Das Gespenst des Populismus
Von Götz EisenbergErich Kästner hat 1958 in Hamburg anlässlich des 25. Jahrestages der Bücherverbrennung eine Rede gehalten, in der es heißt: »Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. (…) Drohende Diktaturen lassen sich nur bekämpfen, ehe sie die Macht übernommen haben.«
Dieser Passus enthält Handlungsanweisungen für diejenigen unter uns, die in Deutschland und Europa die Gefahr einer Faschisierung erkennen. Wir müssen uns dringend um linke Aneignungsformen von Energien, Sehnsüchten, Leidenserfahrungen und Ängsten bemühen. Sonst werden sie von den Rechten instrumentalisiert und nach rückwärts in Gang gesetzt. Wenn es den Faschisten und Rechtspopulisten gelingt, wie in den Jahren vor 1933, die real existierende kapitalistische Entfremdung in die völkische Schimäre der »Überfremdung« zu verwandeln, werden wir Zeugen einer Faschisierung – mit Migranten, Flüchtlingen und Linken in der Rolle der Sündenböcke und Opfer. Die Umwandlung von Entfremdungserfahrungen in Hass auf Fremde und Fremdes ist eine basale rechte Operation und das Geheimnis des Erfolges der sogenannten Rechtspopulisten. Dabei nicht mitzumachen und statt dessen darauf zu beharren, dass es die sich selbst antreibende Teufelsmühle des Kapitals ist, die uns alles entfremdet, markiert eine klare Scheidelinie zwischen linker und rechter Politik.
Im Namen »des Volkes«
Ein Gespenst geht um in der westlichen Welt – es ist nicht mehr, wie zu Karl Marx‘ Zeiten, das Gespenst des Kommunismus, sondern das des Populismus. Der Begriff stammt aus dem Lateinischen, wo »populus« das Volk bezeichnet. Soziologisch verweist »Volk« auf vorbürgerlich-feudale Zustände. Könige und Kaiser sprachen von »meinem Volk«. Die bürgerliche Gesellschaft ist durch den Klassengegensatz von Bourgeoisie und Proletariat gekennzeichnet, nicht durch den Gegensatz von der in Stände und Kasten sich gliedernden Masse des Volkes und der Obrigkeit. »Das Volk« existiert im Alltag des bürgerlichen Politikbetriebs eigentlich nur als legitimierendes »Ding an sich«, das für die Konstruktion einer politischen Gesamtordnung benötigt wird. Schließlich hatte das Grundgesetz »das Volk« als Souverän eingesetzt, von dem alle Staatsgewalt ausgehen sollte. »Aber wo geht sie hin?« fragte Brecht.
Souverän ist »das Volk« nur in den Schriftsätzen der Staatsrechtler. Gerichte verkünden Urteile in seinem Namen; Politiker rufen es gelegentlich an, wenn sie irgendwelche Sonderinteressen als Ausdruck eines allgemeinen Willens erscheinen lassen wollen. Ansonsten stört es eher den geregelten Betrieb, der bestens ohne seine direkte Beteiligung auskommt. Die politischen Institutionen und ihr Personal haben sich verselbständigt und führen ein Eigenleben. »Das Volk« hat alle vier Jahre das Recht, zwischen verschiedenen Fraktionen dieses Personals zu wählen und zu entscheiden, wer in der nächsten Legislaturperiode als »geschäftsführender Ausschuss« (Marx) der herrschenden Klasse fungiert. Merkwürdigerweise hat der Kapitalismus die Einführung der Massendemokratie überlebt. Das lässt sich nur durch den Umstand erklären, dass die Massen bei ihrer Wahlentscheidung gegen ihre eigentlichen, wohlverstandenen Interessen agieren und die Spielregeln bürgerlicher Politik akzeptieren.
Aber gegenwärtig erschreckt »das Volk« die etablierten Politiker, die in seinem Namen agieren. Es betritt unangemeldet und ohne Einladung die politische Bühne und klagt jene durch die komplexen repräsentativen Mechanismen moderner Massendemokratien verlorengegangene Souveränität ein. Der Begriff »Populismus« ist inzwischen zu einem Kampfbegriff geworden, der all diese Einmischungsversuche des »Volkes« als illegitim und irrational verteufelt und in den Bereich des Anrüchigen verweist. Dieses Verdikt trifft Linke wie Rechte gleichermaßen. Die Bezeichnung der Anhänger der Populisten als »Pöbel« und »Mob« zeugt davon, dass bei den Herrschenden die alte Verachtung für die sogenannten Unterschichten immer noch virulent ist.
Linker Populismus?
Der unmittelbare Ausdruck der Ansichten und Wünsche der »kleinen Leute« ist nicht per se progressiv und eine Kraft gesellschaftlichen Wandels; er kann auch das Gegenteil darstellen. Die Linke kann sich nur solange auf »das Volk« berufen und »Alle Macht dem Volke!« fordern, wie dieses das allgemeine Interesse und die Vernunft repräsentiert.
Das hiermit gemeinte »Volk« besteht nicht aus denjenigen, die heute die bürgerliche Demokratie stützen: die Wähler und Steuerzahler, die große Zahl der braven Staatswichtel. Das Volk, das die Macht hätte, sich zu befreien, wäre nicht mehr dasselbe wie das, das heute den Status quo reproduziert – selbst wenn es aus denselben Individuen bestünde. So richtig es ist, dass das Volk sich selbst aus seiner Knechtschaft befreien muss, so richtig ist es auch, dass es sich zuerst von dem befreien muss, was von der Gesellschaft, in der es zu leben gezwungen ist, aus ihm gemacht wurde.
In seiner gegenwärtigen Verfassung ist »das Volk« eher der Bezugspunkt der Rechten, die die umlaufenden Vorurteile, Ressentiments und Meinungen aufgreifen und so, wie sie sie vorfinden, für ihre Zwecke in Dienst nehmen können. So ist es Donald Trump gelungen, das »große Unbehagen« der kleinen Leute und ihre Wut auf das Establishment für sich und die Republikaner zu mobilisieren. Sein Triumph lehrt uns: Man sollte die Angst, enteignet und herumgestoßen zu werden, nicht ignorieren.
Linke haben es mit Versuchen, diese Energien zu nutzen, natürlich schwerer. Wirkliche Aufklärung ist im Vergleich zu der rechten Indienstnahme von Ressentiments und Wut mühsam und schmerzhaft. Sie muss den steinigen Acker der Vorurteile bestellen, den herumliegenden Rohstoff an alltäglichen Ängsten komplizierten Bearbeitungsprozessen unterziehen. Sie muss lange Wege und Umwege gehen, um von der Erscheinungswirklichkeit zum Wesen der Dinge vorzudringen. Aber wir müssen es bei Strafe unseres Untergangs versuchen und dürfen den verstreuten Rohstoff nicht den Rechten überlassen. Leo Löwenthal und Norbert Guterman haben in ihrer Studie über »Falsche Propheten« schon Ende der 1940er Jahre dazu geschrieben: »Man kann diese Gefühle nicht einfach als zufällig oder den Menschen eingeredet abtun; sie gehören zum Grundbestand der modernen Gesellschaft. Misstrauen, Abhängigkeit, Sich-ausgeschlossen-Fühlen, Angst und Desillusionierung fließen in eins zusammen und ergeben einen grundlegenden Zustand im heutigen Dasein: das große Unbehagen.«
Ich will im folgenden versuchen, gegenwärtige Formen des »großen Unbehagens« zu umreißen.
Einbruch der Zukunft
In seinem Erzählband »Raumpatrouille« von 2016 schildert Matthias Brandt eine Reise mit seiner Mutter in einen kleinen Ort in Norwegen, in dem sich das Ferienhaus der Familie Brandt befand. »Nach dem Ausladen des Gepäcks öffnete sie alle Fenster und Türen und ließ die kühle Mailuft durchs Haus wehen. Sie schaltete das alte Radio an, Musik tönte über das Grundstück bis in den dahinter gelegenen Wald. Schön war es in dieser Welt, die sich nicht gleich veränderte, wenn man ihr mal kurz den Rücken zudrehte.«
Brandt beschreibt hier eine Erfahrung, die viele Menschen machen, seit der gesellschaftliche Wandel sich drastisch beschleunigt hat: Kehrt man irgend etwas den Rücken zu, ist es beim Wiederumdrehen entweder verschwunden oder bis zur Unkenntlichkeit verändert. Man kommt nach Jahren in seinen Heimatort und findet kaum etwas wieder. Nichts ist mehr an seinem angestammten Platz. War hier nicht die Schule, die man besucht, dort das Kino, in dem man seine ersten Filme gesehen hat? Wo ist der Sportplatz geblieben, auf dem man das Glück des Fußballspielens und die Wonnen der Gemeinschaft entdeckte? War hier nicht mal die Post und dort drüben der Schuster? Wo sind die alten Ulmen geblieben und die Bänke im Schatten?
Ganze Landschaftsbilder verändern sich, Wälder werden gerodet, Bach- und Flussläufe verlegt, Autobahntrassen zerteilen den Raum. Demnächst sollen im Nahverkehr die Papierfahrkarten abgeschafft und durch E-Tickets ersetzt werden. Die Kassiererinnen in den Supermärkten werden nach und nach verschwinden und durch Scanner ersetzt, die jeder Kunde selbst in die Hand nehmen soll. Irgendwann wird man das Bargeld ganz aus dem Verkehr ziehen. Die Digitalisierung fegt über das Land wie ein Sturm. Die eingespielte Ordnung der Dinge wird erschüttert und durcheinandergewirbelt.
Routinen sind ja dazu da, Menschen von den Strapazen ständiger Entscheidungsfindung zu entlasten. Aber es geht heute im Zeitalter der »Projekte« nicht mehr darum, Leute zur Erfüllung bestimmter Routinen zu dressieren und zur Betriebstreue anzuhalten, sondern umgekehrt, sie von der Fixierung auf bestimmte Berufsbilder wegzubringen. Es soll gar nicht mehr dazu kommen, dass sich Routinen und Bindungen ausbilden. Die Subjekte müssen sich darauf einstellen, nicht mit Kontinuitäten, sondern mit Diskontinuitäten zu leben. Sie werden darauf verpflichtet, sich für Einflüsse und Veränderungen offen zu halten und die Fähigkeit zu entwickeln, sich psychisch permanent »umzumontieren« und neu zusammenzusetzen.
Flexibilität und Mobilität sind die Kardinaltugenden einer Gesellschaft, deren einzige Konstanz der ständige und immer schnellere Wandel ist. Wohlgemerkt: Nicht die Flüchtlinge sind die Ursache dieser Verunsicherung, wie rechte Populisten glauben machen wollen, sondern der Kapitalismus selbst ist es, der nicht existieren kann, ohne bei seiner Jagd nach neuen Verwertungsmöglichkeiten ständig alles umzuwälzen und von Innovation zu Innovation zu hetzen.
Der Einbruch der Zukunft in die Gegenwart eröffnet den Menschen nicht nur Chancen, sondern verunsichert sie auch. In ihrer Frankfurter Poetikvorlesung hat Christa Wolf postuliert, wir müssten lernen, »Freude aus Verunsicherung (zu) ziehen«, und diesen Imperativ sogleich mit der skeptischen Frage verbunden: »Wer hat uns das je beigebracht?« Je traditioneller ein Mensch geprägt ist, je mehr man ihn in einen Charakterpanzer gezwängt hat, desto schwerer wird er sich damit tun, angesichts von Unbekanntem Freude zu empfinden. Vielen Menschen geht es wie Meister Anton, der am Ende von Friedrich Hebbels Theaterstück »Maria Magdalena« sinnend stehenbleibt und ausruft: »Ich verstehe die Welt nicht mehr!«
Der gerade verstorbene Soziologe Zygmunt Bauman hat in seinem letzten Buch »Die Angst vor den anderen – ein Essay über Migration und Panikmache« zwei verschiedene Reaktionen auf das massenhafte Auftauchen von Fremden unterschieden. In den gentrifizierten Rucola- und Smoothie-Bezirken der Großstädte treffe man auf »Mixophilie«, das heißt eine Vorliebe für vielfältige, heterogene Umgebungen, gepaart mit der Lust auf neue Erfahrungen und Abenteuer; bei den Verlierern der Globalisierung eher auf »Mixophobie«, das heißt die Angst vor der Vermischung und dem Einbruch des Unvertrauten ins Reich des Gewohnten. Didier Eribon hat dieses Phänomen in seinem Buch »Rückkehr nach Reims« auf den Punkt gebracht. »Man merkt schon, wo du wohnst. In deinen Vierteln gibt’s so was nicht«, antwortet die Mutter des linken und »mixophilen« Soziologen auf dessen Frage, warum sie den Front National wähle.
In Oskar Negts gerade erschienener Autobiographie »Überlebensglück« spielen die Überlegungen des in den USA geborenen und später nach Israel emigrierten Medizinsoziologen Aaron Antonovsky eine wichtige Rolle. Dieser hat in seinem Buch »Salutogenese« Faktoren benannt, die für die Aufrechterhaltung der menschlichen Gesundheit von Bedeutung sind. Es geht vor allem um das Gefühl der Kohärenz, das er als zentrale Voraussetzung von Gesundheit bezeichnet und das auf guten Beziehungserfahrungen basiert. Negt fasst Antonovsky wie folgt zusammen: »Zur Kohärenz gehören drei Aspekte: die Fähigkeit, die Situation, in der man sich befindet, und die Zusammenhänge zu verstehen – also das Gefühl der Verstehbarkeit; weiterhin die Überzeugung, dass man das eigene Leben gestalten kann – das Gefühl der Handhabbarkeit sowie schließlich der Glaube, dass das Leben einen Sinn hat – das Gefühl der Sinnhaftigkeit.« Ein intaktes Gefühl von Kohärenz hält die Angst im Zaum, die die Grundlage der meisten psychischen Erkrankungen ist.
Wenn wir uns vor Augen halten, wie es gegenwärtig für viele Menschen um die Verstehbarkeit ihrer Lage, um die Möglichkeit, ihr Leben aktiv zu gestalten und als mit Sinn erfüllt zu erleben, bestellt ist, wird klar, dass sie unter inkohärenten, Angst auslösenden und krankmachenden Bedingungen zu leben gezwungen sind. Statt Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit erfahren sie Kontrollverlust, Hilflosigkeit, Ohnmacht und ein Gefühl des Ausgeliefertseins. Sie erleben sich als Anhängsel intransparenter finanzieller Abstraktionen und anonymer Superstrukturen und spüren, dass es auf sie und ihre Motive überhaupt nicht ankommt.
Auf ihrem Gipfelpunkt scheint sich die Konzentration der ökonomischen Macht in Anonymität zu verwandeln. Die Menschen wissen nicht mehr, wen sie für ihr Unglück verantwortlich machen und gegen wen sie ihre berechtigte Wut richten sollen. In ihrem Roman »Reisende auf einem Bein« lässt Herta Müller ihre Protagonistin, die ebenso wie die Autorin aus Rumänien in die Bundesrepublik emigriert war, sagen: »In dem anderen Land habe ich verstanden, was die Menschen so kaputtmacht. Die Gründe lagen auf der Hand. Es hat sehr weh getan, täglich die Gründe zu sehen. Und hier, sagte Irene. Ich weiß, es gibt Gründe. Ich kann sie nicht sehen. Es tut weh, täglich die Gründe nicht zu sehen.«
Auf der Basis dieser verbreiteten Erfahrung wächst die Anziehungskraft populistischer Vereinfachungen und Verschwörungstheorien. »Die Bösen sind wir los, das Böse ist geblieben«, hat der Sozialpsychologe Peter Brückner geschrieben. Verschwörungstheorien bieten den Vorteil, dass »das Böse« pseudologisch aus seiner Anonymität herausgeholt wird und man am Ende den oder die Bösen präsentiert bekommt.
Wo Veränderungen und Wandlungen epochalen Ausmaßes geschehen, wie in den letzten Jahrzehnten im Kontext der auf die Mikroelektronik gestützten dritten industriellen Revolution, entsteht eine Diskrepanz zwischen dem gewaltigen Überhang an veränderten Verhältnissen und der Innenausstattung und Lernfähigkeit der Menschen. Das subjektive Verarbeitungsvermögen vieler hinkt den objektiven Umbrüchen hinterher. Die Art und Weise, wie sie gelernt haben, ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen zu organisieren, taugt nicht länger zur Erfassung vieler neuartiger Phänomene.
Die Menschen fallen aus ihrer gewohnten Ordnung und machen massenhaft eine Erfahrung, die der Schriftsteller Alexander Kluge als »Sinnentzug« beschrieben hat. Darunter versteht er »eine gesellschaftliche Situation, in der das kollektive Lebensprogramm von Menschen schneller zerfällt, als die Menschen neue Lebensprogramme produzieren können«. Die Synchronisation von Identitäts- und Realitätsstruktur, die sich während ruhigerer Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung herstellt und den Individuen das Gefühl der Kohärenz ermöglicht, geht verloren. Bisher gut angepasste Menschen haben das Gefühl, dass der Film der äußeren Realität schneller läuft als der innere Text, den sie dazu sprechen. Sie fühlen sich aus ihrer Ordnung der Dinge katapultiert, desorientiert, entwirklicht und werden von der Angst heimgesucht, eines nicht mehr fernen Tages vollends aus der Welt zu fallen. Nach der im Namen des Neoliberalismus betriebenen Schleifung des Sozialstaats stellt sich für viele die Frage: Welche Netze sind imstande, diesen Sturz aufzufangen? Wenn die Unübersichtlichkeit eskaliert und die symbolische Ordnung der Welt durch ein Übermaß fremder, unverständlicher Bedeutungen zu erodieren droht, beginnen die Menschen von der Gartenlaube zu träumen. Wie im Nähkästchen der Großmutter liegt dort alles an Ort und Stelle. Im Dämmerlicht des Kerzenscheins wird aus der bürgerliche Kälte die heimelige Wärme der »Volksgemeinschaft«.
In vielen Strömungen und Bewegungen der Gegenwart artikulieren sich Bedürfnisse nach Nichtveränderung: Es soll endlich mal alles so bleiben, wie es ist. Solche regressiven Sehnsüchte werden traditionell von der politischen Rechten aufgegriffen und mit rückwärtsgewandten Konzepten beantwortet. Es sind faschistische Rattenfänger, die den herumliegenden Angstrohstoff aufsammeln und für ihre Ziele missbrauchen. Aber sind diese Sehnsüchte schon per se rechts konnotiert? Sind nicht auch andere, linke Formen des Umgangs mit diesen Leidenserfahrungen möglich und denkbar?
Kältestrom« und »Wärmestrom«
Der Philosoph Ernst Bloch hat in seinem Buch »Erbschaft dieser Zeit« der Weimarer Linken, vor allem den Kommunisten, den Vorwurf einer »Unterernährung an sozialistischer Phantasie« gemacht. Die Linke habe allzu vieles dem Feind überlassen, dem der Missbrauch dieser Themen leichtgemacht wurde, »weil die echten Revolutionäre hier nicht Wache gestanden haben«. Die linke Propaganda sei vielfach kalt, schulmeisterlich und ökonomistisch gewesen. Während die Rechten in Bildern und Metaphern schwelgten, die der Phantasie der Menschen Nahrung boten, langweilten die Linken mit dem sturen Ableiern von Parolen: »Nazis sprechen betrügend, aber zu Menschen, die Kommunisten völlig wahr, aber nur von Sachen. Die Kommunisten strapazieren oft gleichfalls Schlagworte, aber viele, aus denen der Alkohol längst heraus ist und nur Schema drinnen. Oder sie bringen ihre richtigen Zahlen, Prüfungen, Buchungen denen, die den ganzen Tag über mit nichts als Zahlen, Buchungen, Büro und Trockenarbeit verödet werden, also der gesamten ›Wirtschaft‹ subjektiv überdrüssig sind.«
Die auf die Entlarvung ökonomischer Widersprüche fixierte Linke geriet in den Bann des »Kältestroms«, der von der kapitalistischen Ökonomie ausgeht, und vernachlässigte den »Wärmestrom«, der das ist, was die Phantasie anregt, die Menschen berührt und antreibt. Die Vorstellungen von der Revolution waren blutleer und abstrakt; manchmal schien es, als wollte man sie nur vollziehen, um den historischen Materialismus durchzusetzen, wie Brecht einmal bissig bemerkte. Der Triumph des Faschismus resultierte in Blochs Wahrnehmung auch aus der Unfähigkeit der sozialistischen und kommunistischen Linken, die unglücklichen, hungrigen – sinnhungrigen! –, ohne Ziel umherirrenden Menschen satt zu machen: »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, besonders wenn er keines hat.«
Lebte Ernst Bloch noch, würde er der heutigen Linken empfehlen, sich um emanzipatorische Aneignungsformen aktueller Leidenserfahrungen zu bemühen und den Begriff »Heimat« der nostalgischen Rechten abspenstig zu machen, die ihn betrügerisch ausschlachtet. Das Leiden der Menschen unter dem ruinösen Prinzip des technischen Fortschritts ist massenhaft vorhanden, aber es ist in den psychischen Untergrund gedrängt, wo es sich in ein chiffriertes, körpersprachliches Ausdrucksgeschehen verwandelt, mit dessen Bearbeitung rechte und esoterische Scharlatane befasst sind. Die gegenwärtigen Ausdrucksweisen des »großen Unbehagens« aufzunehmen und ihre gesellschaftliche Verursachung kenntlich zu machen, wäre Aufgabe der heutigen Linken.
Linker Fortschrittsglaube
Warum tut sich die Linke mit der Aneignung der angedeuteten Leidenserfahrungen so schwer? Weil sie kein Sensorium für die Leiden der Menschen unter dem besitzt, was man euphemistisch »Fortschritt« nennt und was doch in Wahrheit nichts anderes ist als der fortdauernde Schrecken der kapitalistischen Industrialisierung. Der real gewordene Sozialismus des vergangenen Jahrhunderts und der Kapitalismus wachsen auf demselben Grund. Sie basieren auf dem gleichen Typus instrumenteller Rationalität und weisen das gleiche Raubbauverhältnis zur inneren und äußeren Natur auf. Die Natur ist ihnen Konterpart und bloßes Material.
Eine der Urszenen der linken Fortschrittsgläubigkeit ist uns durch Wilhelm Liebknecht überliefert. Auf dem Sommerfest des Londoner Kommunistischen Arbeiterbildungsvereins begegnet er 1850 der Familie Marx. Über sein Gespräch mit Marx berichtet er: »Bald waren wir auf dem Gebiet der Naturwissenschaft, und Marx spottete der siegreichen Reaktion in Europa, welche sich einbildete, die Revolution erstickt zu haben und die nicht ahne, dass die Naturwissenschaft eine neue Revolution vorbereite. Der König Dampf, der im vorigen Jahrhundert die Welt umgewälzt, habe ausregiert, an seine Stelle werde ein noch ungleich größerer Revolutionär treten: der elektrische Funke. Und nun erzählte mir Marx, ganz Feuer und Flamme, dass seit einigen Tagen in Regent’s Street das Modell einer elektrischen Maschine ausgestellt sei, die einen Eisenbahntrain ziehe. ›Jetzt ist das Problem gelöst – die Folgen sind unabsehbar. Der ökonomischen Revolution muss mit Notwendigkeit die politische folgen, denn sie ist nur deren Ausdruck.‹ In der Art, wie Marx diesen Fortschritt der Wissenschaft und der Mechanik besprach, trat seine Weltanschauung und namentlich das, was man später als die materialistische Geschichtsauffassung bezeichnet hat, so klar zutage, dass gewisse Zweifel, die ich bisher noch gehegt hatte, wegschmolzen wie Schnee in der Frühlingssonne.«
In dieser simplifizierten und kruden Form ist der historische Materialismus während der Zweiten Internationale unters Volk und in die Arbeiterbewegung gekommen. Die Geschichte und der technische Fortschritt werden uns wie auf einer Rolltreppe nach oben in eine lichte Zukunft tragen. Der Sozialismus schrumpfte darauf zusammen, die Produktivkräfte von ihren bürgerlichen Fesseln zu befreien und der ökonomischen Vernunft vollends zum Durchbruch zu verhelfen. Aber am Ende blieb von Lenins Formel, Kommunismus sei »Sowjetmacht plus Elektrifizierung«, nur die Elektrifizierung.
Wenn wir uns in den Stand setzen wollen, das Leiden der Menschen am kapitalistischen Fortschritt aufzugreifen und dies nicht den Rechten zu überlassen, müssen wir die Bindung des Sozialismus an das Leistungsprinzip und seine Werte kritisch hinterfragen und den Fetischismus der Produktion und der Technik überwinden. Das niedergedrückte und an der Entfaltung gehinderte Leben bildet Schattenräume, in denen Träume, Wünsche und Sehnsüchte entstehen, die die Linke nicht einfach als irrational abtun und ignorieren darf. Es sind Wünsche nach Glück, Solidarität, Würde, menschlichen Zeitmaßen und Stille; Träume von Heimat, aufgehobener Entfremdung und einem Leben ohne stupide Plackerei und versklavenden Konsum.
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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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