Regierung stört den Frieden
(jW-Zusammenfassung)
In den Kommentaren der Dienstausgabe der meisten Tageszeitungen bekommt die Bundesregierung ihr Fett weg, auch bei Blättern, die ansonsten jede amtliche Lüge als göttliche Offenbarung preisen. Die Regierung ist unglaubwürdig und hat Renommee verspielt – was nicht heißt, daß die Kommentatoren auf Seiten der Demonstranten stehen.
Wie wird die Regierung die Geister, die sie rief, wieder los? - fragt die
Berliner Zeitung
»Die Bundesregierung hat mit der Laufzeitverlängerung einen fragilen Frieden gestört. Es sind viele auf die Straße gegangen, die seit dem Atomkonsens das Thema für erledigt hielten. Und viele Junge, die jetzt erst verstanden haben, dass die Kritik an der Atomkraft nicht die Spinnerei ihrer Eltern ist, sondern auch sie angeht. Die Regierung hat also Schläfer geweckt und eine neue Protestbewegung rekrutiert. Man kann gespannt sein, wie sie damit fertig werden will.«
Die vier Energiekonzerne seien nicht sehr weitsichtig, Protest müsse aber harmlos bleiben, meint die
Südwest Presse
»Doch vier Konzerne - ENBW, Eon, RWE und Vattenfall - haben ihren Willen durchgesetzt in Berlin und verdienen schnell viel Geld mit dem Weiterbetrieb ihrer alten Kraftwerke. Kurzfristig ein Gewinn - weitsichtigere Unternehmenslenker hätten mehr Umsicht gezeigt. Denn die politische Mehrheit, die jetzt die Laufzeitverlängerung durchgesetzt hat, ist schon wieder fragil. Auch die verlängerten Laufzeiten dürften kaum endgültig Bestand haben. Allein diese Aussicht sollte reichen, den Widerstand im Wendland in friedlichem Rahmen zu halten. Denn wer Bahngleise untergräbt oder Polizisten angreift, macht sich nicht nur selbst strafbar, sondern diskreditiert ein Anliegen, das derzeit allen Umfragen zufolge eine gesellschaftliche Mehrheit hat.«
Ob Kernenergie gut oder schlecht ist, vermag diese Zeitung nicht zu beurteilen Sie meint aber, daß die Regierung so ziemlich alles falsch angefaßt hat.
Hessische/Niedersächsische Allgemeine
»Das nervöse Gefecht der Politiker um die Deutungshoheit im Atom-Streit ist verständlich. Aber beeindruckt es wirklich jemanden, wenn CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt die Grünen als Anführer von Brandstiftern und Steinewerfern diffamiert? Derweil entfaltet die Laufzeitenverlängerung unter aller Augen ihre politische Sprengkraft. Warum eigentlich keine Endlagersuche in Bayern? Warum muß Niedersachsen allein den Polizeieinsatz zahlen? Und ist das Entgegenkommen gegenüber den Energiekonzernen nicht nur eine neue Variante jener Klientelpolitik, die schon zur Hotelsteuersenkung führte? Angela Merkel hat sich verrechnet. Sie hat ohne Not ein Hochrisikothema ans Licht befördert. Auch hierfür ist nur ein sehr hoher Preis in Sicht, aber kein Endlager.«
Geschwätzig und weitgehend meinungslos kommt dieses Blatt aus Deutsch-Nordost daher. Was will uns der Kommentator sagen?
Schweriner Volkszeitung
»Wieder einmal ist das Wendland zum Ersatzschlachtfeld in der Atomfrage geworden. Handfeste Krawalle rund um die Castortransporte sind ein abschreckendes Ritual, das der Botschaft friedlicher Protestierer schadet. Nur im engeren Sinne geht es bei dem Widerstand um die Eignung Gorlebens als Endlager für radioaktiven Müll. Am Pranger stand für die Protestierenden dieses Mal die schwarz- gelbe Politik der Laufzeitverlängerung für die deutschen Kernkraftwerke. Es ist zwar verständlich, dass die Opposition da mächtig mitmischte, doch darf man schon noch daran erinnern, daß ein grüner Umweltminister Jürgen Trittin Protest gegen Castor-Transporte noch 2001 für falsch erklärte. … Das energiepolitische Konzept, mit dem Schwarz-Gelb langfristig ehrgeiziger ist, als SPD und Grüne es waren, steht ganz im Schatten der Laufzeitverlängerung. Merkels zeitlich begrenzter Ausstieg aus dem Ausstieg kommt in der öffentlichen Wahrnehmung vieler als Geschenk an die Atomkonzerne daher - ein Milliardengeschäft für die vier großen Energieerzeuger, bei dem auch der Staat sich einen Teil der Zusatzgewinne mittels Brennelementesteuer sichert. Es wird schwer werden, diesen Makel loszuwerden.«
Was dem einen S21, das ist dem anderen der Castor, meint die
Frankfurter Neue Presse
»Wie in Stuttgart der Bahnhof wurde im Wendland der Castor zum Symbol des Widerstands, der bürgerlicher geworden ist. Die Botschaft, die die Menschen dabei aussandten, war so klar und eindrucksvoll, wie schon lange nicht mehr: Es ist die Zeit des Protests. Tage des Widerstands, die zeigen sollen, daß viele es ernst meinen mit dem Dagegensein, wenn es nötig ist. Daß die Anti-Atomkraft-Bewegung nicht quasi-tot, sondern immer noch quicklebendig ist. Daß der Protest gegen rollenden Atommüll und ein atomares Endlager in Gorleben oder anderswo keine Reflexbewegung, sondern ein existenzielles Ansinnen ist - diskreditiert nur von den üblichen Gewaltaktionen gegen Schienen und Polizeibeamte. Auch wenn Merkel und ihr Umweltminister die Proteste im Wendland verurteilen und ihre Politik als alternativlos bezeichnen - eine Mehrheit im Volk ist gegen Kernenergie und verlängerte AKW-Laufzeiten. So wird die Rekord-Demo des Jahres nicht ohne Folgen bleiben, schon gar nicht bei der CDU. Deren potentielle Wähler sind es, auch deren Parteibasis in den Bürgervereinen und Kirchen, die den Protest mitgetragen haben.«
Der politische Preis für Atommülltransporte ins Wendland sei inzwischen zu hoch, meint die
Frankfurter Rundschau
»Gorleben ist verbrannt. Castor-Transporte weiter ins Wendland gegen den erbitterten Widerstand der Bevölkerung durchzuprügeln, ist keine Perspektive, die die Politik – gleich welcher Couleur - ernsthaft verfolgen kann. Der Widerstand rund um Gorleben steht schon seit über 30 Jahren, und er wird auch noch in 30 Jahren stehen. Gegenseitige Vorwürfe von Union und Grünen, wer die Proteste schürt, helfen nicht mehr weiter. Helfen kann nur, die Endlagersuche ganz neu von einer weißen Landkarte mit größtmöglicher Transparenz und Bürgerbeteiligung zu starten.«
Ein weiterer Kommentator findest es dagegen »schlecht«, wenn der Frust über die Regierenden auf der Straße und an der Schiene abreagiert wird. Abgedruckt hat dies
Der Tagesspiegel
»Deutschland ist Konsensland und keine Krawallrepublik. In der Regel wird lange nach Lösungen gesucht und gerungen; dann trägt der Kompromiß. Bis auf Ausnahmen, etwa die Kernkraft, hat das auch gut funktioniert. Und diesen Herbst? Wenn biedere Schwaben wochenlang zur Montagsdemo gehen, ist der Zorn über die Politik wohl enorm. Dabei geht es um einen Bahnhof, nicht um das Ende eines Regimes oder wenigstens ein Atommülllager. Verrutschen uns die Maßstäbe, das Verständnis für Verhältnismäßigkeit? Reagieren die Menschen ihren Frust über die Regierenden im Protest ab? Das ist schlecht. Angela Merkel sollte sich Sorgen machen. Nicht nur über den Castor.«
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
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