneignung der Produktivkräfte zu Zwecken der Ausbeutung durchstöbert das Kapital die ganze Welt, verschafft sich Produktionsmittel aus allen Winkeln der Erde, errafft oder erwirbt sie von allen Kulturstufen und Gesellschaftsformen.« Rosa Luxemburg
Expansion und irgendwann ein Ende. So wie die kapitalistische Produktion unzweifelhaft und von Beginn an auf restlos die gesamte Erde berechnet ist, so ist Rosa Luxemburgs Theorem von eben dieser Produktionsweise genau deshalb konsequent auf deren Untergang berechnet. Ihre Prophetie jedoch, die ein exakt errechnetes Gesetz zu sein beansprucht, sollte sich bis heute nicht bewahrheiten. Der Rekurs auf die Schrift, worin Luxemburg diese Schlussfolgerung umfangreich untermauert – ihr 1913 veröffentlichtes Hauptwerk »Die Akkumulation des Kapitals« –, ist vermutlich nicht zuletzt deshalb eher selten. Es gibt ihn aber, und hie und da lässt sich daraus Erhellendes entnehmen. Dazu später kursorische Notizen.
Die Annahme vom zwangsläufigen endogenen Zusammenbruch, der, tritt er ein, eher Katastrophe als Anbruch besserer Tage verheißt, geht – grob skizziert, denn die Sache ist vertrackt – so: Ausgangspunkt ist die Behandlung des »Problems der Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals«. Marx hatte im zweiten Band des »Kapitals« Reproduktionsschemata vorgestellt, die das Verhältnis verschiedener Sektoren – vor allem zwischen Produktionsmittel- und Konsumgüterindustrie – innerhalb des kapitalistischen Akkumulationsprozesses illustrieren sollten. Luxemburg fand nun, diese Schemata seien unvollständig, beziehungsweise beruhten auf einer Abstraktion, die vom umgebenden nichtkapitalistischen Milieu absehe, das indes entscheidend sei. Worauf sie hinaus will, ist dies: Akkumulation hängt von der effektiven Nachfrage ab, die den kapitalistisch produzierten Mehrwert erst realisiert. Die Nachfrage der Arbeiter und Kapitalisten reicht jedoch bloß dazu aus, die jeweils verbrauchten Konsumtions- und Produktionsmittel zu ersetzen. Innerhalb einer geschlossenen Ökonomie wäre der gegebene Zustand dann aber nicht Akkumulation, sondern Stagnation. Die Realisierung des Mehrwerts, »die Lebensfrage der kapitalistischen Akkumulation«, verlangt daher die zusätzliche Nachfrage einer nichtkapitalistischen Umwelt.
Luxemburg unterscheidet folglich zwischen einem »inneren« und einem »äußeren« Markt (nicht zu verwechseln mit der Gegenüberstellung von nationalem Binnenmarkt und Weltmarkt): »Innerer Markt vom Standpunkt der kapitalistischen Produktion ist kapitalistischer Markt, ist diese Produktion selbst als Abnehmerin ihrer eigenen Produkte und Bezugsquelle ihrer eigenen Produktionselemente. Äußerer Markt für das Kapital ist die nichtkapitalistische soziale Umgebung, die seine Produkte absorbiert und ihm Produktionselemente und Arbeitskräfte liefert.«
Ökonomische Schranke
Das klingt etwas steril, ist aber, soweit es zumindest den äußeren Markt betrifft, historisch ein äußerst roher und brutaler Vorgang. Das Kapital führt einen beständigen Kampf gegen die (europäische) Bauernwirtschaft und gegen die »Naturalwirtschaft« der »verschiedensten primitiven Produktions- und Gesellschaftsformen in außereuropäischen Ländern«, um »Arbeitskräfte ›frei‹ zu machen und zur Arbeit für das Kapital zu zwingen«. Die rücksichtslose Expansion, um deren Gelingen kapitalistisches Unternehmertum bürgerliche Staaten zu entsprechenden Maßnahmen drängt, erreicht zu Lebzeiten Luxemburgs einen Höhepunkt (so lautet der Untertitel ihres Hauptwerks denn auch: »Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus«): Der Schauplatz solcher Eroberung »ist die Weltbühne. Hier herrschen als Methoden Kolonialpolitik, internationales Anleihesystem, Politik der Interessensphären, Kriege. Hier treten ganz unverhüllt und offen Gewalt, Betrug, Bedrückung, Plünderung zutage, und es kostet Mühe, unter diesem Wust der politischen Gewaltakte und Kraftproben die strengen Gesetze des ökonomischen Prozesses aufzufinden«.
Luxemburg wusste, es gibt sie, und sie streben nach ihrer festen Überzeugung einem logischen Schlusspunkt zu. Kapitalistische Akkumulation bedarf »zu ihrer Bewegung nichtkapitalistischer sozialer Formationen als ihrer Umgebung«, kann nur so lange existieren, »als sie dieses Milieu vorfindet«, und schreitet »in ständigem Stoffwechsel« mit diesen Formationen voran, die sie dabei zernagt und assimiliert und damit dem inneren Markt Stück für Stück einverleibt, bis alle nichtkapitalistischen Räume und Sphären der Kapitalverwertung unterworfen sind, das prozessnotwendige Äußere mithin vollständig absorbiert ist. Die Dialektik von erweiterter Reproduktion und Expansion setzt der Akkumulation eine »objektive ökonomische Schranke«, jenseits derer der ganze Vorgang nicht mehr möglich ist; der Kapitalismus/Imperialismus kommt an sein Ende.
Peter Hacks, der Luxemburg in deren Endzeitprophezeiung nicht zustimmen mochte, verknappte die ganze Sache zu dieser Wendung: Ihre Weltformel zeige, »dass der Imperialismus (…) seine Ernährer ausrottet, durch welche Verumständung – wie im Melodrama – seine Höllenfahrt direkt aus seinen Sünden resultiert«. Offensichtlich ist die imperialistische Höllenfahrt noch nicht vorbei, und ob sie von selbst endet, ist zweifelhaft. Luxemburg nahm selbst nicht an, dass dieser Punkt irgendwann erreicht, weil vorher ein »aktiver Faktor in das blinde Spiel der Kräfte« eingreifen würde: Je mehr sich mit der fortschreitenden Expansion »die Tagesgeschichte der Kapitalakkumulation auf der Weltbühne in eine fortlaufende Kette politischer und sozialer Katastrophen und Konvulsionen« verwandele, desto stärker werde »die Rebellion der internationalen Arbeiterklasse gegen die Kapitalherrschaft zur Notwendigkeit«. Wiederum Hacks: »Um eine große Frau nicht zu verleumden. Obwohl Luxemburg aussagt, dass der Imperialismus an sich selbst zu Grunde geht, rät sie dringend, ihn vorher totzuschlagen.« Das ist die politische Lösung des Problems.
Unterkonsumtion
Einstweilen wird man sich jedoch mit seiner ökonomischen Erörterung begnügen müssen. Dass auch gut 111 Jahre nach Veröffentlichung ihrer starken These der Zusammenbruch noch nicht erfolgt ist, mag nahelegen, dass Luxemburg falsch lag, beweiskräftig ist der bloße Hinweis auf die Zählebigkeit der kapitalistischen Produktionsweise allerdings nicht. Der übliche und zunächst plausible Einwand gegen Luxemburg lautet, dass ihre Unterkonsumtionsthese, also die Annahme von einer strukturell beschränkten Nachfrage in den »inneren Märkten«, der Wirklichkeit nicht standhält. Da sie eine dauerhafte Änderung der Lohnquote systematisch ausschloss, erschien ihr die Nachfragefähigkeit des inneren Marktes durch Steigerung des Reallohns, wie er im zwanzigsten Jahrhundert tatsächlich eintrat, unmöglich. Reinvestitionen wiederum (nicht zuletzt durch den Hebel des Kredits) können die Lücke schließen, da sie eine eigene Nachfrage nach Kapitalgütern und anderen Produktionsmitteln hervorbringen, was schlussendlich immer auch bedeutet (und so geschieht es ja auch regelmäßig), dass neue Industrien die Bühne betreten.
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Die kapitalistische Produktionsweise ist damit nicht nur unmittelbar flächenmäßig expansiv, sondern erweitert sich auch gleichsam intern um immer neue Bereiche (die Produktivkraftentwicklung, die durch diesen Vorgang vorangetrieben wird, taucht zwar gelegentlich auf, scheint aber in Luxemburgs Argumentationsführung keine tragende Rolle zu spielen). Damit ist aber angedeutet, was Luxemburgs Ansatz, wenn er weiter gedacht wird, interessant und aktuell macht, sofern Expansion oder »Landnahme« nicht bloß wortwörtlich genommen wird, sondern zugleich metaphorisch.
Überakkumulation
Wenn von der Verengung auf das historisch falsche Unterkonsumtionsproblem abgesehen wird, erweist sich, dass »Die Akkumulation des Kapitals« recht eigentlich besehen eine Überakkumulationstheorie vorstellt, mit der sich erklären lässt, warum der Kapitalismus in rastloser Bewegung ist und beständig auf ein Äußeres zugreift und es verschlingt. Nach dieser Maßgabe herrscht Überakkumulation in Permanenz und nicht nur im Vorfeld einer zyklischen Krise. Wo Kapitalmassen nicht mehr profitabel angelegt werden können, suchen sie neue Sphären, die oftmals, aber eben nicht immer, ein rein geographisches Feld beschreiben. Die Ausdehnung des Kapitalismus und die Kommodifizierung aller Bereiche, die er durchdringt, erfolgen in Raum und Zeit, außerhalb wie innerhalb staatlich umgrenzter Gesellschaften, und erfassen unterschiedliche Produktions- und Lebensweisen, Sektoren und Branchen, Milieus und soziale Klassen, jedes mal aber, und das erkannt und als erste aufgeschrieben zu haben ist die Leistung Rosa Luxemburgs, sind sie ein nichtkapitalistisches Äußeres. Der Dreh ist nun, dass die von ihr postulierte »objektive ökonomische Schranke« – irgendwann gibt es kein Äußeres mehr – von der kapitalistischen Akkumulationsbewegung noch stets unterlaufen wird.
Der britische Marxist und Geograph David Harvey fand dazu in seinem Buch »Der neue Imperialismus« eine Erklärung: »Der Kapitalismus kann entweder ein bereits bestehendes ›Außen‹ nutzen (…) oder ein solches aktiv herstellen.« Das ist der springende Punkt. Denn unter aktiver Herstellung eines »Außen« lässt sich vorstellen, dass die kapitalistische Landnahme prinzipiell unendlich ist.
Was aber heißt »aktiv herstellen«? Nach Harvey basiert die Dynamik des Kapitalismus auf seiner Fähigkeit zur Produktion und Zerstörung von Raum. Wird Kapital zwecks Raumerschließung zum Beispiel in die Transportinfrastruktur (etwa Trassen- und Eisenbahnbau) investiert, weil nur so Waren von A, wo sie produziert, nach B, wo sie konsumiert werden, gelangen können, ist es dem primären Kapitalkreislauf erst einmal entzogen. Es ist, wie Harvey sagt, raum-zeitlich fixiert. Von solchen Langzeitinvestitionen ist allerdings nicht garantiert, dass sie sich rentieren, weshalb historisch betrachtet, siehe den Eisenbahnbau, immer wieder der Staat als ideeller Gesamtkapitalist einspringt. Investitionen in die Infrastruktur, in Bildung und Ausbildung absorbieren Kapital, binden es langfristig und lösen vorläufig das Problem der Überakkumulation. Sie sind zugleich notwendig, um den Anforderungen einer erweiterten Reproduktion zu entsprechen: Ware soll neue, weiter entfernte Bestimmungsorte erreichen können, neue Industrien verlangen halbwegs befähigte, also entsprechend ausgebildete Arbeitskräfte etc. Post, Telekommunikation, Eisenbahn und Bildungseinrichtungen sind, wo sie staatlich betrieben werden, zunächst der privaten Verwertung entzogen, bilden damit aber ein Außen, das perspektivisch von Kapital durchdrungen werden kann und wird.
Ein anderes Außen erwächst überhaupt erst durch die Schaffung einer Klasse von Lohnarbeitern. Denn die Reproduktion von deren Arbeitskraft ist auf nichtkapitalistische Tätigkeit angewiesen, da sie ohne – überwiegend weibliche und unbezahlte – Sorge-, Pflege- und sonstige Arbeit nicht stattfindet, die aber zugleich Objekt der Kommodifizierung, der kapitalen Durchdringung wird. Und schon längst ist die »Freizeit« des Lohnarbeiters abgetrotztes Terrain der Kapitalakkumulation geworden: Die Luftfahrtindustrie fliegt ihn, den Lohnarbeiter, zu Bettenburgen der Tourismusindustrie; »Kolonialisierung der Lebenswelt«.
Akkumulation durch Enteignung
Die stattgehabte Privatisierung öffentlicher Leistungen – Bildungswesen, Verkehr, Gesundheitsvorsorge –, die Kapitalakkumulation beziehungsweise erweiterte Reproduktion erst geschaffen haben, sind demnach Beispiele von Landnahme oder Expansion als vorläufige Lösungen des Problems Überakkumulation. Sie sind erobertes Außen. Harvey nennt den Vorgang »Akkumulation durch Enteignung« und sagt damit zugleich, dass ursprüngliche Akkumulation, wie noch bei Marx, kein einmaliges historisches Ereignis ist, das die Voraussetzungen der kapitalistischen Produktionsweise schuf, sondern ein Prozess in Permanenz, der ihre Existenzbedingungen aufrechterhält. Zugleich findet ursprüngliche Akkumulation aber noch immer in ihrer direkt flächengreifenden, rohen und brutalen Form statt. Nicht anders ist die Eroberung der postsozialistischen Räume Osteuropas durch das Kapital nach dem Untergang der Sowjetunion zu bezeichnen. Und um ein direkt gegenwärtiges Beispiel zu liefern: Der Kampf der Naxaliten, maoistisch inspirierte Kleinbauern in Indien, ist einer gegen die Vertreibung von deren Land und dagegen, aus der dortigen Landwirtschaft ein kapitalistisches Unternehmen und aus verjagten Bauern kapitalistische Lohnarbeiter zu machen.
Mit Luxemburgs Innen-Außen-Dialektik lässt sich das Fortwesen des expansiven kapitalistischen Akkumulationsprozesses einigermaßen plausibel erklären. Ob der Zusammenbruch dabei logisch zwangsläufig ist oder nicht, spielt letztlich keine Rolle. Wer diese Produktionsweise mit ihren Verheerungen, die sie mit ihrer rastlosen Landnahme unentwegt anrichtet, weghaben will, muss von außen eingreifen. Wie das gelingt, steht vermutlich auf keinem anderen Blatt, sondern sollte stets aufs neue ausprobiert werden.
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