Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
Gegründet 1947 Sa. / So., 21. / 22. Dezember 2024, Nr. 298
Die junge Welt wird von 3005 GenossInnen herausgegeben
Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025 Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
No G20

No G20

Hamburg empfing am 7. und 8. Juli 2017 Staatschefs und Vertreter der EU zum G-20-Gipfel der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer. Sie erwartete eine große und kreative Protestbewegung.

  • · Berichte

    Aufklärung des G-20-Einsatzes verlangt

    Diskussionsveranstaltung von ATTAC in Frankfurt am Main zu Provokationen der Polizei
    Gitta Düperthal
    G20_Gipfel_Protest_54010183.jpg
    Eine verletzte Demonstrantin wird im Hamburger Schanzenviertel behandelt (8. Juli)

    Die Gegenöffentlichkeit soll nicht zu groß werden. Diesem Zweck diene die derzeitige Debatte über linke Gewalt, die von Politikern, Medien und Polizei nach den Protesten gegen den G- 20-Gipfel befeuert werde. Das sagte Dirk Friedrichs, Mitglied des Koordinierungskreises von ATTAC, am Freitag abend in Frankfurt am Main. Zur »Rückblende G 20« hatte Friedrichs in den Club Voltaire geladen. Er sehe keinen Grund, sich von der Gewalt zu distanzieren, so Friedrichs. Das breite Protestbündnis aus linken, kirchlichen und gewerkschaftlichen Gruppen, dem auch das globalisierungskritische Netzwerk angehörte, sei schließlich friedlich geblieben.

    Er selbst habe im vor der großen Demonstration am 8. Juli – 76.000 Menschen beteiligten sich daran – mit Aktivisten diskutiert, die später im sogenannten schwarzen Block mitliefen. Dabei sei geklärt worden, dass sie mitdemonstrieren, aber keine Gewalt anwenden sollen. »Das hat sich bewährt, alle haben sich daran gehalten«, so Friedrichs. »Wir hatten das Gewaltproblem im Griff, nur die Polizei nicht.«

    In der folgenden Debatte wurde auch die Rolle der auf dem G-20-Gipfel anwesenden Politiker erörtert. Von diesen ginge Gewalt aus, denn sie stützten ein Wirtschaftssystem, das zu mehr Hunger, Flucht und Umweltzerstörung führe, so einer der Teilnehmer. Widerstand dagegen sei legitim. Der Polizei müsse man vorhalten, dass sie sich zunehmend dazu benutzen lasse, die Regierungsmeinung durchzusetzen. Das Versammlungsrecht der Bürger schütze sie hingegen kaum.

    Weitgehend einig waren sich die Anwesenden darin, dass die Eskalation seit dem Beginn der Protesttage von der Polizei provoziert worden sei. Die darauf folgende, von konservativen Politikern angestoßene Debatte sei gefährlich, zumal die Schuld für Gewalt ausschließlich den Linken angehängt werde. So solle berechtigte Kritik an der Regierung delegitimiert werden.

    Der Protest von annähernd 100.000 Menschen werde überdies aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt, sagte Friedrichs. Hamburger hätten überall in der Stadt »No G 20«-Aufkleber angebracht. Gegen den Gipfel habe es zahlreiche Aktionen gegeben, etwa das Bemalen der Fenster der Deutschen Bank mit abwaschbaren Kalkfarben – so sollte auf die intransparenten Strukturen des Finanzinstituts hingewiesen werden – oder die Sitzblockaden, die eine Teilnahme von Melania Trump am G-20-Programm verhinderten.

    Ähnlich aggressiv wie in Hamburg sei die Polizei gegen die »Blockupy«-Proteste in Frankfurt am Main vorgegangen. 2015 war gegen die Eröffnung des Hauptsitzes der Europäischen Zentralbank demonstriert worden. Die Schwelle zum Polizeistaat sei niedrig, sagte der Frankfurter Dokumentarfilmer Martin Keßler, der seit mehr als zehn Jahren die Entwicklung der sozialen Bewegungen und ihrer Kämpfe in seinem Langzeitfilmprojekt »Neue Wut« verfolgt. Derzeit plant er einen neuen Film über die Hamburger Proteste unter dem Namen »Reise in den Herbst«. Dabei vertritt er die These, dass die Politik in der Bundesrepublik deutlich nach rechts rücke. Er habe bei der Demonstration am 8. Juli miterleben müssen, wie Polizisten mitten in den Protestzug stürmten, weil einige Teilnehmer sich vermummt hatten. Dies sei aber nur eine Ordnungswidrigkeit. Ihn selbst, der sichtbar als Pressevertreter gekennzeichnet war, hätten die Beamten überrannt.

    Die Geschehnisse in Hamburg müssten aufgearbeitet werden, sagte auch Hans Möller vom Frankfurter ATTAC-Koordinierungskreis. Die Polizei sei Teil des staatlichen Gewaltmonopols, sie müsse deshalb für ihre falsche Taktik deutlich kritisiert werden. Die Forderung wurde von anderen Anwesenden wiederholt. Teil der Aufarbeitung müsse auch sein, zu untersuchen, aus welchem Umfeld sich die Polizei rekrutiere.

  • · Hintergrund

    Großer Erfolg

    Anmerkungen zu den Protesten gegen den G-20-Gipfel
    Florian Wilde
    RTX3AMFM.jpg
    Grenzenlos solidarisch. Mindestens 76.000 Menschen demonstrierten am Sonnabend, dem 8. Juli, in Hamburg gegen den G-20-Gipfel. In der Bundesrepublik war dies der bisher größte Protest gegen eine ­solche Zusammenkunft von Staats- und Regierungschefs

    Die Bilder der gewalttätigen Auseinandersetzungen, die die Berichterstattung über die Proteste gegen den Hamburger G-20-Gipfel prägten und nun für eine breitangelegte Kampagne gegen die gesamte Linke instrumentalisiert werden, dürfen nicht vergessen machen, dass die Proteste ein großer Erfolg waren. Trotz wochenlanger medial befeuerter Angstmache und trotz der Einschüchterung durch einen Polizeistaat ist es gelungen, den größten Protest gegen ein solches Spitzentreffen in der deutschen Geschichte zu organisieren und Zehntausende auf die Straße zu bringen. Die Demonstration »Grenzenlose Solidarität statt G 20« am Samstag, dem 8. Juli, mit 76.000 Teilnehmern, wie die Veranstalter angaben (die Hamburger Morgenpost zählte sogar 100.000) war die größte in Hamburg seit mehr als 30 Jahren.

    Tausenden Aktivisten war es einen Tag zuvor gelungen, Zufahrtswege zum Gipfel zu blockieren und den Ablauf der Tagung zumindest punktuell – leider nicht umfassend – zu stören. Etwa 1.000 hatten an jenem Freitag im Hafen demonstriert, rund 2.000 zogen unter dem Motto »Jugend gegen G 20« zeitgleich durch die Innenstadt. Bis zu ihrer Zerschlagung durch die Polizei hatten sich am Donnerstag zur antikapitalistischen »Welcome to Hell«-Demonstration bereits 12.000 Menschen versammelt; hätten sie weiterziehen können, wäre die Menge sicher auf mehr als 20.000 angewachsen. So viele waren es jedenfalls am Mittwoch zuvor gewesen, die bei »Lieber tanz’ ich als G 20« gegen den Gipfel ravten, nachdem am Dienstag bereits Tausende gegen den Gipfel »gecornert« hatten. Rund 2.500 Teilnehmer hatten am Mittwoch und Donnerstag den alternativen »Gipfel für globale Solidarität« besucht und mit Gästen aus aller Welt inhaltliche Kritik an der offiziellen Zusammenkunft diskutiert. Etwa 10.000 waren bereits am Sonntag, dem 2. Juli, dem Aufruf zur »G 20 Protestwelle« gefolgt. Die breite Ablehnung war in den Stadtteilen rund um die Messehallen deutlich sichtbar: Überall hingen Anti-G-20-Transparente aus den Fenstern, zahllose kleine Läden hatten ihre Schaufenster und Scheiben gegen den Gipfel dekoriert. Nachdem sich abgezeichnet hatte, dass der Senat keine Camps zulassen würde, solidarisierten sich etliche Hamburger mit den Protestierenden und boten ihnen Gästezimmer, Vorgärten und Lauben zur Übernachtung an.

    Eine Woche lang waren Tausende Aktivisten in fieberhafter Anspannung im Dauereinsatz, kämpften politisch um Camps, bereiteten zahllose Aktionen vor, demonstrierten und blockierten. Es war eine ganz beglückende Erfahrung, wie wenig sie sich dabei von der allgegenwärtigen polizeilichen Repression einschüchtern ließen. Eine authentische soziale Bewegungsdynamik durchbrach alle langweiligen Routinen linker und parlamentarischer Politik. Es war in vielem eine ganz wunderbare Woche.

    Der Spaltung getrotzt

    In der gegenwärtigen Inszenierung einer globalen Polarisierung zwischen neoliberaler Mitte und Rechtspopulismus waren linke Alternativen in den letzten Monaten nur selten sichtbar. Mit dem Protest konnte dieser Unsinn ad absurdum geführt werden und ein weltweit wahrnehmbares Signal für die Existenz und Lebendigkeit einer antikapitalistischen Linken gegeben werden. Doch dieser Erfolg soll nach dem Willen der herrschenden Meinung, die noch immer die Meinung der Herrschenden ist, keine Anerkennung finden. In der Absicht, von der eigenen Verantwortung für die Eskalation in Hamburg abzulenken, versuchen SPD und CDU, unterstützt von etlichen Medien, nun mit aller Macht, die Krawalle im Schanzenviertel und in Altona gegen die zahlreichen Aktivitäten auszuspielen, und sprechen fast ausschließlich von der Randale anstatt über den Massenprotest. Demgegenüber gilt es, auf die eigenen Erfolge zu verweisen und die Hauptverantwortlichen für die Eskalation zu benennen: Senat und Polizei.

    Im Vorfeld des G-20-Gipfels war immer wieder versucht worden, das Protestbündnis zu spalten – leider erfolgreich. Zunächst hatten sich namhafte Nichtregierungsorganisationen wie Campact, der Naturschutzbund und der WWF, außerdem der DGB aus Angst vor möglichen Krawallbildern verabschiedet und für Sonntag vor dem Gipfel zu einer eigenen Veranstaltung, der »Protestwelle«, mobilisiert. Dann haben auch die Grünen das Bündnis verlassen und parallel zur Großdemonstration mit der SPD zur Veranstaltung »Hamburg zeigt Haltung« aufgerufen. Die Abspaltungen waren eine politische Niederlage und durchaus gefährlich: Rechts von der Partei Die Linke und Attac brach fast das ganze Spektrum weg. Die gesamte Mobilisierung nach Hamburg wurde durch diese Manöver deutlich geschwächt.

    Die »Protestwelle« brachte schließlich mit großem finanziellen Aufwand gerade einmal 10.000 Menschen auf die Straße. Bei »Hamburg zeigt Haltung« sollen es sogar nur knapp 6.000 gewesen sein – gegenüber der mehr als zwölffachen Menge auf der Großdemo, die völlig friedlich verlief und bei der sich alle Bündnispartner an die Absprachen hielten. Es war zugleich eine sehr dynamische und kämpferische Demonstration. Massenhaft wurde auf ihr das Verbot der Symbole der kurdischen Freiheitsbewegung ignoriert. Fahnen der PKK wurden offen und sogar auf der Bühne der Abschlusskundgebung gezeigt, tausende von YPG-Fähnnchen prägten das Bild ganzer Blöcke. Gerade in Anbetracht der durch Spaltung, Verbote und Angstmacherei sehr erschwerten Bedingungen ist dem linken Lager in Deutschland ein beachtlicher Mobilisierungserfolg gelungen. Blamiert stehen hingegen die spaltenden Großorganisationen mit ihren Kleinprotesten da.

    Es war immer klar gewesen: Wer eine solche Tagung ausrichtet, der holt sich die Gewalt in die Stadt. Die Entscheidung für Hamburg als Austragungsort des G-20-Gipfels war auch eine Entscheidung für die in der Hansestadt heftigsten Riots seit Jahren. Denn Vermummte, die Scheiben einschlagen und Autos anzünden, traten seit der WTO-Konferenz in Seattle 1999 bei fast allen großen Protesten gegen Zusammenkünfte solchen Formats in Erscheinung.

    Das vorhersehbare Problem

    Nach Hamburg kommen zu wollen, das hatten entsprechende Gruppierungen schon frühzeitig angekündigt: Bereits Monate vor dem Gipfel gab es eine wahrnehmbare »militante Mobilisierung«, vor allem von anarchistisch-insurrektionalistischen sowie neomaoistischen Zusammenhängen. Und absehbar war auch, dass es während des Gipfels in der Schanze »knallen« würde: Ziemlich regelmäßig kommt es dort im Anschluss an Demonstrationen und Stadtteilfeste zu Auseinandersetzungen mit der Staatsgewalt. Allerdings waren auch nach Polizeiangaben zum »schwarzen Block« auf die Demo am Donnerstag höchstens 2.000 statt der angekündigten 8.000 als »gewaltbereit« klassifizierten »Linksextremisten« gekommen. Die Chancen für einen relativ friedlichen Protest gegen den Gipfel standen also überraschend gut. Es waren der Senat mit einer de facto Verhängung des Ausnahmezustands und die Polizei selbst mit völlig überzogenen Repressionen, die die Stimmung tagelang immer weiter aufheizten und dadurch viel dazu beitrugen, dass es dann doch noch zu Ausschreitungen kam.

    Für Protest gegen solche Zusammenkünfte in einer Großstadt fielen sie nicht ungewöhnlich heftig aus – da gab es beim G-8-Gipfel in Genua 2001 ganz andere Szenen. Tatsächlich traten – allerdings offensichtlich relativ kleine – organisierte Gruppen in Erscheinung, die gewalttätigen Formen der Auseinandersetzung politisch viel abgewinnen können und diese daher auch gezielt anstreben. Vermutlich hätten sie dies unabhängig vom Verhalten der Staatsgewalt getan. Dass sich aber neben bestenfalls rudimentär politisierten Jugendlichen, die einfach »Bock auf Action« hatten, sowie zahlreichen betrunkenen Schanzegängern auch Menschen an den Ausschreitungen beteiligten, die eigentlich für einen friedlichen Protest angereist waren, hat sehr viel mit dem Agieren des Senates in den Tagen zuvor zu tun: Die heftige Gewalterfahrung legitimierte in den Augen nicht weniger auch eine gewalttätige Antwort.

    Schaufensterscheiben kleiner Geschäfte einzuschlagen oder Kleinwagen anzuzünden ist indes wahrlich kein antikapitalistischer Akt, sondern schlichtweg bescheuert, Feuer in Läden zu legen verantwortungslos. Der Riot war weitgehend sinnentleert und damit unpolitisch, Parteien und Medien fiel es auf diese Weise leicht, den gesamten Protest und überhaupt linke Politik zu diskreditieren.

    RTX3ACFP.jpg
    Grenzenlos brutal: Polizeigewalt hat es nach Meinung von Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz nicht gegeben. Dabei berichten etliche Augenzeugen und belegen zahlreiche Videos, wie ­rücksichtslos die hochgerüstete Beamte gegen Demonstranten vorgegangen sind

    Zum Glück standen die Ereignisse weder zeitlich noch geographisch und politisch in einem erkennbaren Zusammenhang mit den organisierten Protesten, so dass weder dem Bündnis, noch der Linkspartei, noch den organisierten Postautonomen der Interventionistischen Linken irgendeine Verantwortung für diese Ausschreitungen unterstellt werden konnte. Und daher gibt es auch keinen Grund, sich davon zu distanzieren: Man kann sich nur von Ereignissen, Maßnahmen, Gruppierungen etc. distanzieren, zu denen eine Nähe besteht. Die gab es ganz einfach nicht. Gleichwohl sind die Ausschreitungen zu verurteilen, weil sie kein zielführendes Mittel der politischen Auseinandersetzung sind, sondern dem Protest insgesamt erheblich geschadet haben. Die wieder und wieder gezeigten Aufnahmen von lodernden Feuern haben die Bilder des Massenprotests und des zivilen Ungehorsams völlig verdrängt, und noch im Nachgang des Gipfels wird die dringend notwendige Diskussion über die strukturelle Gewalt der G 20, über Polizeiübergriffe und Grundrechtsverletzungen von der Aufregung über »linke Gewalt« blockiert. Und dennoch sollte man die sozialen und politischen Ursachen in den Blick nehmen, die dazu führen, dass Menschen Steine auf Polizisten werfen oder Supermärkte plündern. Nun wird in völlig absehbarer und höchstens in der Heftigkeit unerwarteter Weise von SPD/CDU/AfD und vielen Medien versucht, der gesamten Linken die Schuld in die Schuhe zu schieben. Diesem Generalangriff gilt es standzuhalten – auch, indem auf die Mitverantwortung von Polizeiführung und Senat an der Eskalation hingewiesen wird.

    Der Polizeistaat

    Tatsächlich unvorbereitet traf etliche Gipfelgegner das Ausmaß der Polizeirepression. Dabei hätte die Ernennung von Hartmut Dudde zum Einsatzleiter allen eine Warnung seien müssen: Wie wohl kein anderer steht der Zögling des ehemaligen Hamburger Rechtsaußen-Senators Ronald Schill für Rechtsbrüche im Amt, für die berüchtigte repressive »Hamburger Linie« und für ein brutales Vorgehen auch gegen friedliche Demonstrationen.

    Bereits kurz vor der eigentlichen Gipfelwoche hatte die Polizei die Stimmung mit Hausdurchsuchungen bei Aktivisten, die in einem Taz-Interview Straftaten gerechtfertigt haben sollen, kräftig angeheizt. Es folgten die rüde durchgesetzten Campverbote. Die Polizei ging dabei nicht nur überaus brutal vor, sondern sie setzte sich auch eiskalt über Gerichtsentscheidungen hinweg. Viele konnten sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Exekutive die Urteile der Judikative schlicht scheißegal waren. Und viele empfanden die Verbote als Verletzung des Grundrechtes auf Versammlungsfreiheit. Die Polizei griff mehrfach Journalisten an, ignorierte Gerichtsentscheidungen und schlug immer wieder und offensichtlich auch wahllos Menschen zusammen. Die ganze Woche über heizte die Repression die Stimmung an und trieb viele Leute in eine verzweifelte Wut. Der aus vielen Tausend Kehlen erklingende Ruf »Ganz Hamburg hasst die Polizei!« wurde zum wohl meistskandierten Slogan.

    Manchen erschienen die Autonomen in dieser Situation sogar als Verteidiger des Rechtsstaates gegenüber der Polizei. So war in einem Kommentar des ARD-Magazin »Panorama« am 5. Juli zu lesen: »Nun also: wilde Protestcamps überall in der Stadt gegen eine Polizei, die nicht vor einem Rechtsbruch zurückschreckt. Der Frontverlauf also offenkundig: Gut gegen Böse – besser kann man die militante Szene nicht unterstützen. Aus selbstgerechten Krawalltouristen sind die Retter des Rechtsstaats geworden. Danke, Polizei Hamburg!«

    Am 6. Juli ließ die Polizeiführung – sicherlich mit politischer Rückendeckung des Senates – die bis dahin völlig friedliche »Welcome to Hell«-Demonstration wegen ein paar Vermummten noch vor dem Loslaufen so brutal zerschlagen, dass man froh sein konnte, dass nicht noch schlimmere Folgen eintraten. Die gewaltsame Auflösung einer angemeldeten, genehmigten und friedlichen Versammlung ist der eigentliche politische Skandal und erinnerte an das Vorgehen in autoritären Regimen. Die große Mehrheit der Protestierenden reagierte allerdings sehr besonnen. Dass sich so viele Menschen engagiert gegen die zeitweilige Errichtung eines Polizeistaates und gegen staatliche Anschläge auf Demokratie und Versammlungsfreiheit wehrten wie in der Hamburger Protestwoche, sollte jedem Demokraten Grund zur Freude sein. Die von der Staatsgewalt ausgehenden Attacken auf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit während der Gipfelwoche müssen aufgearbeitet werden. Auch, weil sie ganz erheblich zur Eskalation am Freitag beitrugen.

    Angriff ist die beste Verteidigung

    Bei dem Generalangriff auf die gesamte Linke tut sich insbesondere die SPD hervor – aus sehr durchsichtigen Motiven: Damit niemand mehr über die von ihr mitverantworteten Grundrechtsverletzungen und Polizeiübergriffe spricht, klagt sie in geradezu hysterischer Weise die Partei Die Linke als »parlamentarischen Arm des schwarzen Blocks« an. Die Rote Flora wird mit Räumung bedroht, dem Gängeviertel soll Fördergeld gestrichen werden, die radikale Linke von ihren gesellschaftlichen Bündnispartnern isoliert werden.

    Das politisch-mediale Trommelfeuer wird noch eine Weile andauern, sich dann aber wieder legen, so wie die Rauchschwaden über der Schanze verzogen sind. Vielleicht tauchen Belege auf, dass auch dieses Mal wieder Zivilpolizisten und V-Leute des Verfassungsschutzes an den Krawallen beteiligt waren – so könnte die Debatte eine andere Richtung bekommen. All das ist schwer abzusehen.

    Klar ist lediglich, dass in der jetzigen Situation nur Standfestigkeit und Offensive helfen. Unter umgekehrten Vorzeichen wäre auf die Taktik zurückzugreifen, die auch die SPD anwendet: Angriff ist die beste Verteidigung. Die Partei die Linke etwa hat sich überhaupt nichts vorzuwerfen. Von Anfang an war sie als einzige Partei gegen den G-20-Gipfel in Hamburg als Austragungsort. Alle Aktionen, die von dem Bündnis, an dem Die Linke beteiligt war, vorbereitet wurden, verliefen so, wie sie angekündigt waren: entweder völlig friedlich, oder es gab kleinere Regelverletzungen durch zivilen Ungehorsam.

    Wir sollten auf die Verantwortlichen verweisen und Konsequenzen fordern. Die Partei Die Linke hat bereits den Rücktritt von Innensenator Andy Grote verlangt. Auch Olaf Scholz müsste seinen Hut nehmen: Wer angemeldete und friedliche Demonstrationen brutal zerschlagen lässt, wer das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit missachtet, wer die Sicherheit von Despoten über die Sicherheit der eigenen Bürger stellt, sollte nicht länger im Amt bleiben. Es ist alles dafür zu tun, dass öffentlich über den Erfolg des Großprotestes gesprochen wird – und zugleich über das polizeistaatsartige Vorgehen gegen die Proteste. Laut von Spiegel Online veröffentlichtem »Wahltrend« vom 11. Juli findet ein Viertel der Befragten den Polizeieinsatz zu hart. In Hamburg dürften diese Zahlen noch weit höher liegen. Das Entsetzen über das Vorgehen der Polizei ist bis weit ins bürgerliche Milieu hinein groß. Die Partei Die Linke sollte jene Kraft sein, die diesem Entsetzen als sozialistische Bürgerrechtspartei politischen Ausdruck verleiht, die Demokratie und Grundrechte einfordert und deren Verletzung konsequent thematisiert.

    Nötig ist eine linke Gegenerzählung gegen die Mainstreammärchen. Eine Erzählung der Erfolge, die der Reduktion eines Massenprotestes auf Ausschreitungen entgegengehalten wird. Eine Erzählung, die Polizeigewalt und Grundrechtsverletzung skandalisiert. Eine Erzählung vom Scheitern der Gegenseite. Gegenwärtig lässt sich damit nur eine gesellschaftliche Minderheit erreichen – zu stark ist das Sperrfeuer von Medien und SPD/CDU/AfD. Doch der Protest gegen den Hamburger G-20-Gipfel kann der Partei Die Linke auch für die Bundestagswahl reichlich Rückenwind geben – wenn sie angesichts der Hetze des politischen Gegners nicht einknickt.

  • · Interviews

    »Gezielt gegen Staat und Polizei vorgegangen«

    Agenturfotograf hat organisierte Rechte bei den Auseinandersetzungen mit der Polizei um »G 20« enttarnt. Ein Gespräch mit Andreas Scheffel
    Christiane Hoffmann
    RTX3AOG3.jpg
    Ausschreitungen während des G-20-Gipfels in Hamburg (9. Juli)

    Sie haben im Umfeld des G-20-Gipfels fotografiert. Was ist Ihre auffälligste Beobachtung gewesen?

    Meine auffälligste Beobachtung machte ich auf dem Schulterblatt, nachdem Barrikaden errichtet worden waren. Da sind mir mehrere Kleingruppen aufgefallen durch ihre Artikulierung. Ein abfälliger Begriff wie »Zecken« ist für mich ein klarer Hinweis darauf, dass es sich nicht um Linksgruppierungen handelt, sondern dass rechte Gruppierungen zugange sind. Das war Lerchenstraße Ecke Schulterblatt (Straße in Hamburg, Ort der heftigsten Auseinandersetzungen am 7. und 8. Juli; jW).

    Man kann sich ja scherzhaft auch selbst als Zecke bezeichnen. Was macht Sie so sicher?

    Sie haben Parolen skandiert. Es gibt auch Gruppierungen aus der linken Szene in Frankreich, die »Ahu«-Rufe benutzen, mit denen man sich unter Hools anfeuert. Die aber, die dort den Ruf verwendeten, hatten zuvor deutsch gesprochen. Somit kann das klar differenziert werden. Es muss eine deutsche und rechte Hooliganszene gewesen sein. Später, infolge der Ausschreitungen, sind bei verschiedenen Personen die Vermummungen in den Halsbereich gerutscht, sodass ich die Gesichter wiedererkennen konnte. Einige Gesichter waren mir bekannt, ich konnte sie eindeutig zuordnen. Ich bin diesen Aktionskreisen dann weiter an der Hacke geblieben.

    Was geschah dann?

    Diese Personen haben aus dem Straßenbett Pflastersteine rausgeklopft und mitgenommen. Steinplatten wurden zerborsten auf dem Boden. Infolgedessen kamen über die Lerchenstraße ungefähr 60 bis 70 Beamte, BFE-Einheiten (Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit ähnlich »GSG 9«; jW). Die sind erst im oberen Drittel der Straße geblieben, haben regelrecht zugeschaut, wie die Personen die Steine rausgeklopft haben. Danach sind dann aber doch Polizeibeamte vorgestoßen in das Schulterblatt. Sie haben die Personen zunächst mal zurückgestoßen. Dann haben sie sich zurück in die Lerchenstraße bewegt. Infolgedessen kam es dann dazu, dass die Gruppen der rechten Szene die rausgeschlagenen Steine auf die Beamten geworfen haben. Es war geradezu ein Steinmeer, viele Beamte wurden getroffen. Das Ganze hat sich fünf- oder sechsmal wiederholt. Dann kam ein Wasserwerfer über die Lerchenstraße rein, wurde aber wieder zurückgezogen. Die Polizeitaktik ist mir unverständlich geblieben, die Verletzung weiterer Beamter hätte verhindert werden können.

    Über welchen Zeitraum haben sie die Leute am Stück beobachtet?

    Über vier Stunden.

    An welchem Tag war das?

    Das war am Freitag abend des G-20-Gipfels, also am 7. Juli 2017.

    Und das haben Sie auch dokumentiert?

    Ich bin international tätiger Foto- und Videojournalist für Nachrichtenagenturen und Nachrichtensender. Ich stecke derzeit im Abschluss der Recherche und der Analyse. Beim SWR habe ich bereits Kurzszenen gezeigt, wobei ich einen größeren Personenkreis klar zuordnen konnte. Ich habe die Analyse noch nicht komplett abgeschlossen.

    Es gab beim NSU-Prozess einen Zeugen, der ausgesagt hat, er sei »weder rechts noch links«, und er gehe einfach »dahin, wo es Spaß macht«. Haben Sie den Eindruck, dass das, was Sie beobachtet haben, dieser Klientel zuzuordnen ist?

    Nein. Ich bewege mich ja mit jahrelanger professioneller Erfahrung auf Demonstrationen, Großevents und Festivals. Mein Eindruck ist der, dass es nicht einfach damit abzutun ist, dass es Krawalltouristen oder Hools sind. Es waren echte Rechte sowie organisierte Gruppen, die dem rechten Spektrum zuzuordnen sind. Die sind europaweit organisiert, in Norditalien aktiv, in Frankreich und in Tschechien. Ich reise denen nach, um es zu dokumentieren.

    Wie bewerten Sie die Unterwanderung im Zusammenhang?

    Man müsste die Einsatzleitung und die Bundesregierung danach fragen. Aus meiner Sicht sind Abertausende Personen, die friedlich auf die Straße gegangen sind, um für ihre politische Meinung einzustehen, komplett in den Hintergrund geraten – und auch deren Forderungen sind dadurch verdrängt worden. Die politische Ausrichtung von Rechten ist ganz klar, dass gezielt gegen Staat und Polizei vorgegangen wird.

  • · Interviews

    »Wir waren auf allen Demos dabei«

    Queerfeministische Veranstaltungen im G-20-Camp Entenwerder konnten nicht ­stattfinden. Gruppen waren dennoch bei Protesten präsent. Gespräch mit Maggy Clausen*
    Lina Leistenschneider
    S 15web.jpg
    Kraftvoller queerfeministischer Block bei den Anti-G-20-Protesten am 7. Juli in Hamburg

    In den letzten Tagen stand insbesondere die Gewalt im Hamburger Schanzenviertel, von der auch kleine Geschäfte betroffen waren, im Mittelpunkt der Berichterstattung der bürgerlichen Medien über den G-20-Gipfel. Die inhaltliche Kritik der großen Mehrheit der friedlich Protestierenden an dem Treffen kam kaum noch vor. Im antikapitalistischen Camp in Entenwerder sollte es während der Protestwoche ein breit angelegtes Programm für rund 10.000 Teilnehmende geben. Wie war das Camp organisiert?

    Schon Monate vor dem G-20-Gipfel haben sich Delegierte aus Vorbereitungsgruppen zu verschiedenen Themenbereichen regelmäßig getroffen, um sowohl die Struktur als auch den Inhalt zu planen. Im Camp sollte es verschieden gekennzeichnete Areale, sogenannte Barrios, geben, darunter auch ein queerfeministisches.

    Was war das Ziel?

    Wir wollten mit dem Camp zeigen, dass eine andere Welt möglich ist. Ein Miteinander, antikapitalistisch, antipatriarchal, ökologisch, autonom und hierarchiefrei. Die Idee der Versammlung war es, Menschen aus diesem und aus anderen Ländern die Gelegenheit zu geben, von sich und ihren Kämpfen zu berichten. Das Programm galt uns als grober Rahmen.

    Welche Veranstaltungen waren denn konkret geplant?

    Die Gruppen haben zusammen ein 15seitiges Programm zu ihren jeweiligen Schwerpunkten ausgearbeitet. Darunter sollten beispielsweise Diskussionen zur Kritik am europäischen Grenzregime und am Modell der »G 20« sein. Es sollte Vorträge zum Widerstand gegen Atomkraft, zu Klimawandel und Kapitalismus geben. Auch das Werk von Karl Marx, insbesondere seine Kritik der politischen Ökonomie, sollte neu diskutiert werden. Und natürlich sollte es auch kulturelle Veranstaltungen und viel Musik geben.

    Was hatten die queerfeministischen Aktiven sich vorgenommen?

    Sie hatten zum Beispiel Frauen aus Mexiko eingeladen, Angehörige der 43 verschwundenen Studierenden, die bei ihrer Suche und Aufklärungsarbeit selbst kriminalisiert wurden. Sie wollten darüber einen Vortrag halten und von der sexuellen Gewalt in Mexiko berichten, die sie bei Verhören und im Knast erfahren mussten.

    Sollte das Erleben insbesondere von sexualisierter Gewalt auch sonst thematisiert werden?

    Ja. Wir hatten auch eine Awareness-Struktur (das Konzept der sogenannten Awareness bzw. Bewusstheit beinhaltet, dass es bei Veranstaltungen Ansprechpartner gibt, an die sich Personen wenden können, die sich durch andere diskriminiert oder ausgegrenzt fühlen. Für Betroffene gibt es auch Räume, die Schutz und eine Rückzugsmöglichkeit bieten; jW). Die Camp-Organisierung, die zu einem großen Teil aus Frauen bestand, hat sehr auf sprachliche Barrierefreiheit geachtet. Der Anspruch, antipatriarchal zu sein, war ebenso da wie der, antikapitalistisch zu sein.

    Kam es denn trotz der Repression durch die Polizei noch zu inhaltlichen Veranstaltungen?

    Eine Frau aus Russland wollte über die Situation von Queer- und Transgenderpersonen in Russland und Tschetschenien berichten. Nach dem Polizeiüberfall am 2. Juli hat sie dann tatsächlich am Montag noch etwas dazu im Camp erzählt.

    Wie lange hat die Camp-Organisierung in Entenwerder ausgehalten?

    Bis Mittwoch. Denn nachdem die kleinen Zelte am Sonntag abgeräumt worden waren, sind nur noch ungefähr 100 Leute geblieben. Der erhoffte große Zulauf blieb aus. Das große FLTI-Zelt (FLTI steht für Frauen, Lesben, Transgender, Intersexuelle; jW) wurde für alle zur Zuflucht.

    Wie hatten Sie sich das queerfeministische Barrio eigentlich vorgestellt?

    Wir wollten ein Areal mit FLTI-Schutzraum. Hierfür hatten wir große Zelte organisiert, darunter ein Plenumszelt mit offener Bühne für inhaltlichen Input und Kulturprogramm, einem Café und viel Zubehör für eine angenehme Atmosphäre.

    All das fand nicht statt. Wie war das für Sie?

    Super enttäuschend. Die unglaubliche Polizeigewalt hat uns überrascht, und es wurde klar, hier ist kein Platz für das Camp, das wir uns vorgestellt hatten.

    Hat die Polizei es also geschafft, den queerfeministischen Widerstand gegen »G 20« zu zerschlagen?

    Nein. Im Vorfeld hat es Aktionen wie gut sichtbare Transparente beim Internationalen Frauentag und beim Hafengeburtstag gegeben. Außerdem gab es das queerfeministische Radioballett am Rathausmarkt und diverse Vorträge auf Infoveranstaltungen.

    Der FLTI- und der queere Infopunkt waren während des Gipfels und an den Tagen zuvor sehr gut besucht. Für viele waren sie ein Ort zum Orientieren und Ausruhen. Wir waren auf allen Demos dabei, und immerhin gibt es jetzt einen queerfeministischen Reader gegen »G 20« in Hamburg. Die entstandene FLTI-Plenumsgruppe wird sich weiter treffen und hoffentlich eine starke Größe in Hamburg und darüber hinaus bleiben.

    Gibt es Pläne für die Zukunft?

    Wir haben viele Kontakte geknüpft, die »Gruppe der 20« bleibt auf der Tagesordnung, auch wenn ihr nächstes Treffen nicht in Hamburg stattfindet. Und alle Themen bleiben aktuell. Wir könnten uns zum Beispiel vorstellen, in naher Zukunft queerfeministische Camps vorzubereiten.

  • · Berichte

    Fake News aus Hamburg

    Sondersitzung zum G-20-Gipfel: Polizeieinsatzleiter präsentiert neue Zahl verletzter Beamter. Demo für Erhalt von linkem Zentrum
    Jana Frielinghaus, Lina Leistenschneider
    Demonstration_linker_54124338.jpg
    Abschlusskundgebung der Solidemo am Mittwoch abend vor dem linken Kulturzentrum Rote Flora in Hamburg

    Eine heftige Debatte und neue Horrormeldungen über angeblich fast 600 durch Demonstranten während des G-20-Gipfels in Hamburg verletzte Polizisten gab es am Mittwoch abend im Parlament der Hansestadt. Polizeivertreter malten vor den Mitgliedern des Innenausschusses der Bürgerschaft Kriegsszenarien aus, an denen man »um Haaresbreite vorbeigeschrammt« sei, so die Wortwahl von Michael Zorn, der für die Spezialkräfte zuständig war.

    Der Leiter des gesamten G-20-Einsatzes, Hartmut Dudde, behauptete, es seien zwischen dessen Beginn am 22. Juni und dem Ende am 10. Juli 592 Beamte »durch Fremdeinwirkung« verletzt worden. Das Nachrichtenportal Buzzfeed News hatte bereits vor einer Woche nachgewiesen, dass von offiziell 476 in diesem Zeitraum in Hamburg als verletzt gemeldeten Beamten die Hälfte schon vor dem 6. Juli gesundheitliche Beeinträchtigungen bekanntgegeben hatte. Bei einem Großteil der »Verletzungen« habe es sich zudem um Kreislaufprobleme und Dehydrierung oder beispielsweise um Beschwerden durch gegen Demonstranten eingesetztes Reizgas gehandelt. Buzzfeed News hatte alle 16 Landespolizeibehörden und die Bundespolizei zu den Verletzungsstatistiken befragt.

    Die Oppositionsfraktionen protestierten während der Sitzung gegen die umfänglichen Einlassungen von Dudde und Innensenator Andy Grote (SPD). Dudde habe »eins zu eins« seine umfänglichen Einlassungen während einer Pressekonferenz vor einer Woche wiederholt, ohne auf neue Daten einzugehen, monierte ein Teilnehmer aus der Linksfraktion am Donnerstag gegnüber jW. Auch der innenpolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Dennis Gladiator, kritisierte, Senator und Einsatzleiter spielten »auf Zeit«, um einer detaillierten Befragung zu entgehen. Für seine Frak­tion erklärte er, die CDU wolle an dieser Art der Sitzung nicht mit eigenen Fragen teilnehmen. Ähnlich äußerten sich auch die Ausschussmitglieder von Linkspartei und FDP. Christiane Schneider, innenpolitische Sprecherin der Linksfrak­tion, forderte am Donnerstag in einer Presseerklärung einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Polizeieinsatz während des G-20-Treffens. Die Sondersitzung habe erneut gezeigt, dass ein solcher »das einzig mögliche Instrument« sei, um die Vorkommnisse aufzuarbeiten.

    Senator Grote beteuerte vor dem Ausschuss, die Verantwortlichen für den Polizeieinsatz gingen »selbstkritisch mit sich um«. Zugleich verbat er sich die Benutzung des Begriffs »Polizeigewalt«. Dieser unterstelle »strukturelles, rechtswidriges, gewalttätiges Eingreifen der Polizei«. Dass es genau dies während des Gipfels und in der Woche davor gegeben hat, belegen Tausende Videoaufnahmen und Medienberichte.

    Während die Sondersitzung in der Bürgerschaft noch lief, demonstrierten Hunderte Menschen für den Erhalt des linken Zentrums »Rote Flora« und gegen die »Formierung der autoritären Gesellschaft«. Die Polizei sprach von etwa 600 Teilnehmern, die Veranstalter nannten knapp 1.000. In den letzten Tagen hatten Vertreter der Hamburger SPD angekündigt, jegliche Förderung der Einrichtung einstellen zu wollen, es sei denn, deren Betreiber distanzierten sich von jeglicher Gewalt. CDU und FDP in der Bürgerschaft fordern die Schließung. Auf der Abschlusskundgebung erklärte sich Andreas Blechschmidt von der Roten Flora solidarisch mit anderen linken Projekten.

    Unterdessen bestätigte am Donnerstag ein Sprecher des Bundesfinanzministeriums Medienberichte, denen zufolge der Bund und die Stadt Hamburg für die Opfer der Krawalle bis zu 40 Millionen Euro bereitstellen.

  • · Berichte

    Gewollte Eskalation

    Nach Randale in Hamburgs Schanzenviertel
    Sebastian Carlens
    RTX3AKBQ.jpg
    Die Randale im Schanzenviertel befeuerte die Hetze gegen Linke. Doch ihre Verursacher sind anderswo zu suchen

    Die Randale im Hamburger Schanzenviertel am Freitag des G-20-Wochenendes: eine politische Entäußerung von »Linksextremisten«, wie es die bürgerliche Presse behauptet? Daran darf gezweifelt werden. Nicht, weil es nicht genug verwirrte Linke gäbe, die glaubten, dass derartige Gewalt mehr ist als Ankurbelung des Versicherungsgewerbes, als systemstabilisierende Kapitalvernichtung. Sondern weil etliche der an den Zerstörungen Beteiligten ihr Tun entweder nicht als politisch oder nicht als links empfinden. Schließlich liegt ihnen nichts ferner, als den Kapitalismus abschaffen zu wollen.

    Den »Jungen Nationaldemokraten« zum Beispiel. Laut thueringen24.de (Donnerstag) hat die NPD-Jugendorganisation eingeräumt, sich an den G-20-Protesten »beteiligt« zu haben, ebenso wie ein »Antikapitalistisches Kollektiv«, das – trotz seines Namens – im neonazistischen Spektrum zu Hause ist: Soziale Demagogie gehört nun mal zum Faschismus. Die Hamburger Morgenpost berichtete am 10. Juli, dass die rechten »Hooligans gegen Salafisten« (Hogesa), die 2014 in Köln randaliert und dabei etliche Polizisten verletzt hatten, ebenfalls nach Hamburg mobilisiert haben. Der SWR meldete am Montag, dass 70 Neonazis auf Videomaterial aus Hamburg identifiziert worden seien.

    Haben also Rechte die Proteste gekapert? Auch das ist Quatsch. Die Gemengelage ist komplizierter und kaum politisch zu begreifen. Denn, im Gegensatz zu fast allen anderen Protestformen gegen den G-20-Gipfel, war das Geschehen »an der Schanze« der unpolitische Teil des Wochenendes.

    Ein Vergleich mit ähnlichen aus dem Ruder gelaufenen staatlichen Großeinsätzen drängt sich auf. Die berühmte »Maikrawalle« in Berlin-Kreuzberg 1987 zum Beispiel: Auch dort eroberte eine heterogene Menge stundenweise die Straße, ein Supermarkt brannte aus, die Polizei hatte Überblick und Kontrolle verloren. Oder, über 50 Jahre früher, der »Altonaer Blutsonntag« von 1932: Die Polizei nutzte damals einen Naziaufmarsch der SA in der traditionellen KPD-Hochburg Hamburgs, um 16 Anwohner zu erschießen und den Kommunisten die Morde anzuhängen. Dies ist mittlerweile widerlegt, doch die Provokation war aufgegangen, die (auch damals SPD-geführte) Hamburger Polizei hatte den Faschisten die Straße freigeprügelt.

    Wer Krawalle will, der bekommt sie auch. Der Staat weiß das und hat in Hamburg alles daran gesetzt, gesellschaftlich akzeptierten Protest in furchteinflößende Gewalt umschlagen zu lassen. Die endlosen Schikanen der Bevölkerung; eine von der Leine gelassene Knüppelgarde in Uniform; vermutlich – neben den Neonazis – etliche weitere »V-Leute« oder Beamte in Räuberzivil, anonymisiert im »schwarzen Block«: Das Fußvolk aus Gaffern, Enthemmten und Alkoholisierten findet sich dann wie von selbst.

    Manche werden zwar dafür bezahlt. Doch die meisten sind schlicht Idioten.

  • · Hintergrund

    Altbekannte Hetze

    Reaktionen der Massenmedien auf Ereignisse zum G-20-Gipfel erinnern an 60er Jahre in BRD
    Bernd Oelsner
    Das_Jahr_1968_Attent_18475691.jpg
    Damals wie heute richtig: Springer muss enteignet werden (Ostermarsch in Stuttgart, 15.4.1968)

    Die Kampagnen des bürgerlichen Medienkartells vor, während und nach dem ­G-20-Gipfel in Hamburg erinnern an die 1960er Jahre. Massenmedien, die anfangs noch über brutale Polizeiattacken auf friedlich Demonstrierende berichteten, waren binnen weniger Tage auf Linie. Die »Tagesschau« reduzierte den Protest auf »terroristische Gewaltorgien«, die FAZ warnte vor der »Kapitulation des Staates«. Bild übernahm die Funktion von Exekutive und Jurisdiktion, rief die Bevölkerung zur Menschenjagd auf und lieferte die Urteile zur Rechtfertigung möglicher Lynchopfer vorab gleich mit. Ähnliches durchlebte die BRD vor 50 Jahren schon einmal.

    Ende der 1960er Jahre begann sich eine zunehmend stärker werdende außerparlamentarische Opposition (APO) gegen den repressiven BRD-Staat und dessen auf Unterdrückung zielende Notstandsgesetzgebung zu wehren. Zigtausende demonstrierten gegen die Unterstützung des US-Massenmordes in Vietnam. Auch die unkontrollierte Macht privater Medienkonzerne geriet in den Fokus der Kritik. Springers Bild forderte daraufhin offen zur Beseitigung der »Störenfriede« auf. Es war nur eine Frage der Zeit, dass die systematisch erzeugte Pogromstimmung sich entlud. Am 2. Juni 1967 tötete der Polizist Karl-Heinz Kurras während einer Demonstration in Berlin den Studenten Benno Ohnesorg durch einen Schuss in den Hinterkopf. Doch Bild und andere Massenmedien hetzten weiter und stempelten nun den Studentenführer Rudi Dutschke zum »Volksfeind Nr. 1«.

    Anfang Februar 1968 gingen die Scheiben von sieben Springer-Filialen zu Bruch. Für den Konzern und den Westberliner Senat ein Vorwand, allen Linken den Krieg zu erklären. Die Berliner Morgenpost machte aus dem angekündigten Springer-Tribunal eine »Aufforderung zum Terror« und Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Schütz (SPD) warnte: »Unsere Gesetze … werden jeden mit aller Härte treffen, der bei uns Amok laufen will.« Als die APO für eine Großdemonstration gegen den Vietnamkrieg mobilisierte, forderte Bild unter der Überschrift »Stoppt den Terror der Jung-Roten jetzt!« am 7. Februar: »Man darf über das, was zur Zeit geschieht, nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Und man darf auch nicht die ganze Dreckarbeit der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen.«

    Zwei Monate später feuerte Bild-Leser Josef Bachmann drei Schüsse auf Rudi Dutschke ab. Dutschke sei »das Opfer des von ihm gepredigten Hasses geworden«, höhnte das Blatt nach der Tat. Brennende Auslieferungsfahrzeuge für Springer-Zeitungen lieferten bei den folgenden Protesten die gewünschten Bilder. Die Molotowcocktails, mit denen die Lieferwagen in Brand gesteckt wurden, stammten jedoch nicht von »linken Chaoten«, sondern waren von dem V-Mann des Berliner Verfassungsschutzes Peter Urbach verteilt worden. Während Bild und Politik trotzdem weiter gegen Linke hetzten, setzte sich Anstifter Urbach mit Hilfe des Verfassungsschutzes in die USA ab. Auch Bild-Chefredakteur Peter Boenisch wurde belohnt. Er wurde 1983 Mitglied der Bundesregierung, als deren Sprecher unter Helmut Kohl.

  • · Berichte

    Stunde der Scharfmacher

    Mit unbelegten Behauptungen begründen Hardliner aus Politik und Polizei Kampagnen gegen Linke. NRW will Kennzeichnungspflicht für Beamte abschaffen
    Markus Bernhardt
    RTX3AI8Z.jpg
    Auf Krawall gebürstet: rennende Polizeihundertschaft am 7. Juli während der G-20-Proteste in Hamburg

    Auch mehr als eine Woche nach dem G-20-Gipfel in Hamburg sorgen die dortigen Ereignisse für öffentliche Auseinandersetzungen und Diskussionen. Vor allem Politiker aus den etablierten Parteien überbieten sich in Forderungen, die sich nicht nur gegen »Linksextreme«, sondern letztlich gegen die politische Linke insgesamt richten. Es sei an der Zeit, »linke Propagandahöhlen wie die Rote Flora in Hamburg endgültig auszuheben«, sagte Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) der Bild am Sonntag. Ähnlich äußerte sich FDP-Vize Wolfgang Kubicki. »Wir können solche Räume nicht zulassen, in die die Polizei zum Teil gar nicht mehr hineingeht – oder nicht hineingehen kann«, sagte er der Welt am Sonntag.

    In der Minderheit sind Politiker, die bemüht sind, verbal abzurüsten. So hatte sich Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) Ende vergangener Woche dafür ausgesprochen, das Vermummungsverbot bei Demonstrationen zu entschärfen und künftig nur noch als Ordnungswidrigkeit und nicht mehr als Straftat zu verfolgen, um so zu einer Deeskalation beizutragen. Zugleich warnte Pistorius davor, »Links- und Rechtsextremismus« auf eine Stufe zu stellen. Damit werde Fremdenfeindlichkeit verharmlost, sagte er dem Tagesspiegel (Samstagsausgabe). Zudem würden »mehr als doppelt so viele Straftaten im rechtsextremen Bereich im Vergleich zu links« registriert.

    Unterdessen werden immer neue Übergriffe von Polizisten gegenüber Demonstranten bekannt. Auch jW erreichen täglich Stellungnahmen von Betroffenen und Augenzeugen. Gipfelgegnern aus Nordrhein-Westfalen sei es am 7. Juli gelungen, »in die blaue Verbotszone hineinzukommen, obwohl die Polizei uns mit Knüppeln stoppen wollte und nicht davor zurückschreckte, eine Aktivistin mit dem Auto umzufahren und zu verletzen«, berichtete etwa Mischa Aschmoneit, Sprecher der »Interventionistischen Linken Düsseldorf – see red!«, am Montag im Gespräch mit dieser Zeitung. »Wir hatten die Protokollroute des US-Präsidenten Donald Trump durch zwei Blockaden etwa eine Stunde lang besetzt, davon 30 Minuten unter anhaltendem Wasserwerferbeschuss«, so Aschmoneit. Die größere habe standgehalten, so dass die Polizei die friedlichen Demonstranten »unter häufiger Anwendung von Schmerzgriffen ins Gesicht« geräumt habe.

    In einem vor wenigen Tagen veröffentlichtem offenen Brief protestierte auch der SPD-nahe Kinder- und Jugendverband »SJD - Die Falken« aus Nordrhein-Westfalen gegen eine vierstündige »Ingewahrsamnahme ihres Busses mit Minderjährigen und jungen Erwachsenen auf dem Weg zur Anti-G-20-Demonstration«. Das Fahrzeug sei am 8. Juli noch vor Erreichen der Hansestadt von mehreren Polizeiwagen zur Gefangenensammelstelle (GeSa) in Hamburg-Harburg eskortiert worden. Dort sei jeder Insasse einzeln herausgebeten und durchsucht worden, heißt es in dem Schreiben. Einige Betroffene seien geschlagen oder »mit ihren Händen auf dem Rücken abgeführt« worden. »Der Hinweis, dass wir Minderjährige im Bus haben, ein Jugendverband sind und zu einer angemeldeten Demonstration wollten«, habe für die Beamten keine Rolle gespielt, monierte Paul M. Erzkamp, Landesvorsitzender der Falken in dem im Internet veröffentlichten Brief. Auch die DGB-Jugend Hessen-Thüringen hatte jüngst in einer Erklärung Polizeiübergriffe kritisiert.

    Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) bestreitet dagegen, dass es rund um den Gipfel überhaupt zu Polizeigewalt oder rechtswidrigen Einsätzen der Beamten gekommen sei (siehe jW vom Wochenende). »Ganz offensichtlich sagt Herr Scholz die Unwahrheit, um von seinem eigenen politischen Versagen und seiner politischen Verantwortung abzulenken«, sagte Henning von Stoltzenberg, Mitglied des Bundesvorstandes der linken Rechtshilfeorganisation Rote Hilfe am Montag gegenüber jW. Stoltzenberg forderte alle verletzten und/oder von Repression betroffenen G20-Gegner auf, sich an die Rote Hilfe zu wenden. Sie biete Unterstützung. Linke Organisationen mobilisieren für den 29. Juli außerdem zu einer »Antirepressionsdemonstration« nach Düsseldorf. Derweil kündigte der neue nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) vergangenen Donnerstag im Düsseldorfer Landtag an, die erst wenige Monate bestehende Kennzeichnungspflicht für Polizisten wieder abschaffen zu wollen.

    Zur Zahl während des G-20-Gipfels verletzter Demonstranten gibt es weiter keine offiziellen Angaben. In den umliegenden Hamburger Krankenhäusern seien laut Polizei und Feuerwehr 189 Patienten mit »demonstrationstypischen Verletzungen« behandelt worden, berichtete tagesschau.de am Wochenende. Sie waren demnach mit Knochenbrüchen an Armen und Rippen, Kopfplatzwunden, Schnittwunden oder Prellungen in die Notaufnahme gekommen. Rund 90 Prozent von ihnen seien ambulant behandelt worden. Wie viele Betroffene entferntere Kliniken aufsuchten oder sich an Sanitäter wandten, wird vermutlich nicht mehr zu ermitteln sein.

  • · Hintergrund

    G20 in Hamburg aus Sicht eines Polizisten

    RTX3ACFP.jpg

    Auf dem Blog vionville.blogspot.de veröffentlichte der Polizist Oliver von Dobrowolski am Freitag seine Eindrücke von G 20 in Hamburg, wo er als einer von 30 Berliner »Kommunikationsteam«-Beamten im Einsatz war. Er ist zweiter Vorsitzender des Vereins »PolizeiGrün« von Polizisten, die bei den Grünen sind:

    Freilich wurde ich nicht wie viele Spezial- oder besondere Festnahmeeinheiten an »vorderster Front« eingesetzt, nachdem die Krawalle begannen. Zwar hatte ich neben meiner üblichen Schutzausrüstung auch meinen Helm mit, musste diesen jedoch nicht zum Schutz aufsetzen. Nichtsdestotrotz vermischten sich meine höchst persönlichen Impressionen mit den parallel verfolgten Twitterfeeds der Hamburger Polizei einerseits und der mutmaßlichen Gipfelgegner andererseits zu einem Gefühlspotpourri, das mitunter an Skurrilität nicht mehr zu übertreffen war. Völlig klar, dass die natürlich mit den Kollegen geführten Debatten und die über Funk eintreffenden Erkenntnisse für zusätzliche Würze sorgten.

    Wenn man dann noch den Blick gehoben hat und am bebauten Horizont dunkle Rauchschwaden über Altona und St. Pauli hochsteigen sieht, spätestens dann fragt man sich einfach: What the fucking hell mache ich hier eigentlich?! (...)

    Im Ergebnis bewerte ich meine Einsatzimpressionen sowie den Blick auf die bis dato erfolgten öffentlichen Bewertungen wie folgt: Dass in einem Land wie der Bundesrepublik Deutschland, das als führende Nation in verschiedenen Bündnissen zu Recht Defizite beim Demokratieverständnis sowie den Bürger- und Freiheitsrechten in Staaten wie der Türkei, Ungarn und Russland anprangert, ein Gipfeltreffen mit derartigen Einschränkungen eben dieser Rechte einhergeht und sowohl die politische als auch die polizeiliche Führung einen Rückfall in vergangen geglaubte Zeiten praktizieren, ist unfassbar und beschämend. (…) Die Diskussion, ob ein solcher Gipfel überhaupt in einer Metropolregion hätte stattfinden dürfen (meine Auffassung: nein!) ist müßig. Aber in Hamburg hat man mit der Plazierung des Hauptgeschehens in unmittelbarer Nähe zum Kiez sowie mit dem Transferkorridor und der Allgemeinverfügung gezeigt, dass man schlechte Bedingungen durch falsche Herangehensweisen immer noch verschlimmern kann. (…)

    Ich jedenfalls bin der Meinung, dass die Exekutive den unumstößlichen Auftrag hat, unsere Demokratie und die in ihr lebende Gesellschaft zu schützen. Es gilt, unsere Verfassungswerte und moralischen Grundsätze zu verteidigen. Dass in vielen Menschen nun der Eindruck entstanden ist, gerade die Polizei hat in Hamburg unter Aufbietung ihres gesamten Werkzeugkastens die temporäre Aufhebung von Grundrechten ermöglicht und gestützt, ist gleichermaßen heftig wie fatal. (…) Nun, nicht schwierig dürfte die Feststellung sein, dass es Polizeigewalt definitiv gab. Sorry, Olaf Scholz. Aber die x-fachen Foto- und Videoaufnahmen von meist eindeutigen Situationen, in der keine denkbare Rechtfertigung oder Entschuldigung für körperliche Gewalt vorliegen kann, sprechen eine eindeutige Sprache. Hinzu treten die vielen persönlichen Berichte von Journalisten und Aktivisten, die bei ihrer Tätigkeit behindert oder auch angegriffen wurden, die gewiss nicht in Gänze erfunden sein können.

  • · Berichte

    G-20-Einsatz: Eskalation war Programm

    Rahmenbefehl schrieb »harte Linie« der Polizei vor. Auch intern Kritik daran
    Kristian Stemmler
    Konzert_fuer_Polizis_54063119.jpg
    Heldenhafter Einsatz? Hartmut Dudde (Mitte), Hamburger Einsatzleiter der Polizeikräfte beim G-20-Gipfel, vor Beginn des Dankeschön-Konzerts für 2.000 Staatsschützer in der Elbphilharmonie

    Für Olaf Scholz wird es eng. Der Spiegel moniert in seiner neuen Ausgabe, der Hamburger Bürgermeister und die Polizei hätten zum G-20-Gipfel falsche Prioritäten gesetzt. Grundlage der Kritik ist ein 40 Seiten starker Rahmenbefehl der Hamburger Polizei vom 9. Juni, aus dem das Magazin zitiert. Darin heißt es demnach: »Der Schutz und die Sicherheit der Gäste haben höchste Priorität.« Scholz hatte nach dem Gipfel behauptet, der Schutz der Staatsgäste und der Bevölkerung seien gleichrangig gewesen.

    Weiter geht aus dem Spiegel-Beitrag hervor, dass Hartmut Dudde, Chefkoordinator des Polizeieinsatzes während des Treffens zahlreicher Staats- und Regierungschefs, mit dem Befehl eine harte Linie vorgegeben hat. Störungen seien »im Ansatz zu verhindern«, bei Demoeinsätzen gelte eine »niedrige Einschreitschwelle«, wird aus dem Papier zitiert. Kritik an Duddes Linie kommt inzwischen auch aus dem Polizeiapparat selbst, so zum Beispiel von Hans Alberts, Professor an der Polizeihochschule Münster. In einem Leserbrief an die Süddeutsche Zeitung monierte er kürzlich, jahrelang habe er mit Dudde und anderen ehemaligen Schülern Versammlungsszenarien durchgespielt »und immer wieder festgestellt, dass eine harte Linie nur zur Eskalation führt und es dann eine seltsame Achse zwischen den Hardlinern der Polizei und den gewaltbereiten Chaoten gibt«. Neben dem »unseligen Umgang mit dem Versammlungsrecht«, so der Jurist mit Blick auf den Gipfeleinsatz, »wäre es eine eigene Untersuchung wert, ob die Amtsperiode von Ronald Schill in der Polizei personelle Spuren hinterlassen hat«. Der Rechtspopulist war von 2001 bis 2003 Hamburgs Innensenator.

    In seinem Internetblog kritisierte ein anderer Polizist, der in einem Kommunikationsteam in Hamburg eingesetzt war, die Einschränkung von Grundrechten während des Gipfels als »unfassbar und beschämend«.

  • · Berichte

    Nach »G 20«: immer noch Gefangene

    Lina Leistenschneider

    Während am Sonnabend in Hamburg Tausende am »Schlagermove« teilnehmen und betrunken durch die Straßen rund um das wieder geöffnete Heiligengeistfeld und durch St. Pauli taumeln, Hunderte am Bernstofftraßenfest teilnehmen und die Wut auf die G-20-Gipfeltage trotz immer noch kreisender Helicopter langsam dem Alltag weicht, hält eine Gruppe von ca 100 Personen eine Solidaritätskundgebung mit den Gefangenen in der Justizvollzugsanstalt Billwerder ab.

    Unter dem Motto »Es fehlen die G-20-Gefangenen« war unter anderem über Facebook mobilisiert worden. Zu der Versammlung aufgerufen hatte das Bündnis »G20entern – Kapitalismus versenken«. Es wird deutsche, spanische und kurdische Musik gespielt. Durchs Mikrofon einer mobilen Anlage werden lautstark Solidaritätsgrüße auf Deutsch, Spanisch, Französisch, Schweizerdeutsch und Russisch durchgegeben. Denn unter den Gefangenen sind – neben zahlreichen Deutschen – auch Staatsbürger aus Frankreich, Italien, Spanien, Russland, den Niederlanden, der Schweiz und Österreich vertreten.

    Die Haftbedingungen sind laut einer Pressemitteilung des Ermittlungsausschusseses Hamburg vom 9.07.2017 katastrophal (jW berichtete).

    In den Justizvollzugsanstalten Billwerder und Hannöversand sowie in der Gefangenensammelstelle in Harburg saßen während der Gipfeltage 228 Menschen, die insgesamt in Gewahrsam genommen worden waren. Rund 186 davon waren vorläufig festgenommen worden. Dem Bereitschaftsdienst der Hamburger Staatsanwaltschaft wurden in den Tagen rund um den Gipfel davon nur wenig mehr als 90 Verfahren zur Prüfung strafprozessualer Maßnahmen vorgelegt. Gegen 85 Personen wurde nach Anhörung durch die Staatsanwaltschaft Haftbefehl erlassen. In 51 Fällen wurde vom Amtsgericht Untersuchungshaft angeordnet. Den Gefangenen wird schwerer Landfriedensbruch, gefährliche Körperverletzung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Sachbeschädigung zur Last gelegt.

  • · Berichte

    Verletzte Grundrechte

    Der martialische Auftritt der Polizei in Hamburg soll zeigen: Wer nicht spurt, wird repressiert
    Dietmar Koschmieder
    S 16.jpg
    Granatwerfer, Maschinenpistolen, Sturmgewehre gegen die eigene Bevölkerung

    Erst wurden über 10.000 gewaltbereite Demonstranten für den Gipfel in Hamburg prophezeit, dann etablierte die Polizei die Zahl 8.000. Am Ende schritten hochgerüstete Polizeieinheiten gegen 1.000 Demonstranten (Angaben der Polizei) bei der »Welcome to Hell«-Demo am Donnerstag am Hamburger Hafen ein, weil die sich angeblich nicht demaskieren wollten. Augenzeugen berichteten allerdings, dass es lediglich einige hundert waren. Wer aber steckt hinter so einer Vermummung? Linksautonome Aktivisten? Staatsbeamte mit Spezialauftrag? Faschos und Hools? Oder Kriminelle? Klar dürfte jedenfalls sein: Wenn Tausende von militärisch auftretenden und hochgerüsteten Staatsbeamten mit ihren Granatwerfern, Schnellfeuerwaffen und Maschinenpistolen demonstrativ tagelang gegen alle, die ihnen auf der Straße begegnen, äußerst aggressiv vorgehen, geht es nicht um ein paar hundert Vermummte. Wenn unter solchen Umständen Häuser gestürmt, Menschen die Knochen gebrochen, Brände gelegt und Straßenzüge verwüstet werden, ist da keinesfalls etwas »aus dem Ruder gelaufen«, wie manche mutmaßen: Hier sollen nicht nur »Gewaltbereite«, hier sollen alle Demonstranten, Passanten, aber auch gar nicht anwesende Kritiker des Staates eingeschüchtert werden. Mit erstaunlicher Klarheit haben das in diesen Tagen mehrere Polizeisprecher und Politiker kundgetan. »Grundrechte einzuschränken ist nun mal Teil der Aufgabe und schützt die Demokratie vor zu großem Individualismus«, postete etwa die Hamburger Gewerkschaft der Polizei über Twitter am Mittwoch. Dagegen nennt die Gewerkschaft Verdi die Ereignisse ein einziges »Festival der verletzten Grundrechte«.

    Medien können in einer bürgerlichen Demokratie eine wichtige, den Herrschenden durchaus unangenehme Rolle spielen. Offensichtlich deshalb hat man wohl auch sie ins Visier genommen. Journalisten unterschiedlicher Medien wurden von Beamten geschlagen, drangsaliert, in der Ausübung ihres Berufes massiv behindert. Eigentlich war auch das nicht nötig, die meisten Medien funktionierten als verlängerter Arm der Staatsmacht: Erklärungen der Polizei wurden ohne Gegenrecherche übernommen und gebetsmühlenartig wiederholt, schon im Vorfeld der Ereignisse. Als die Polizei meldete, dass sie gegen 1.000 vermummte Personen vorgegangen sei, wurde diese Zahl beispielsweise vom TV-Sender N24 brav gemeldet und auch dann noch ständig wiederholt, als ihr Reporter vor Ort aussagte, dass es deutlich weniger Personen gewesen seien.

    Mit dem martialischen Auftritt sollte wohl ein Zeichen gesetzt werden: Egal ob Linksautonomer, Journalist oder friedlicher Demonstrant: Wer nicht spurt, wird repressiert. Dabei treten komische Helfershelfer auf, wie die junge Welt erleben musste. Schon im Vorfeld der Protestaktivitäten gegen den G-20-Gipfel wurde die junge Welt inhaltlich angegriffen, weil G20 nicht G7 sei und man wegen der Teilnahme der Regierungen etwa aus Russland oder China gegen den Gipfel nicht protestieren dürfe. Trotzdem hat die junge Welt eine klare Haltung eingenommen, was unter anderem auch dazu führte, dass zwei im Vorfeld überprüfte und akkreditierte jW-Journalisten dann doch vom Gipfel ausgesperrt wurden. Antideutsche veröffentlichten Fahndungsbilder von zwei Journalisten unseres Filmteams mit der Aufforderung, »diesen Antisemiten keine Interviews zu geben«. Einer der so Angegriffenen kommt aus Israel, einem weiteren israelischen Kollegen aus dem jW-Team wurde die Fotoausrüstung geraubt, nachdem man ihn zu Boden geworfen und auf ihn eingeschlagen hatte. Und am Montag, als die Hetze gegen Linke die höchsten Wogen schlug, erdreistete sich die Redaktion der »Tagesthemen«, zur Illustration der vom Verfassungsschutz vermeldeten Zunahme der Zahl linksradikaler Aktivisten das Logo der jungen Welt im aktuellen Verfassungsschutzbericht einzublenden. Warum wohl?

    Natürlich geht es nicht in erster Linie gegen die junge Welt. An ihrem Beispiel soll nur statuiert werden, was geschieht, falls man es wagen sollte, bestehende Verhältnisse zu sehr zu kritisieren oder gar in Frage zu stellen und über Alternativen nachzudenken. Die Herrschenden haben viel weniger vor einer Zeitung Angst als davor, dass immer mehr Menschen ihre Wut über Ungerechtigkeit und Profitwahnsinn in Formen organisierten Widerstandes verwandeln. Dieses Szenario steht den Behörden offensichtlich vor Augen, wenn sie Polizei in paramilitärischer Formation und Hochrüstung auf Demonstranten und Presse, eigentlich auf die Bevölkerung insgesamt loslassen. An der Notwendigkeit anderer gesellschaftlicher Verhältnisse ohne Profitlogik und Ausbeutung ändert das allerdings nichts.

  • · Interviews

    »Haben Grote angezeigt wegen Verleumdung«

    Hamburger Fraktion von Die Linke wehrt sich gegen Vorwürfe, die Partei würde sich mit Randalierern gemein machen. Gespräch mit Cansu Özdemir
    Markus Bernhardt
    Pk_der_Polizei_zur_B_54014963.jpg
    Hamburgs Innsensenator Andy Grote bei einer Pressekonferenz zur Bilanz des G-20-Gipfels (9. Juli)

    Sie haben am Freitag Strafanzeige gegen den Hamburger Innensenator Andy Grote, SPD, erstattet. Warum?

    Die Hamburger SPD versucht derzeit, von ihrem gnadenlos gescheiterten G-20-Polizeikonzept abzulenken und uns die Schuld für die in der Tat unentschuldbaren Straftaten am 7. und 8. Juli im Schanzenviertel in die Schuhe zu schieben. In der Bürgerschaftssitzung am Mittwoch haben wir uns dazu viele üble und unbelegbare Vorwürfe gerade von der SPD anhören müssen, die durch den parlamentarischen Rahmen, in dem sei geäußert wurden, gedeckt sind. Der Innensenator genießt diesen Schutz aber nicht. Und weil er behauptet hat, unsere Fraktion hätte Straftaten wie das Anzünden von Häusern direkt und indirekt unterstützt, haben wir ihn wegen Verleumdung angezeigt. Wir setzen uns für Aufklärung und Transparenz ein, als Sündenbock geben wir uns nicht her.

    Die Meldungen über von Polizisten begangene Gewalttaten reißen nicht ab. Inwiefern ist Grote dafür verantwortlich?

    Am 6. Juli auf der Demonstration »Welcome to Hell« hat Herr Grote mit der Nulltoleranzstrategie seines Gesamteinsatzleiters Hartmut Dudde mindestens Schwerverletzte billigend in Kauf genommen. Die Polizei unter der politischen Verantwortung von Innensenator Andy Grote hat Grundrechte ignoriert, Gerichte missachtet und Menschen verletzt. Uns ist es wichtig, das alles vollständig aufzuarbeiten: Was ist in der Schanze wirklich passiert? Warum hat die Polizei vier Stunden lang zugeschaut, als es brannte? Warum ließ man dann das SEK mit Sturmgewehren ins Viertel einrücken? Und natürlich muss aufgearbeitet werden, dass es eben auch davor und danach durchgängig eine Strategie gab, die eine Eskalation beförderte. Deshalb fordern wir einen Untersuchungsausschuss, der wirklich alles rund um den G-20-Gipfel unter die Lupe nimmt.

    Der politische Druck der anderen Parteien auf Ihre Fraktion ist immens. Wie gehen Sie damit um?

    Wir wussten von Anfang an, dass wir mit unserer Ablehnung der G 20 und ihres Gipfels in der Bürgerschaft allein stehen. Außerhalb des Rathauses sieht das anders aus. Das war auch so, als man Hamburg als Austragungsort der Olympischen Spiele vorschlug so. Überrascht sind wir nur darüber, wie geifernd und zugleich durchschaubar die SPD uns jetzt angreift, um von ihren eigenen Fehlern abzulenken. Es zeigt auch, wie verzweifelt sie nach Argumenten sucht, um Duddes Rechtsbrüche zu rechtfertigen. Aber wir sind überzeugt, dass die Wahrheit ans Licht kommen wird. Wir werden nicht einknicken, weil wir wissen, dass wir mit unserem Ruf nach Aufklärung richtig liegen. Und wir werden uns natürlich auch weiter dagegenstellen, ohne Beweise und Belege die Rote Flora zum Sündenbock zu stempeln.

    Und doch findet sich auf der Facebook-Seite der Hamburger Linksjugend Solid ein bemerkenswerter Fahndungsaufruf. Er wurde bereits am 7. Juli veröffentlicht. Da heißt es: »Jeder, der von uns bei der Ausübung von Gewalt gegen unsere GdP-Kollegen beobachtet wird, wird von der Linksjugend Solid Hamburg identifiziert und angezeigt. Wir wissen, wo ihr schlaft, und werden uns nicht scheuen, die Kollegen der GdP Hamburg in den frühen Morgenstunden zu euren Schlafzelten und Schlafplätzen zu leiten.«

    Das ist wirklich übel. Strafverfolgung ist Sache der Polizei. Solche Aufrufe zu Denunziation und Selbstjustiz verbieten sich für eine linke Partei. Wir als Fraktion stehen für eine nüchterne Analyse der G-20-Vorfälle, für die Verteidigung der Grundrechte und selbstverständlich für Kritik am Polizeieinsatz. Das ist auch unsere verfassungsgemäße Aufgabe als Oppositionspartei.

    Dora Heyenn, Ihre Vorgängerin als Fraktionschefin, ist aus »Solidarität«, wie sie es am Mittwoch nannte, wieder in die SPD eingetreten. Wie glaubwürdig ist das von ihr angegebene Motiv?

    Es kann schon sein, dass sie jetzt mit Olaf Scholz solidarisch ist, den sie zuvor jahrelang zu Recht verteufelt hat. Aber was sie dazu treibt, gerade ihn als Opfer der G-20-Ereignisse zu sehen, ist mir völlig unklar. Anscheinend war sie in der Gipfelwoche nicht in Hamburg.

  • · Berichte

    Scholz lügt!

    Nach G-20-Gipfel: Politiker attestieren Polizei tadellosen Einsatz und hetzen gegen linke Zentren. Derweil häufen sich Berichte von brutalen Übergriffen Beamter
    Jana Frielinghaus
    075_luczniewski-notitle170707_npMQS.jpg
    Polizeigewalt war das nach offizieller Lesart nicht: Pfeffersprayeinsatz gegen sitzende Teilnehmer der Demo »Block G 20 - Colour the Red Zone« am 7. Juli in Hamburg

    Am Freitag hat Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) das Vorgehen der Polizei während des G-20-Gipfels offiziell für in allen Phasen gewaltfrei erklärt. Hunderte Fernseh- und Videoaufnahmen zeigen zwar ein anderes Bild, und inzwischen ist es offiziell, dass mindestens gegen 27 Beamte wegen »Körperverletzung im Amt« ermittelt wird. Tut nichts. Dem Rundfunksender NDR 90,3 teilte Scholz mit: »Polizeigewalt hat es nicht gegeben, das ist eine Denunziation, die ich entschieden zurückweise.«

    Etwas anderes war am Freitag im Boulevardblatt Hamburger Morgenpost zu lesen. Dort wurde ein Vorfall geschildert, der sich bereits am Freitag morgen im Stadtteil Bahrenfeld ereignet hatte. Dabei waren nach Angaben Betroffener 14 Gipfelgegner verletzt worden, elf von ihnen schwer. Nach Angaben eines Studenten gegenüber der Mopo kam es zu einer Situation, in der sich die Gruppe von insgesamt 200 jungen Leuten plötzlich von vorn und hinten Polizeieinheiten gegenüber sah. Deshalb seien etliche von ihnen in Panik zur Seite gesprungen und auf eine Absperrung geklettert. Hinter dieser befindet sich jedoch ein mehr als zwei Meter tiefer gelegener Gewerbehof. Der Student David S. berichtete der Mopo, Berliner Polizisten hätten »getreten und gedrückt«, bis die Absperrung einstürzte, etliche Menschen seien daraufhin in die Tiefe gestürzt. Obwohl unten bereits Menschen mit offenen Knochenbrüchen gelegen hätten, seien weitere hinuntergestoßen worden. Polizisten hätten währenddessen geschrien: »Antifa-Schweine. Das ist euer Frühstück!« Zudem sei bei der Festnahme weiterer Personen auf am Boden Liegende eingetreten worden, wobei diese weitere Verletzungen erlitten hätten. Ein jW vorliegender Bericht einer weiteren jungen Frau aus der Gruppe bestätigt diese Darstellung. Laut Polizei ist bislang nicht geklärt, wie die Verletzungen der 14 Personen entstanden sind. Dies ist nur einer von zahllosen Fällen, die mittlerweile publik geworden sind (siehe auch jW vom 13.7.).

    Zur gleichen Zeit rufen Politik und Polizei weiter nach Kriminalisierung linker Zentren in der gesamten Republik. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte solche Zentren am Dienstag als »logistische Schlupflöcher« von Gewalttätern denunziert (siehe jW vom 12.7.). Am Freitag legte Leipzigs Polizeichef Bernd Merbitz nach. Insbesondere im Stadtteil Connewitz seien »rechtsfreie Räume entstanden«, sagte er der Leipziger Volkszeitung. Leipzig erlebe seit Jahren einen »Zuzug von Linksextremisten«. Ohne auch nur Indizien dafür zu nennen, äußerte Merbitz die Überzeugung, »dass auch Sachsen und vor allem Leipziger in Hamburg an den gewalttätigen Krawallen beteiligt waren«.

    Bereits am Donnerstag hatte Jenovan Krishnan, Bundesvorsitzender des Rings Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS), gefordert, künftig müssten alle Erstsemester eine »Demokratieerklärung« als »Voraussetzung für ein Hochschulstudium in Deutschland« abgeben. Ein »Großteil der Studenten, Dozenten und auch Hochschulleitungen« sympathisiert nach Krishnans Ansicht mit »linksextremen Organisationen«.

    Die Hamburger Staatsanwaltschaft prüft unterdessen mehrere Anzeigen gegen Rote-Flora-Anwalt Andreas Beuth. Politiker von CDU, CSU und SPD fordern die Schließung des linksautonomen Zentrums in der Hansestadt. Beuth hatte dem NDR nach Brandschatzungen und Plünderungen im Schanzenviertel gesagt, er habe »gewisse Sympathien für solche Aktionen«, aber nur, wenn sie in reichen Stadtteilen stattfänden. Oberstaatsanwältin Nana Frombach sagte der Deutschen Presseagentur am Freitag, in den Anzeigen werde der Vorwurf der Billigung von Straftaten erhoben. Dies werde geprüft, Ermittlungen gebe es noch nicht.

    Das Onlinenachrichtenportal BuzzFeed News berichtete unterdessen am Freitag, von den offiziell 476 im Zusammenhang mit dem G-20-Gipfel verletzten Polizisten hätten mehr als die Hälfte bereits vor der heißen Protestphase ab dem 6. Juli ihre Verletzungen gemeldet. Zudem seien viele Beschwerden nicht auf Zusammenstöße mit Demonstranten zurückzuführen gewesen. So seien zum Beispiel Kreislaufprobleme und Beeinträchtigungen bei Pfeffersprayeinsätzen gegen Demonstranten ebenfalls zu den Verletzungen gezählt worden. Das gehe aus Anfragen von BuzzFeed News an alle 16 Landespolizeibehörden und die Bundespolizei hervor. In der »heißen Einsatzphase« wurden demnach 231 Beamte verletzt, davon lediglich 21 so schwer, dass sie auch am Folgetag oder länger nicht arbeiten konnten. Offiziell gelten zwei Mitarbeiter der Bundespolizei als schwerverletzt .

    Zur genauen Begründung des Akkreditierungsentzugs für Journalisten nach Gipfelbeginn halten sich Bundeskriminalamt (BKA) und Bundesregierung weiter bedeckt. Das Bundesinnenministerium teilte aber am Freitag mit, unter den ausgesperrten Korrespondenten und Fotografen seien »verurteilte linksextreme Straftäter« und ein mutmaßlicher »Reichsbürger« gewesen. Die Süddeutsche Zeitung hatte am Donnerstag unter Berufung auf »Sicherheitskreise« berichtet, dass Journalisten, gegen die es Sicherheitsbedenken gebe, mindestens seit dem G-8-Gipfel in Heiligendamm vor zehn Jahren von deutschen Polizisten »beaufsichtigt« würden. Das Innenministerium versicherte daraufhin, es gebe keine »heimliche« Überwachung von Pressevertretern.

  • · Pressespiegel

    »Gefühle von Ohnmacht«

    Der Landesvorsitzende der SJD – Die Falken in Nordrhein-Westfalen, Paul M. Erzkamp, hat in einem offenen Brief Stellung zur Polizeiaktion gegen einen von der Jugendorganisation organisierten Bus zur Großdemonstration gegen den G-20-Gipfel in Hamburg genommen:

    Die Sozialistische Jugend Deutschlands - Die Falken (SJD – Die Falken) sind ein unabhängiger und selbstorganisierter, politischer und pädagogischer Kinder- und Jugendverband.

    Unser Verband ist Teil der Arbeiter*innenjugendbewegung und aus der Selbstorganisation junger Arbeiter*innen entstanden. Seit 113 Jahren vertreten bei uns Kinder und Jugendliche ihre Rechte und Interessen selbst und kämpfen für eine andere Gesellschaft.

    Unser Ziel ist eine Gesellschaft, die auf Freiheit, Gleichheit und Solidarität gründet. Wir sind Mitglied des Landesjugendring NRW und in vielen Städten und Gemeinden vertreten.

    Am 08.07.2017 organisierten wir einen Bus zur Großdemonstration »Grenzenlose Solidarität statt G20« in Hamburg, um an den dortigen Demonstrationen gegen den Gipfel teilzunehmen. Auch in den Tagen vorher waren Freund*innen in Hamburg und haben sich am Gegengipfel, dem Schüler*innenstreik von »Jugend gegen G20« und bei Akten des zivilen Ungehorsams (wie Streiks und Sitzblockaden) beteiligt.

    In besagtem Bus saßen 44 junge Menschen (einige von ihnen minderjährig). Neben Falken waren dort auch Mitglieder der Grünen Jugend NRW, der DGB Gewerkschaften und der Alevitischen Jugend NRW anwesend. Unsere Anreise war über das Bündnis »Jugend gegen G20« in Hamburg offiziell bei der Polizei und dem ZOB (Zentraler Omnibusbahnhof Hamburg) angekündigt.

    Ab ca. 7.00 Uhr wurde unser Bus von mehreren Polizeiwagen eskortiert, die verhinderten, dass wir von der Autobahn abfuhren. Erst gegen 7.45 Uhr wurden wir auf einen Rasthof unmittelbar vor Hamburg geleitet.

    Vor Ort standen ca. 30 Polizist*Innen die sich ihre Schutzausrüstung anzogen und den Bus umstellten. Uns wurde mitgeteilt, dass in Kürze weitere Kräfte hinzukommen, die unseren Bus durchsuchen würden.

    Einige Zeit später tauchten 50 BFE›ler*innen (Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten) auf, die in voller Montur die vorherigen Polizist*innen ablösten. Sie setzten ihre Helme auf und zogen sich Handschuhe an. Einzelne BFE‹ler machten Drohgebärden in Richtung unserer Jugendlichen. Der Einsatzleiter stellte klar, dass von uns »ab sofort keine hektischen Bewegungen mehr durchzuführen« seien. Sowohl in dem Moment, aber auch später blieben alle jungen Menschen ruhig und besonnen, trotz dieses massiven, einschüchternden Aufgebotes.

    Einige Zeit verging, ohne dass etwas passierte. Schließlich teilte uns der Einsatzleiter mit, dass wir nun in ein »gesichertes Objekt« gebracht würden, um dort unsere Personalien aufzunehmen und uns zu durchsuchen. Danach könnten wir dann »möglicherweise zur Demonstration weiter«. Das BFE stieg bewaffnet und vermummt in unseren Bus und verließ den Bus später nur im Austausch gegen andere BFE›ler*innen.

    Wir wurden erneut in einer Eskorte von ca. 10 Polizeifahrzeugen zu einem uns nicht bekannten Ort gebracht. Erst kurz vor der Einfahrt erkannten wir, dass es sich um die Gefangenensammelstelle (GeSa) in Hamburg-Harburg handelte.

    In der GeSa angekommen wurden wir einzeln nacheinander heraus gebeten, und wurden durchsucht. Dabei war die Behandlung sehr unterschiedlich. Einige wurden neutral behandelt – andere wurden geschlagen, mit ihren Händen auf dem Rücken abgeführt oder ihnen wurden Handschellen angedroht. Einige der Jugendlichen mussten sich komplett nackt ausziehen (andere bis auf die Unterwäsche) und wurden dann intensiv abgetastet. Bei den WC-Gängen mussten bei allen die Türen offen bleiben. Der Hinweis, dass wir Minderjährige im Bus haben, ein Jugendverband sind und zu einer angemeldeten Demonstration wollten spielte dabei keine Rolle.

    Während der gesamten Prozedur wurde uns nicht klar gesagt, was mit uns passieren soll. Die Aussagen der Polizei gegenüber den Abgeführten reichten von »Ihr dürft bald weiter fahren«, »Ihr bleibt in der GeSa bis morgen Abend«, bis »Ihr werdet nun dem Haftrichter vorgeführt«. Scheinbar hatten alle Polizist*innen andere Informationen. Den Jugendlichen im Bus wurde jegliche Information verweigert.

    Obwohl unseren Jugendlichen in Gewahrsam ein Anruf (und den Minderjährigen sogar zwei) zugestanden hätte, wurde dieser nicht gewährt. Kontakt zu Anwält*innen konnten nur diejenigen herstellen, die noch im Bus saßen. Bis die Polizei den im Bus sitzenden allerdings endlich sagte, dass gerade der gesamte Bus in Gewahrsam genommen wird, saß bereits ein Drittel unserer Freund*innen in den Zellen.

    Nachdem etwa die Hälfte der Jugendlichen abgeführt worden war, änderte sich das Verfahren schlagartig. Die Verbleibenden wurden weder durchsucht, noch wurden ihre Personalien kontrolliert. Nach jeweils einem kurzen Gespräch mit einem Polizisten wurden sie alle wieder zurück in den Bus geschickt, dabei sollte zunächst jeder auf einen einzelnen Doppelsitz und auch die Kommunikation untereinander war nur bedingt erlaubt. Nach ein bis zwei Stunden wurden die Anderen nach und nach entlassen und bekamen ihre Sachen zurück. Gegen 12.20 Uhr waren endlich alle wieder im Bus und wir konnten los zur Demonstration, die bereits um 11 Uhr begonnen hatte. Die Stimmung war trotz dieser Behandlung entschlossen, solidarisch und friedlich.

    Wir sind aktuell in Kontakt mit Anwält*innen, die uns beraten, ob und inwiefern wir juristisch vorgehen können.

    Erst im Nachhinein und in den vergangenen Tagen berichteten unsere Jugendlichen über ihre Gefühle von Ohnmacht, Hilflosigkeit und der Einschüchterung, der sie ausgesetzt waren. Einige von ihnen brauchen aktuell psychologische Unterstützung. Wir stehen natürlich auch in engem Kontakt mit ihnen und versuchen sie zu unterstützen, wo es möglich ist.

    Neben dieser akuten Erfahrung sind für viele die Reaktionen im Internet, Medien und in ihrem Umfeld (Schule, Betrieb und Familie) belastend. Ihnen wird vorgeworfen, dass sie selbst Schuld seien, wenn sie gegen den G20-Gipfel demonstrieren und, dass solch ein Verfahren notwendig und legitim sei, um für die Sicherheit des G20-Gipfels zu sorgen.

    Für uns ist aber klar: Jugendliche, die in einem angemeldeten Bus zu einer angemeldeten Demonstration fahren, ohne Grund vier Stunden lang darin zu hindern, kann und darf nicht legitim und normal sein. Wir wollten gegen Krieg, Armut und Kapitalismus demonstrieren – dagegen dass die meisten von der Politik der G20 Betroffenen dort kein Wort mitreden können. Wir haben nicht und werden niemals schweigend zusehen, wie Diktatoren, die in ihren Ländern die Opposition unterdrücken, Menschen mit unliebsamer Meinung einsperren und Minderheiten verfolgen, in Hamburg – oder anderswo – hofiert werden.

    Unser Protest ist legitim und demokratisch – anders als die faktische Aufhebung der Gewaltenteilung letztes Wochenende in Hamburg. Neben unserer in Gewahrsamnahme, gab es weitere ähnliche Fälle. Außerdem gab es Einschränkungen der Pressefreiheit, Demonstrationsverbote auf insgesamt 40 km², Behinderung der Arbeit von Rechtsanwält*innen (namentlich dem RAV), Versuche den Demonstrierenden erst gerichtlich die Camps zu verbieten, und sie anschließend trotz gerichtlicher Genehmigung zu räumen, einen generellen Verdacht gegen alle Demonstrant*innen, eine Ignoranz der Unschuldsvermutung und generell vollkommen unverhältnismäßige Eingriffe.

    All dies wird von uns klar als Repression gegen unser politisches Engagement wahrgenommen. Klar ist aber auch: wir lassen uns trotzdem nicht einschüchtern! Gerade jetzt machen wir weiter und werden demonstrieren, uns organisieren und bilden. Das bedeutet für uns konkret, dass wir eine solidarische Debatte in der linken Bewegung brauchen, wie wir mit dem vergangenen Wochenende in Hamburg umgehen und wie wir weiter machen.

    Wir gehen weiter auf die Straße, um für eine gerechtere Welt zu kämpfen. Dafür braucht es aber eine Polizei, Politik und Justiz, die berechenbar ist und auf dem Boden der Gesetze arbeitet.

    Jetzt braucht es klare Solidarität von unseren Freund*Innen und Verbündeten, die dieses Vorgehen der Polizei kritisieren, uns den Rücken stärken und sich gegen den Abbau von demokratischen Rechten aussprechen!

    Freundschaft!

    Paul M. Erzkamp, Landesvorsitzender SJD – Die Falken, LV NRW,

    12.07.2017

    https://www.falkennrw.de/offenerbriefg20demo

  • · Berichte

    Schanzenviertel: Gewerbetreibende gegen Stimmungsmache

    Polizei sichert am 8. Juli das eroberte Schanzenviertel

    In einer aktuellen Stellungnahme erklären Geschäfts- und Gewerbetreibende aus dem Hamburger Schanzenviertel, das am vergangenen Wochenende Schauplatz gewaltsamer Auseinandersetzungen war, dass nicht bestätigt werden könne, dass ein »Schwarzer Block« in dieser Nacht gewütet habe. Wir dokumentieren nachstehend den vollständigen Wortlaut dieser Erklärung:

    Wir, einige Geschäfts- und Gewerbetreibende des Hamburger Schanzenviertels, sehen uns genötigt, in Anbetracht der Berichterstattung und des öffentlichen Diskurses, unsere Sicht der Ereignisse zu den Ausschreitungen im Zuge des G20-Gipfels zu schildern.

    In der Nacht vom 7. auf den 8. Juli 2017 tobte eine Menge für Stunden auf der Straße, plünderte einige Läden, bei vielen anderen gingen die Scheiben zu Bruch, es wurden brennende Barrikaden errichtet und mit der Polizei gerungen.

    Uns fällt es in Anbetracht der Wahllosigkeit der Zerstörung schwer, darin die Artikulation einer politischen Überzeugung zu erkennen, noch viel weniger die Idee einer neuen, besseren Welt.
    Wir beobachteten das Geschehen leicht verängstigt und skeptisch vor Ort und aus unseren Fenstern in den Straßen unseres Viertels.
    Aber die Komplexität der Dynamik, die sich in dieser Nacht hier Bahn gebrochen hat, sehen wir weder in den Medien noch bei der Polizei oder im öffentlichen Diskurs angemessen reflektiert.
    Ja, wir haben direkt gesehen, wie Scheiben zerbarsten, Parkautomaten herausgerissen, Bankautomaten zerschlagen, Straßenschilder abgebrochen und das Pflaster aufgerissen wurde.
    Wir haben aber auch gesehen, wie viele Tage in Folge völlig unverhältnismäßig bei jeder Kleinigkeit der Wasserwerfer zum Einsatz kam. Wie Menschen von uniformierten und behelmten Beamten ohne Grund geschubst oder auch vom Fahrrad geschlagen wurden.
    Tagelang.
    Dies darf bei der Berücksichtigung der Ereignisse nicht unter den Teppich gekehrt werden.

    Zum Höhepunkt dieser Auseinandersetzung soll in der Nacht von Freitag und Samstag nun ein „Schwarzer Block“ in unserem Stadtteil gewütet haben.
    Dies können wir aus eigener Beobachtung nicht bestätigen, die außerhalb der direkten Konfrontation mit der Polizei nun von der Presse beklagten Schäden sind nur zu einem kleinen Teil auf diese Menschen zurückzuführen.
    Der weit größere Teil waren erlebnishungrige Jugendliche sowie Voyeure und Partyvolk, denen wir eher auf dem Schlagermove, beim Fußballspiel oder Bushido-Konzert über den Weg laufen würden als auf einer linksradikalen Demo.
    Es waren Betrunkene junge Männer, die wir auf dem Baugerüst sahen, die mit Flaschen warfen – hierbei von einem geplanten „Hinterhalt“ und Bedrohung für Leib und Leben der Beamten zu sprechen, ist für uns nicht nachvollziehbar.
    Überwiegend diese Leute waren es auch, die – nachdem die Scheiben eingeschlagen waren – in die Geschäfte einstiegen und beladen mit Diebesgut das Weite suchten.
    Die besoffen in einem Akt sportlicher Selbstüberschätzung mit nacktem Oberkörper aus 50 Metern Entfernung Flaschen auf Wasserwerfer warfen, die zwischen anderen Menschen herniedergingen, während Herumstehende mit Bier in der Hand sie anfeuerten und Handyvideos machten.
    Es war eher die Mischung aus Wut auf die Polizei, Enthemmung durch Alkohol, der Frust über die eigene Existenz und die Gier nach Spektakel – durch alle anwesenden Personengruppen hindurch –, die sich hier Bahn brach.
    Das war kein linker Protest gegen den G20-Gipfel. Hier von linken AktivistInnen zu sprechen wäre verkürzt und falsch.

    Wir haben neben all der Gewalt und Zerstörung gestern viele Situationen gesehen, in denen offenbar gut organisierte, schwarz gekleidete Vermummte teilweise gemeinsam mit Anwohnern eingeschritten sind, um andere davon abzuhalten, kleine, inhabergeführte Läden anzugehen. Die anderen Vermummten die Eisenstangen aus der Hand nahmen, die Nachbarn halfen, ihre Fahrräder in Sicherheit zu bringen und sinnlosen Flaschenbewurf entschieden unterbanden. Die auch ein Feuer löschten, als im verwüsteten und geplünderten „Flying Tiger Copenhagen“ Jugendliche versuchten, mit Leuchtspurmunition einen Brand zu legen, obwohl das Haus bewohnt ist.
    Es liegt nicht an uns zu bestimmen, was hier falsch gelaufen ist, welche Aktion zu welcher Reaktion geführt hat.
    Was wir aber sagen können: Wir leben und arbeiten hier, bekommen seit vielen Wochen mit, wie das „Schaufenster moderner Polizeiarbeit“ ein Klima der Ohnmacht, Angst und daraus resultierender Wut erzeugt.
    Dass diese nachvollziehbare Wut sich am Wochenende nun wahllos, blind und stumpf auf diese Art und Weise artikulierte, bedauern wir sehr. Es lässt uns auch heute noch vollkommen erschüttert zurück.
    Dennoch sehen wir den Ursprung dieser Wut in der verfehlten Politik des Rot-Grünen Senats, der sich nach Außen im Blitzlichtgewitter der internationalen Presse sonnen möchte, nach Innen aber vollkommen weggetaucht ist und einer hochmilitarisierten Polizei das komplette Management dieses Großereignisses auf allen Ebenen überlassen hat.
    Dieser Senat hat der Polizei eine „Carte Blanche“ ausgestellt – aber dass die im Rahmen eines solchen Gipfels mitten in einer Millionenstadt entstehenden Probleme, Fragen und sozialen Implikationen nicht nur mit polizeitaktischen und repressiven Mitteln beantwortet werden können, scheint im besoffenen Taumel der quasi monarchischen Inszenierung von Macht und Glamour vollkommen unter den Tisch gefallen zu sein.
    Dass einem dies um die Ohren fliegen muss, wäre mit einem Mindestmaß an politischem Weitblick absehbar gewesen.
    Wenn Olaf Scholz jetzt von einer inakzeptablen „Verrohung“, der wir „uns alle entgegenstellen müssen“, spricht, können wir dem nur beizupflichten.
    Dass die Verrohung aber auch die Konsequenz einer Gesellschaft ist, in der jeglicher abweichende politische Ausdruck pauschal kriminalisiert und mit Sondergesetzen und militarisierten Einheiten polizeilich bekämpft wird, darf dabei nicht unberücksichtigt bleiben.

    Aber bei all der Erschütterung über die Ereignisse vom Wochenende muss auch gesagt werden:
    Es sind zwar apokalyptische, dunkle, rußgeschwärzte Bilder aus unserem Viertel, die um die Welt gingen.
    Von der Realität eines Bürgerkriegs waren wir aber weit entfernt.
    Anstatt weiter an der Hysterieschraube zu drehen sollte jetzt Besonnenheit und Reflexion Einzug in die Diskussion halten.
    Die Straße steht immer noch, ab Montag öffneten die meisten Geschäfte ganz regulär, der Schaden an Personen hält sich in Grenzen.
    Wir hatten als Anwohner mehr Angst vor den mit Maschinengewehren auf unsere Nachbarn zielenden bewaffneten Spezialeinheiten als vor den alkoholisierten Halbstarken, die sich gestern hier ausgetobt haben.
    Die sind dumm, lästig und schlagen hier Scheiben ein, erschießen dich aber im Zweifelsfall nicht.

    Der für die Meisten von uns Gewerbetreibende weit größere Schaden entsteht durch die Landflucht unserer Kunden, die keine Lust auf die vielen Eingriffe und Einschränkungen durch den Gipfel hatten – durch die Lieferanten, die uns seit vergangenem Dienstag nicht mehr beliefern konnten, durch das Ausbleiben unserer Gäste.
    An den damit einhergehenden Umsatzeinbußen werden wir noch sehr lange zu knapsen haben.

    Wir leben seit vielen Jahren in friedlicher, oft auch freundschaftlich-solidarischer Nachbarschaft mit allen Formen des Protestes, die hier im Viertel beheimatet sind, wozu für uns selbstverständlich und nicht-verhandelbar auch die Rote Flora gehört.
    Daran wird auch dieses Wochenende rein gar nichts ändern.

    In dem Wissen, dass dieses überflüssige Spektakel nun vorbei ist, hoffen wir, dass die Polizei ein maßvolles Verhältnis zur Demokratie und den in ihr lebenden Menschen findet, dass wir alle nach Wochen und Monaten der Hysterie und der Einschränkungen zur Ruhe kommen und unseren Alltag mit all den großen und kleinen Widersprüchen wieder gemeinsam angehen können.

    Einige Geschäftstreibende aus dem Schanzenviertel

    BISTRO CARMAGNOLE
    CANTINA POPULAR
    DIE DRUCKEREI - SPIELZEUGLADEN SCHANZENVIERTEL
    ZARDOZ SCHALLPLATTEN
    EIS SCHMIDT
    JIM BURRITO'S
    TIP TOP KIOSK
    JEWELBERRY
    SPIELPLATZ BASCHU e.V.

  • · Videos

    »Es kommt der Tag …«

    Die Demonstrationen am vergangenen Wochenende waren bunt, politisch und vielfältig. Die staatliche Repression gegen Menschen, die in Hamburg ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrgenommen haben, kann nicht darüber hinwegtäuschen: Der Protest gegen G 20 ist legitim und richtig. Ein Epilog mit Bertolt Brecht.

  • · Blog

    Komplizenschaft mit Erdogans Diensten?

    Derzeit mehren sich Hinweise, wonach die Erkenntnisse des Bundeskriminalamts (BKA), die zum Entzug der Akkreditierung für den G-20-Gipfel bei neun Journalisten führten, vom türkischen Geheimdienst kamen. So waren die zwei betroffene Fotografen – einer von ihnen ist der u.a. für jW tätige Björn Kietzmann – im Oktober 2014 nach einem Einsatz in der syrischen Grenzstadt Kobani in der Türkei kurzzeitig festgenommen worden. Für die weitere Berichterstattung der beiden Bildjournalisten in Deutschland war der Vorfall seither nie ein Problem gewesen, jetzt aber wurden sie von der Gipfelberichterstattung ausgeschlossen. Ein Sprecher der Bundesbeauftragten für Datenschutz kündigte am Dienstag gegenüber der ARD an, man werde genau prüfen, woher die geltend gemachten Erkenntnisse des BKA stammten.

    Fachleute kritisierten auch den Umgang von Polizei und Bundespresseamt mit der »Schwarzen Liste«, auf der die Namen der betroffenen Journalisten standen. Sie sei leicht öffentlich zugänglich gewesen, berichtete die ARD am Dienstag. Der frühere Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Peter Schaar, wirft dem Bundespresseamt und dem BKA Rechtsverstöße und unerlaubte Eingriffe in Grundrechte vor. Ein Sprecher der amtierenden Bundesdatenschutzbeauftragten Andrea Voßhof sagte der ARD, man habe Bundespresseamt und BKA diesbezüglich bereits zu einer Stellungnahme aufgefordert.

  • · Videos

    VIDEO: Repression gegen Antiimperialisten

    Jagd auf Gewalttäter als Vorwand, um gegen linke Strukturen vorzugehen: Nach der Krawalle im Hamburger Schanzenviertel nutzte die Hamburger Polizei die Gelegenheit und durchsuchte am 8. Juli das Internationale Zentrum B5. Interview mit Aktivisten.

  • · Berichte

    Ohnmacht und Wut

    Debatte über Gewalt beim G-20-Gipfel. Gastkommentar
    Ulla Jelpke
    G20_Gipfel_Auseinand_54010549.jpg
    Schwarzer Block aus Tausenden vermummten, behelmten und knüppeltragenden Einsatzkräften: Hamburg am Samstag abend

    Erwartungsgemäß endete der Hamburger G-20-Gipfel ergebnislos. Weder wurden Fortschritte für den Klimaschutz erzielt noch bei der Beendigung des Syrien-Krieges oder im Umgang mit Flüchtlingen. Dass 76.000 Demonstranten friedlich für »grenzenlose Solidarität« auf die Straße gingen, fand nur kurz Erwähnung in den Medien. Statt dessen dreht sich die Debatte fast ausschließlich um linke Gewalt, verbrannte Autos und geplünderte Supermärkte.

    Keine Frage: Im Schanzenviertel gab es viel sinnlose Gewalt, die nichts mit politischen Protesten zu tun hatte, sondern von betrunkenen Jungmachos und »erlebnisorientiertem« Partyvolk als Selbstzweck inszeniert wurde. Der Sprecher des autonomen Zentrums Rote Flora hatte dazu das Nötige gesagt. Die Polizei schaute dem Treiben übrigens über Stunden hinweg weitgehend tatenlos zu, offenbar froh darüber, dass sich die Auseinandersetzungen auf das linke Stadtviertel konzentrierten, während die G-20-Regierungschefs störungsfrei in ihre Hotels gebracht werden konnten. Der Schutz der Gipfelteilnehmer habe Priorität vor dem Schutz der Bürger gehabt, bestätigte der Landesvorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), Jan Reinecke, bei »Anne Will«.

    Es war kein Gewaltausbruch aus dem Nichts. Schon die Durchführung eines G-20-Gipfels in einer Stadt wie Hamburg wurde weit über die radikale Linke hinaus als arrogante Machtdemonstration verstanden. Doch mit großflächigen Sperrgebieten, der Verhinderung von Protestcamps und dem Sich-Hinwegsetzen über Gerichtsurteile signalisierte die Polizeiführung um Hardliner Hartmut Dudde, dass Protest generell unerwünscht war. Die genehmigte und bis dahin friedliche Auftaktdemonstration am Donnerstag abend wurde durch ein martialisches Aufgebot, mit Wasserwerfern und Räumpanzern, aufgelöst. Teilnehmer, aber auch Unbeteiligte wurden, wie ich selbst gesehen habe, zum Ziel schwerer Polizeiübergriffe. Dass die Gewalt zuerst von der Polizei ausging, erkannten selbst Vertreter bürgerlicher Medien, die ebenfalls Behinderungen und Übergriffen durch die Polizei ausgesetzt waren. Am Freitag wurden ebenfalls selbst kleine Ansammlungen von Protestierern oder feiernden Menschen von der Straße gejagt. Ein schwarzer Block aus Tausenden vermummten, behelmten und knüppeltragenden Einsatzkräften erstickte nahezu jeglichen demokratischen Protest. Bei vielen G-20-Gegnern erzeugte dies ein Ohnmachtsgefühl, bei einigen auch Wut, die sich dann entlud.

    Natürlich ist die Polizei nicht für die Handlungen von Gewalttätern verantwortlich. Aber deren Führung und die hinter ihr stehenden Politiker haben die Rahmenbedingungen dafür geschaffen, dass es überhaupt so weit kommen konnte. Wie schrieb doch der Dichter Bert Brecht: »Der reißende Strom wird gewalttätig genannt. Aber das Flussbett, das ihn einengt, nennt keiner gewalttätig.« Dem ist nichts hinzuzufügen.