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Aus: Literatur, Beilage der jW vom 26.03.2025
Literatur

Noch lange nicht am Ende

Johannes Agnolis »Staat des Kapitals«. Eine Relektüre
Von Daniel Bratanovic

Radikale Politikwissenschaft gibt es nicht. Die zweifache Einschränkung, die für Hiesige am Befund nichts ändert, lautet: Radikale Politikwissenschaft gibt es nicht in diesem Land, jedenfalls nicht mehr. Von Anfang an klebte an der Politikwissenschaft Westdeutschlands, als eigenständige Disziplin überhaupt erst nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert, die Eigenschaft, im wesentlichen Legitimationslehre bestehender Verhältnisse und Institutionen zu sein. Man konnte es auch so ausdrücken: »Zur deutschen Politologie: makabre Reaktion, aus dem schlechten Gewissen, angeblich einmal durch Kritik zur Verschlechterung eines Verfassungszustands beigetragen zu haben« – gemeint ist die Staatsordnung der Weimarer Republik – »(eine deutsch-ideologische Überschätzung der Kritik), heute einen schlechten Verfassungszustand zu apologisieren.«

Die Adressaten dieser Kritik waren Linksliberale wie Ernst Fraenkel oder Richard Löwenthal, Vertreter einer Pluralismuskonzeption, die von Aushandlungsprozessen heterogener Interessen auf der Grundlage eines allgemeinen, nicht konfliktiven Konsenses ausging, wie ihn der demokratische Verfassungsstaat repräsentiere. Der Verfasser der zitierten, um 1967 geschriebenen Kritik hatte eine andere Auffassung von der solcherart verteidigten Demokratie. Sein Ansatz ging an die Wurzel, hatte den Antagonismus von Kapital und Arbeit zur Grundlage und zum Ausgangspunkt. In diesem Geiste schrieb Johannes Agnoli seine »Transformation der Demokratie«.

Doch solche radikale, genuin marxistische Politikwissenschaft ist heute im Grunde vergessen, der dazugehörige Autor auch. Das galt schon, als Agnoli vor bald 22 Jahren starb. Aus Anlass seines 100. Geburtstages am 22. Februar hat der Berliner Dietz-Verlag jetzt allerdings einen kleinen Sammelband mit Texten von ihm veröffentlicht und eine instruktive Einführung des Herausgebers Michael Hewener vorangestellt. Der Schlüsseltext darin ist ein Auszug aus einem Aufsatz mit dem Titel »Der Staat des Kapitals«. Diese Schrift ist, wenn auch später verfasst, gewissermaßen das Fundament, auf dem die »Transformation der Demokratie« steht. Sie trägt zwar vorläufigen, fragmentarischen Charakter, zeichnet aber Grundzüge einer materialistischen Staatstheorie. Materialistische Staatstheorie? Das ist so Zeugs, mit dem sich anno 2025 keiner mehr beschäftigt, jedenfalls, wir hatten das schon, nicht in diesem Land. Zum Zeitpunkt der erstmaligen Veröffentlichung, 1975 bei Wagenbach, war das anders. Für die Dauer von wenigen Jahren lief in der Bundesrepublik unter radikalen Linken eine intensiv geführte Debatte über den korrekten Begriff des bürgerlichen Staates, nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer weitreichenden Staatsintervention in die Ökonomie, deren Höhepunkt, das wussten die Diskutanten da noch nicht, damals auch schon wieder überschritten war.

Die Debatte bewegte sich, wenn auch bisweilen abstrakt geführt, auf einem Niveau, das heutige Zeit als Sumpf erscheinen lässt. Die Ansätze, die sich dabei vor allem gegenüberstanden, hießen »Stamokap« und »Staatsableitung«. An diesem Streit allerdings lässt sich zugleich ablesen, wie gründlich man damals aneinander vorbeigeredet hat. Exemplarisch wäre diese Feststellung an zwei Beiträgen zu illustrieren, die 1973 in einem Heft der Zeitschrift Prokla (Probleme des Klassenkampfs) erschienen. Der Westberliner Robert Katzenstein, der den Stamokap-Ansatz vertrat, interessierte sich in seinem Text gar nicht erst für die ­kategoriale Frage: »Was ist der bürgerliche Staat, und warum gibt es ihn?« sondern setzte ihn schlichtweg voraus, während Gabriele Wirth, die die Staatsableitung repräsentierte, in ihrem Beitrag nichts wissen wollte von der aktuellen Gestalt und den tatsächlichen konkreten Aktionen des Staates unter den Bedingungen kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Im Netz findet sich die digitalisierte Fassung des Hefts recht simpel; ein Zeugnis einer kurzen Phase intensiver marxistischer Theorieproduktion.

Die ganze Fragestellung der Staatsableiter erwuchs aus dem Unbehagen, dass es einer allgemeinen marxistischen Theorie des bürgerlichen Staates recht eigentlich ermangele, dass in einer verflachten, aber tatsächlich sehr häufig anzutreffenden Auffassung der Staat in allererster Linie als Werkzeug der herrschenden Klassen betrachtet, Herrschaft unter kapitalistischen Verhältnissen personalistisch als Macht einer kleinen Gruppe, der Staat als Staat der Kapitalisten und nicht als Staat des Kapitals gedacht wird, und dass bei einigen Vertretern der Stamokap-Theorie von einer Verschmelzung von Monopolen und Staat ausgegangen wurde.

Es geht nun in der Kritik der instrumentellen Staatsauffassung um die qualitative Differenz von vorbürgerlichen und bürgerlichen Herrschafts- und Gewaltverhältnissen. Eine Analyse des bürgerlichen Staates hat sich die Frage nach der spezifischen Form vorzulegen, in der sich die Klassen aufeinander beziehen und ihr Klassenverhältnis reproduzieren, also die Form einer öffentlichen, mittels abstrakt-allgemeiner Gesetze herrschenden, außerökonomischen Zwangsgewalt. Warum nimmt der Klasseninhalt die Form der Rechtsstaatlichkeit an? Es geht mithin um den Zusammenhang zwischen dem Klasseninhalt der Ausbeutung und deren spezifisch bürgerlicher Form, dem Austausch von Äquivalenten – so wie also auch der Arbeiter als Verkäufer seiner Ware Arbeitskraft einen dafür äquivalenten Lohn erhält, ohne dass dabei die Form der Ausbeutung in Gestalt des Mehrwerts sichtbar würde.

Auch Agnoli geht dieser Frage nach, und auch wenn er den Staatableitern näherzustehen scheint, kritisiert er in seinem Essay beide Ansätze. Bei den einen betritt der Staat als ungeheurer Machtblock die Bühne der Geschichte, in dem nicht etwa ökonomisch-gesellschaftliche Kräfte agieren, sondern politische Subjekte mit ökonomischen Interessen. Diese Mächtigkeit des Staates sei aber gerade die günstigste Bedingung, ihn in ein Instrument einer anti­monopolistischen Demokratie umzuwandeln. Je stärker die Machtkonzentration, desto größer die künftige Macht der Arbeiterbewegung. Agnoli: »Dazu muss der Bevölkerung fest zugeredet werden, damit sie die Notwendigkeit des Machtantritts der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten einsieht: ein großzügig als Dialektik ausgegebenes Mysterium.« Bei den anderen besitzt das Kapital umfassende Kräfte, das sich aus seiner Selbstbewegung heraus immer wieder aufs neue seine gesellschaftliche Totalität »zusammenbastelt« – »ein als politische Ökonomie ausgegebenes Mysterium«. Der Staat führt bloß eine illusionäre Machtexistenz, besteht nur als Ableitung seiner Funktionen. »Die Folge ist«, schreibt Agnoli, »eine uneingestandene Absage an den politischen Kampf und an jede Konfliktstrategie. Führt das eine Mysterium zum Zureden, so dieses zum Zusehen.«

Der Begriff, den Agnoli vom Staat entwickelt, enthält ebenso wenig eine Onto­genese wie eine Untersuchung des Umstands, dass Staat nur im Plural auftritt, was auf die jeweilige innere Verfasstheit zurückwirkt. Agnolis Versuch einer möglichst allgemeinen Bestimmung behauptet plausibel einen Doppelcharakter des Staates. Der setzt auf der einen Seite spezifische Klasseninteressen des Kapitals organisatorisch durch und gleicht widerstrebende Interessen der Kapitalfraktionen aus, berücksichtigt aber auf der anderen Seite, »da seine besondere Form als eigenständige Existenz das Allgemeine ist«, auch allgemeine Interessen und fasst daher gesellschaftliche Widersprüche zusammen. Als »einzig realer Gesamtorganisator«, als Garant der Reproduktion des Gesamtkapitals ist er Staat des Kapitals, nicht Staat der Kapitalisten.

Dieser Staat des Kapitals muss zudem nicht nur widerstreitende Interessen unterschiedlicher Kapitalgruppen ausgleichen und Klassenauseinandersetzungen konstitutionell neutralisieren, er muss vielmehr auch »die gesellschaftliche Existenz der Arbeiter organisatorisch fassen und teilweise ökonomisch tragen, will er die grundlegende, objektive Bedingung der Kapitalakkumulation sichern«. Man kennt das: Kurzarbeitergeld, Hartz IV etc. So bindet der Staat auch den Arbeiter an sich, er kommt ohne ihn nicht aus: Der Staat erweist sich »tagtäglich als Instrument seiner Unterdrückung, zugleich aber auch als Mittel seiner Existenz – die politische Seite der Entfremdung«.

Diese Einsicht hat praktische Konsequenzen, denn eines »erfährt der Klassenkampf stets an seinen Höhepunkten: Das Einzelkapital lässt sich schlagen, dahinter bleibt aber das (…) politische Machtsystem, das praktisch das schon geschlagene Kapital retten kann. Fiat war im Herbst 1969 am Ende, der italienische Staat noch lange nicht.«

Die Staatsbauleiter beabsichtigten eine kategoriale, logische Bestimmung des bürgerlichen Staates aus den Prozessen der Kapitalakkumulation heraus, blieben dabei aber steril, ohne Berücksichtigung der Dynamik der Klassen gegeneinander und ohne einen Sinn dafür, wie sich konkrete Politik ergibt. Bei Agnoli erhält die Analyse der abstrakten Formlogik eine Analyse der Kräfteverhältnisse, und so verpasst er einer materialistischen Staatstheorie, deren lose Enden der verschiedenen Ansätze noch nie zum Knoten geschürzt wurden, eine notwendige und konstruktive Ergänzung.

Michael Hewener (Hg.): Johannes Agnoli oder: Subversion als Wissenschaft. Dietz-Verlag, Berlin 2025, 176 Seiten, 14 Euro

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