Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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25.02.2018, 18:03:52 / Marx 200

Denken und Handeln

Über die Bedeutung von Karl Marx’ »Thesen über Feuerbach« für die Parteitheorie von Hans Heinz Holz
Von Jürgen Lloyd
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Theorie und Praxis – Arbeiter bei einer Demonstration im spanischen Pamplona während eines Generalstreiks (11.3.2012)

Wir dokumentieren im folgenden den Vortrag »Marx’ ›Thesen über Feuerbach‹ und ihre Bedeutung für die Parteitheorie von Hans Heinz Holz«, den Jürgen Lloyd am vergangenen Sonnabend bei der jährlichen Tagung zu Ehren des am 26. Februar 1927 geborenen und am 11. Dezember 2011 verstorbenen kommunistischen Philosophen Hans Heinz Holz gehalten hat. Jürgen Lloyd ist Mitherausgeber der Zeitschrift Theorie und Praxis. (jW)

Zur Formulierung ihres Parteiverständnisses beziehen sich Kommunistinnen und Kommunisten traditionell auf W. I. Lenin und dessen 1902 veröffentlichte Schrift »Was tun?«. Dort entwickelte Lenin eine Bestimmung sowohl der Aufgaben einer kommunistischen Partei als auch ihrer diesen Aufgaben angemessenen Organisationsform. Das erfolgte nicht dogmatisch aus einer vorgegebenen »Theorie der Partei«, sondern anhand zeitgenössischer Auseinandersetzungen.

Gestritten wurde schon damals über zwei unterschiedliche Linien: einerseits die Orientierung auf eine Bewegung, die sich auf Gegenwartsinteressen beschränkt, oder andererseits eine darüber hinausgehende »Organisation von Revolutionären«, die nach Lenin die notwendige Form einer kommunistischen Partei darstellt. Ausgehend von ihrer Einschätzung, die Rolle des objektiven oder spontanen Elements müsse als Prinzip der gesellschaftlichen Entwicklung höher bewertet werden, betrieben die Anhänger der einen Linie – so Lenin – die Wandlung der Partei von einer »der sozialen Revolution zu einer demokratischen Partei der sozialen Reformen«. (LW 5, 362) Gegen diese Auffassung war Lenins Diktum gerichtet, dass es ohne revolutionäre Theorie auch keine revolutionäre Bewegung geben könne. Die Rolle der Spontaneität der Massen wurde von ihm dabei nicht geleugnet. Daraus entstehende Streikaktionen bezeichnete er als »Keimformen des Klassenkampfs«. Sie »kennzeichneten das Erwachen des Antagonismus zwischen den Arbeitern und den Unternehmern, aber den Arbeitern fehlte – und musste auch fehlen – die Erkenntnis der unversöhnlichen Gegensätzlichkeit ihrer Interessen zu dem gesamten gegenwärtigen politischen und sozialen System« (ebd., 385). Um revolutionär zu sein und nicht lediglich als »Partei der sozialen Reformen« zu enden, bedarf es eines Bewusstseins, das über die partiellen Gegenwartsinteressen und die daraus erwachsenden Konflikte hinausgeht. Dieses Bewusstsein und die Erkenntnis der Unversöhnlichkeit der Interessen gegenüber dem bestehenden System vermitteln sich aber nicht spontan aus den unmittelbaren Erfahrungen, sondern bedürfen der bewussten organisierten Aneignung einer Theorie. Daraus schließt Lenin: Letzteres zu bewirken, ist Aufgabe der kommunistischen Partei.

Einzelnes und Ganzes

Nicht nur innerhalb der Gesellschaft, sondern auch innerhalb der Arbeiterklasse besteht eine Vielfalt individueller und partikularer Interessen, die sich, so scheint es, immer weiter aufspalten, was gängig als Individualisierung bezeichnet (und von interessierter Seite befördert) wird. Wie aber kann es dann angesichts dieser Heterogenität der Einzel- und Gruppeninteressen zu einem gesamtgesellschaftlichen Bewusstsein des herrschenden Systems kommen?

In seiner Schrift »Kommunisten heute« gibt Hans Heinz Holz darauf eine Antwort, die durchaus in Übereinstimmung mit der steht, die Lenin in »Was tun?« gegeben hat. Holz berücksichtigt dabei allerdings noch einen weiteren Aspekt, den er aus den Marxschen »Thesen über Feuerbach« herausarbeitet. Das Leninsche Parteiverständnis soll dabei jedoch nicht, um ein Missverständnis zu vermeiden, korrigiert werden. Explizit hat Holz die Konzeption von Lenin als fortgeschrittene Weiterentwicklung des Parteientwurfs bei Marx und Engels benannt: »Nicht so, als ob nicht schon in den klassischen Programmschriften seit dem Kommunistischen Manifest der Grundriss dieser Architektur entworfen gewesen wäre. Wohl aber gewinnen in der Ausgestaltung des Gebäudes nun einzelne Elemente, bedingt durch die zugespitzte politische Aufgabenstellung, ein neues Gewicht.« (Einheit und Widerspruch III, S. 481) Um in diesem Bild zu bleiben: Der Blick auf einen Bestandteil dieses »Grundrisses« in den Feuerbachthesen hat weder die Intention noch das Potential, die Bauarbeit Lenins zu revidieren. Was anscheinend bei den politischen Aufgabenstellungen für Lenin bei seiner »Ausgestaltung des Gebäudes« keine so elaborierte Hervorhebung erforderte, wie für Marx und Engels bei ihrem Weg hin zur Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie, ist die Frage des Verhältnisses von Theorie und Praxis.

Wie ist Einheit denkbar?

»Und das ganze sozialistische Prinzip ist wieder nur die eine Seite, welche die Realität des wahren menschlichen Wesens betrifft. Wir haben uns ebensowohl um die andre Seite, um die theoretische Existenz des Menschen zu kümmern, also Religion, Wissenschaft etc. zum Gegenstande unserer Kritik zu machen. […] Es fragt sich, wie ist das anzustellen?« (MEW 1, 344) So artikuliert Marx 1844 in den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern« die Problemstellung, sowohl die praktische Änderung der bestehenden Zustände, als auch das – mit diesen bestehenden Zuständen verbundene – Bewusstsein zu ändern. Hier zeigt sich Marx als Dialektiker, bleibt aber dennoch dem Denkmodell Feuerbachs verhaftet: »Die Reform des Bewusstseins besteht nur darin, dass man die Welt ihr Bewusstsein innewerden lässt, dass man sie aus dem Traum über sich selbst aufweckt, dass man ihre eignen Aktionen ihr erklärt. […] Unser Wahlspruch muss also sein: Reform des Bewusstseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewusstseins, trete es nun religiös oder politisch auf.« (S. 346) Hier sind Theorie und Praxis zwar gleichermaßen zu bearbeitende Seiten der Realität, aber sie bleiben getrennt – nämlich als isoliert zu bearbeitende Aufgaben.

Ein Jahr später hat Marx seine Antwort auf die beiden Veränderungsforderungen weiterentwickelt, so dass er eine einheitliche Antwort auf die Forderungen nach praktischer Veränderung der Welt und nach Änderung der theoretischen Seite – also des Bewusstseins über die Welt – geben kann und damit zur Aufgabenstellung kommt, Theorie und Praxis zu einer Einheit zu vermitteln. Sein Schlüssel hierzu findet sich in den »Thesen über Feuerbach« im Begriff der »revolutionären Praxis«. In der dritten These konstatiert Marx: »Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden.«

Wie expliziert Hans Heinz Holz nun die Möglichkeit zur Vermittlung von Theorie und Praxis zu einer Einheit? Im Heft 27 (2007) der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Topos findet sich in einem Aufsatz über die »Philosophisch-politischen Perspektiven des Marxismus heute« eine hilfreiche Formulierung. Holz schreibt dort: »Der Marxismus stellt – als politische Handlungsanleitung – die Einheit von Theorie und Praxis her. Das heißt nicht einfach, dass jede Praxis von theoretischen Erwägungen begleitet und geleitet wird; in diesem trivialen Sinne gilt das für jedes Handeln, zumal für jede Politik. Vielmehr durchdringen sich im Marxismus philosophische Theorie und politische Praxis in der Weise, dass jede theoretische Konzeption als ein Moment der Praxis, als eine Position innerhalb der Fronten des Klassenkampfs definiert wird.« (Hervorhebung J. L.) Innerhalb des Klassenkampfs eine Position zu bestimmen, ist ein ebenso theoretisches wie praktisches Unterfangen. Und zwar nicht nur ein gleichzeitig – also zur gleichen Zeit und vielleicht auch noch am gleichen Ort – stattfindendes, aber dennoch je anderes Unterfangen, sondern es ist identisch. Positionsbestimmung im Klassenkampf ist ein Verhalten zur und in der Welt, eine Reflexion über die eigene Stellung in der geschichtlich gewordenen und geschichtlich sich fortentwickelnden Welt, welches nie anders denn als Einheit von Theorie und Praxis möglich ist.

Für die kommunistische Partei, die auf dem Marxismus gründet, bedeutet dies, dass sie ihren Charakter als Ort der Vermittlung von Theorie und Praxis dann erfüllen kann, wenn sie ihrer Theorie und ihrer Praxis stets den Charakter zukommen lässt, Positionsbestimmung im Klassenkampf zu sein. (Und die Beschreibung der KP als Partei der Arbeiterklasse ist in der doppelten Bedeutung des Genitivs »Partei der Arbeiterklasse« ein Ausdruck dieser Positionsbestimmung.) Was folgt daraus – über die Definition des Charakters der Partei hinaus – für deren Arbeitsweise?

Theorie ist nicht ein Fundus von Ansichten und Einsichten, den wir erwerben und besitzen, um ihn dann – in einem zweiten, separaten Schritt – zur Gestaltung unserer Praxis in Anwendung zu bringen. Das wäre Dogmatismus, würde darauf hinauslaufen, was Marx in der dritten Feuerbachthese als Problem beschreibt, wenn Veränderung der Umstände und Selbstveränderung nicht im Begriff der »revolutionären Praxis« als zusammenfallend gedacht werden: Dann muss die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist – getrennt erscheinen. Dass es keinen solchen – dogmatisch bestimmten – Fundus an fixen Theorieinhalten gibt, gilt für jede einzelne Aussage des Marxismus, von der Erklärung des Werts einer Ware über die Einsicht in die Rolle von Klassenkämpfen in der Geschichte menschlicher Gesellschaft, bis zur Aufgabenstellung kommunistischer Bündnispolitik im Kampf gegen den Faschismus. Wenn es nicht möglich ist, die jeweilige theoretische Einsicht als Bestimmung einer Position im Klassenkampf zu fassen und dadurch auch deren – praktische – Notwendigkeit festzulegen, haben wir den Boden des Marxismus verlassen und landen bei dogmatischen Abstraktionen und voraussichtlich in den Fängen des Opportunismus und der bürgerlichen Ideologie. Das gilt selbst für diese Charakterisierung des Marxismus: Nur weil und nur wenn der Marxismus sich selbst als Reflexion über die eigene Position im Klassenkampf begreift und sich nicht außerhalb der Geschichte stellt, ist er in der Lage, die Kritik der Feuerbachthesen zu bestehen.

Hans Heinz Holz hat diese Bedingtheit in seinen »Thesen über die Zukunft des Marxismus« 1991 in die Formulierung gefasst: »Die marxistische Theorie – als die einzige, die die historische Notwendigkeit, die Struktur und die Entstehung von Klassenbewusstsein reflektiert und damit Klassenbewusstsein erzeugt – ist ein unentbehrliches Moment des geschichtlichen Fortschritts, das heißt der Emanzipation.« (These 4, Zukunft des Marxismus, 1995, S. 60)

Doppelbestimmung der Partei

Um diese Überlegungen auf etwas einfacher Fassbares herunterzubrechen und als Anwendungsbeispiel eine Konsequenz aufzuzeigen: Die Bildungsarbeit einer Kommunistischen Partei muss dem hier herausgearbeiteten Verhältnis der Kommunistinnen und Kommunisten zur Theorie entsprechen. Sie verfehlt ihre Aufgabe, wenn es ihr nicht gelingt, ihre Inhalte als ein »Moment der Praxis, als eine Position innerhalb der Fronten des Klassenkampfs« zu vermitteln. Die bloße Verkündung von Einsichten, die zuvor von noch so klugen Vordenkern theoretisch errungen wurden, genügt dem nicht. (Wiewohl die Einordnung eigener Einsichten in eine ganze Tradition theoretischer Arbeit ein wichtiger Bestandteil marxistischer Weltanschauung bleibt.) Marxistische Bildungsarbeit ist an die Voraussetzung gebunden, dass die Genossen ein praktisches Interesse an der Veränderung der Welt – so wie sie ist – haben und sich dieses Interesses auch bewusst sind. Dieses Interesse konstituiert dabei eine Position im Klassenkampf, deren weitere theoretische Entfaltung Gegenstand der marxistischen Bildung sein muss. In der bedeutenden Funktion der Arbeiterbildungsvereine für die Herausbildung der Arbeiterbewegung war dieser Zusammenhang präsent, und auch in den Schriften und Materialien eines so herausragenden Repräsentanten marxistischer Bildungsarbeit wie Hermann Duncker findet sich dieser Ansatz wieder.

Doch nicht nur für die Theorie, auch für die Praxis einer KP ist es von Bedeutung, dass sie als Moment der Positionsbestimmung im Klassenkampf ausgeübt wird. Ohne Bezug auf die Konstellation der unterschiedlichen und in einer Klassengesellschaft auch gegensätzlichen Interessen und den jeweiligen Bedingungen, unter denen diese um ihre Durchsetzung ringen, bleibt eine politische Praxis der beherrschten Klasse zwingend erfolglos. Lenin hat 1913 in seiner Schrift über die »Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus« davor gewarnt: »Die Menschen waren in der Politik stets die einfältigen Opfer von Betrug und Selbstbetrug, und sie werden es immer sein, solange sie nicht lernen, hinter allen möglichen moralischen, religiösen, politischen und sozialen Phrasen, Erklärungen und Versprechungen die Interessen dieser oder jener Klassen zu suchen.« Die vielfältigen Kämpfe gegen die Zumutungen des kapitalistischen Systems (Kampf um besser ausgestattete Schulen, gegen Kriege, um ausreichende Entlohnung, gegen Aufmärsche faschistischer Gruppierungen, um Verkürzung der Arbeitszeiten, gegen die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen etc.) bleiben Kämpfe um Gegenwartsinteressen von Individuen oder Gruppen von Individuen. Sie bleiben als solche dem Prinzip kapitalistischer Konkurrenzgesellschaft subsumierbar, können gegeneinander ausgespielt, umgelenkt und zur Systemstabilisierung genutzt werden. Hier liegt die ständige Gefahr begründet, dass Reformkämpfe in einer opportunistischen Einbindung der Arbeiterklasse in das System bürgerlicher Herrschaft enden können. Erst durch ihre Einordnung in den Zusammenhang des Kampfs zur Überwindung dieses Systems erlangen Reformkämpfe eine Perspektive jenseits der »Handwerklerei« und des allgegenwärtigen »Betrugs und Selbstbetrugs«. Die Fähigkeit, diese Perspektive aufzuzeigen und zu begründen, unterscheidet die revolutionäre KP von anderen Parteien. Im »Manifest der Kommunistischen Partei« arbeiten Marx und Engels deren besondere Wesensart als parallele Bestimmung in Theorie und Praxis heraus: Die Kommunisten »haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus.« (MEW 4, 474, Hervorhebung J. L.) Praktisch sind sie »der entschiedenste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder« (ebd.). Und diese doppelte Bestimmung erfüllen sie, weil sie »in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten« (ebd.). In genau diesem Sinn spricht Holz von der Einnahme einer »Position innerhalb der Fronten des Klassenkampfs« als Realisierung der Einheit von Theorie und Praxis. Und in genau diesem Sinn, wie Marx und Engels es im Kommunistischen Manifest bestimmen, gibt Holz die kommunistische Partei als den Ort dieser Einheit an.

Theorie-Praxis-Einheit

Die in Marx’ Feuerbach-Thesen als Fortschrittsnotwendigkeit eingeforderte Theorie-Praxis-Einheit führten Marx und Engels konsequent zum drei Jahre später verfassten »Manifest der Kommunistischen Partei«. Auf dem Weg dorthin lag die polemische Auseinandersetzung mit den »wahren Sozialisten«, von denen Engels 1847 in »Der Status quo in Deutschland« schrieb: »Aber unsre wahren Sozialisten sind keine Parteimänner, sondern deutsche Theoretiker. Es handelt sich für sie nicht um praktische Interessen und Resultate, sondern um die ewige Wahrheit. Die Interessen, die sie zu vertreten streben, sind die ›des Menschen‹, die Resultate, denen sie nachjagen, beschränken sich auf philosophische ›Errungenschaften‹.«

Die Frage der Theorie-Praxis-Einheit stellt sich so als die Seite der Entwicklung von Marx und Engels von den Feuerbach-Thesen hin zur Ausarbeitung des Manifests dar, die als theoretische Notwendigkeit zu dieser Entwicklung drängt. Gleichzeitig existiert ein zweiter Strang, der die Seite der Möglichkeit dieser Entwicklung wiedergibt. Hans Heinz Holz beschreibt diese in seinem ersten Band zur »Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie« im Kapitel zum Manifest: »Erst Marx und Engels haben den Münchhausen-Akt der Selbsterzeugung des Subjekts der Geschichte und seiner Fortzeugung auf immer neuen Stufen ohne einen logischen Salto mortale zu erhellen vermocht.« (S. 223) Mit der in den Feuerbach-Thesen artikulierten Wende vom bloß »anschauenden« zum dialektischen Materialismus öffnet sich der Weg zu einem neuen Geschichtsverständnis (zu dem, wie Holz schreibt, das Manifest dann den »Grundriss« gibt). In der »Deutschen Ideologie« gaben Marx und Engels bereits die wirkliche Voraussetzung für alle Geschichte an, nämlich die Voraussetzung, dass die Menschen »imstande sein müssen zu leben, um ›Geschichte machen‹ zu können«. (MEW 3, 28) Die Produktion des materiellen Lebens ist deswegen die »erste geschichtliche Tat«. Und die Bedingungen, unter denen die Menschen ihr Leben produzieren und reproduzieren (die Marx dann in seiner Beschäftigung mit der Ökonomie genauer analysiert und als Produktionsverhältnisse einer Epoche fasst), sind damit zugleich die Bedingungen, unter denen die Menschen »Geschichte machen« können. »Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch«, heißt es in der achten Feuerbachthese, und die Mysterien »finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen dieser Praxis«.

Ort der Verschmelzung

Ein Geschichtsverständnis, das Theorie und Praxis zu einer Einheit vermittelt, zielt dabei auf eine Partei, die sich nicht nur als Organisation zur alleine den Erfolg ermöglichenden, also notwendigen, Zusammenfassung der Unterdrückten zum Kampf gegen die gegebene Klassenherrschaft versteht (obwohl die Partei dies zwingend auch sein muss). Die Partei muss in der Lage sein, als »Kampfgemeinschaft von Gleichgesinnten« den Genossinnen und Genossen ein Ort zum (nicht nur gedachten oder gefühlten – sondern wirklichen) Überschreiten des herrschenden, eine gemeinsame Praxis verunmöglichenden, Konkurrenzsystems zu sein.

Dazu bedarf es der kommunistischen Partei, die sich eben nicht im Versuch, das Bestehende zu verbessern, selbigem anpasst und sich dabei opportunistisch verrennt. Es bedarf einer Partei, die tatsächlich Theorie und Praxis als Einheit verkörpert, die also nicht ihr Scheitern an dieser Aufgabe bereits dadurch demonstriert, dass sie in der Praxis eine Reformpolitik anstrebt (was an sich berechtigt sein kann), aber jegliche darüber hinausgehende Perspektive in die – von der Praxis losgelöste – Sphäre »weitergehender Ideen« verbannt, die sie sich dann nur noch als bloße Theorie zu propagieren vorbehält. Das wäre das Gegenteil der Einheit von Theorie und Praxis und würde das im Manifest betonte »Interesse der Gesamtbewegung« und die Einsicht in die das bestehende System überschreitenden »Resultate der proletarischen Bewegung« nicht als Moment der Praxis behandeln, sondern als isolierte – also »rein scholastische« (MEW 3, 5) – Theorie abtrennen.

Notwendig ist eine Partei, die die eigene Praxis als reflektierte Praxis entwickelt, also die Reflexion zur Bewegungsform der Praxis macht, die daher ohne jedes Schaudern in der Lage ist, die »weitergehenden Ideen« in der aktuellen politischen Praxis zu denken und stets auch die gegenwärtige Praxis als Bewegungsform der »weitergehenden Ideen« konstruiert. Mithin also eine Partei, die dem in den Feuerbachthesen gefassten Gedanken der Einheit von Theorie und Praxis einen Ort in der Wirklichkeit gibt. D. h. einen Ort in der bürgerlichen Klassengesellschaft, in dem das Zusammenfallen von Ändern der Zustände und Selbstveränderung konkret erfahrbar ist.

Das ist es, was Hans Heinz Holz seinen Genossinnen und Genossen als zu verwirklichende Aufgabe zuschreibt. Er macht das im Rückgriff auf das Philosophisch-politische Programm von Marx und Engels, welches sich in Marx’ »Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« (1843) und in den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« (1844) anbahnte, mit der »Heiligen Familie« (1844) und der »Deutschen Ideologie« (1845/46) in polemischer Form ausgebildet wurde, in den »Thesen über Feuerbach« (1845) eine zur Essenz konzentrierte Formulierung fand und sich schließlich im »Manifest der Kommunistischen Partei« (1848) in der doppelten Feststellung niederschlägt, was die Kommunisten – in Theorie und Praxis – in ihrer besonderen Existenz in der bürgerlichen Gesellschaft kennzeichnet.

Literatur:

Hans Heinz Holz: Thesen über die Zukunft des Marxismus, in Domenico Losurdo (Hrsg.) Zukunft des Marxismus, Köln 1995

Hans Heinz Holz: Kommunisten heute. Die Partei und ihre Weltanschauung, Essen 1995

Hans Heinz Holz: Dialektik. Problemgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 5, Darmstadt 2011

Hans Heinz Holz: Philosophisch-politische Perspektiven des Marxismus heute, in: Topos 27, Berlin 2007

Hans Heinz Holz: Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie, Bd 1, Die Algebra der Revolution. Von Hegel zu Marx, Berlin 2010

Wladmir I. Lenin: Werke, 40 Bde., hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus, Berlin 1961–1975 (LW)

Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, 42 Bde., hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus, Berlin 1981–1983 (MEW)

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