Kleinlichkeit und Größenwahn
Von Thomas Dierkes+++ An der deutschen Küche soll die Welt genesen: Zum Diner beim Auftakt des NATO-Gipfels in Baden-Baden +++
Im Krisenjahr 1929 schrieb Bertolt Brecht für das Festival »Deutsche Kammermusik Baden-Baden« sein »Badener Lehrstück vom Einverständnis«. Wie einige von Brechts Lehrstücken ist auch dieses in bezug auf ein anderes geschrieben. Im »Flug der Lindberghs« wird die Ozeanüberquerung durch Charles Lindbergh als heroische Pioniertat des Einzelnen dargestellt. Im »Badener Lehrstück« wird das Ausscheren eines Piloten aus seinem Kollektiv als reaktionärer Individualismus vorgeführt. Liest man beide Stücke zusammen, ergibt sich gegenüber der losgelösten Lektüre eine fruchtbare Synthese.
Die NATO hat zu ihrem 60. Geburtstag geschafft, was sonst nur Karfreitag, Allerheiligen, Buß- und Bettag, Totensonntag, Volkstrauertag, Heiligabend und Erster Weihnachtstag zusammen schaffen: Das berühmte Kurhaus Casino Baden-Baden bleibt für eine ganze Woche geschlossen. Hier treffen sich morgen abend die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer samt Anhang zu einem repräsentativen Diner, dem Auftakt des NATO-Gipfels.
Was die 16köpfige Küchenbrigade des Kurhauses, die verstärkt wird durch ein Team um Sternekoch Martin Herrmann, auf den Tisch bringen wird, ist allerdings nicht bekannt. Sämtliches Personal wurde zu strengstem Stillschweigen verpflichtet. Die Baden-Badener Winzergenossenschaft hat eigens für die Geburtstagsparty 4 000 Flaschen weißen Riesling Kabinett und roten Spätburgunder mit einem NATO-Etikett ausgestattet.
Deutschland, das nach seinem zweiten großen Anlauf auf die Weltherrschaft seine Großmachtambitionen vorübergehend kleinhalten mußte, konnte in Jugoslawien (1999) und Afghanistan (2001) unter NATO-Etikett wieder offiziell ins Kriegsgeschäft einsteigen. Daran soll angeknüpft werden, und darüber gilt es also in Baden-Baden und am nächsten Tag in Strasbourg zu reden. Damit das ungestört vonstatten gehen kann, werden mit deutscher Akribie alle Register der präventiven Aufstandsbekämpfung gezogen.
Landespolizeichef Erwin Hetger kündigte bereits im Vorfeld an, eventuelle schwarze Blöcke »verarbeiten« zu wollen sowie »Selektionen« auf der Rheinbrücke durchzuführen. Die Demonstranten forderte er hingegen auf, »verbal abzurüsten«.
Das Konzept in Baden-Baden sieht die Einrichtung von fünf Sicherheitszonen vor. In der roten Zone ist so ziemlich niemand erlaubt, der nicht wenigstens einen Krieg vom Zaun gebrochen hat. In der gelben wird den direkten Anwohnern nicht völlig untersagt zu existieren. Allerdings nur bei geschlossenen Fenstern.
Insgesamt werden am Wochenende rund 15000 Polizisten und 600 Soldaten auf der deutschen Rheinseite im Dienst sein, also etwa so viele, wie Demonstranten erwartet werden. Wie schon beim G8-Gipfel in Rostock donnern sie in Hubschraubern oder AWACS-Aufklärungsflugzeugen über die Protestcamps und sprechen so wenig verhaltene Kriegserklärungen nach innen aus. Erste »Schockgranaten«, begleitet von Tränengas, sind in der Nacht zu Mittwoch bereits auf ein Camp gefeuert worden.
Baden-Badens Oberbürgermeister Wolfgang Gerstner (CDU) erklärte: »Wir wollen ein positives Bild nach außen abgeben.« Das offizielle Logo zum NATO-Gipfel führt nur Strasbourg und Kehl auf. Der Hinweis auf Baden-Baden fehlt. Das stachelt den PR-Neid des Stadthäuptlings an.
Kehl war wegen seiner Lage direkt am Rheinufer symbolisch überlegen, auch wenn es nicht einmal ein adäquates Restaurant zu bieten hat. Nur so kam überhaupt der Ort ins Spiel, der sich 1931 in Abgrenzung zu seinen Namensvettern Baden in Österreich und der Schweiz, den Region und Stadt synthetisierenden Doppelnamen gab. Das knapp 55000 Einwohner zählende Baden-Baden trägt sich gegenwärtig mit dem Vorhaben, eine Straße nach einem ihrer prominentesten Söhne zu benennen – dem Minipli-Barden Tony Marshall.
Heiner Müller sagte einmal sehr zutreffend, eine richtige deutsche Stadt könne eigentlich nur eine Kleinstadt sein. So gerät morgen abend in Baden-Baden auch symbolisch zur Synthese, losgelöst voneinander betrachtet, weniger als die halbe Wahrheit ist: mit dem detailwütig überwachten Auftakt zum NATO-Gipfel in der Provinz kommt Deutschland zu sich selbst. Kleinlichkeit und Größenwahn sind zwei unbedingte Zutaten einer Küche, an der die Welt noch zu genießen haben wird.
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