Ausschnitte aus der Podiumsdiskussion
Die Linke hat im Oktober in Erfurt ihr Grundsatzprogramm
verabschiedet. Über Anspruch und Wirklichkeit dieser Partei sowie der
linken Bewegung insgesamt diskutierten am Samstag im Berliner
Urania-Haus der stellvertretende Linkspartei-Chef Heinz Bierbaum, die
Frankfurter Publizistin und ÖkoLinX-ARL-Stadtverordnete Jutta Ditfurth,
der Politikwissenschaftler Georg Fülberth sowie der Journalist und Autor
Dietmar Dath. Es moderierte jW-Chefredakteur Arnold Schölzel.
Arnold Schölzel, Frage an Heinz Bierbaum:
Zwischen dem Programm einer sozialistischen Partei und ihrer Strategie,
von der Taktik zu schweigen, herrscht stets eine bestimmte Spannung.
Andreas Wehr hat in seinem jW-Artikel zum Programm der Linken formuliert: »In der Analyse antikapitalistisch, in der Strategie reformerisch.« Sie haben diese Kritik in Ihrem Text in der jungen Welt am Dienstag zurückgewiesen und den Zusammenhang von sozialistischem Ziel und reformerischen Schritten hervorgehoben.
Ich möchte aber noch
einmal nachfragen. Im Programm heißt es: »Die Linke ist der Überzeugung,
daß ein krisenfreier, sozialer, ökologischer und friedlicher
Kapitalismus nicht möglich ist.« Meine Frage lautet: Ist diese
Beschreibung des Ganzen nicht zu wenig?
Ich meine: Die Melodie
vom krisenfreien, sozialen, ökologischen und friedlichen Kapitalismus
wurde vor 20 Jahren nach dem Untergang des europäischen realen
Sozialismus besonders laut gespielt.
Inzwischen hat sie jede Menge Hörer verloren, anders gesagt, die Zahl der Menschen weltweit, die der Meinung sind, daß der Kapitalismus selbst die Katastrophe ist, hat enorm zugenommen. Das mag sich kaum in Wahlergebnissen in den westlichen Ländern niederschlagen, aber offensichtlich denkt es selbst dort.
Seit
2008, seit der ersten Bankenrettungsaktion mit knapp 500 Milliarden
Euro, sind die wahren Machtverhältnisse z. B. hierzulande, aber auch
anderswo sichtbar geworden. Die sogenannte Frankfurter Runde – Merkel,
Sarkozy und der EZB-Chef – hat im Oktober/November 2011 in Griechenland
und Italien die parlamentarische Demokratie faktisch liquidiert und
Regierungen nach ihrem Diktat eingesetzt. Die Finanz- und
Wirtschaftskrise erhält wöchentlich einen neuen Schub, das Ende ist
nicht absehbar. Kleinere Kriege wie an der Cote d’Ivoire oder in Libyen
werden nach Belieben geführt, größere behalten sich die USA vor.
Zehntausende Tote durch ihre Kriegführung werden von der NATO schlicht
geleugnet. Breite Zustimmung findet das politische und sonstige
Führungspersonal nicht mehr, im Gegenteil. Ist es da nicht ein zu
zärtlicher Umgang mit den Verhältnissen, wenn nicht laut und deutlich
und als Ausgangspunkt gesagt wird: Kapitalismus ist Krise, Verarmung
immer größerer Gruppen, Naturzerstörung und Krieg, ist mit Demokratie
letztlich unvereinbar? Muß die Analyse nicht genauer und damit härter
ausfallen, um eine richtige Strategie zu formulieren?
Heinz Bierbaum:
Ja, in der Tat ist es aus meiner Sicht richtig, daß das Programm weiter
diskutiert werden muß. Es ist zwar in Erfurt mit großer Mehrheit
angenommen worden, hat aber bestimmte Schwächen. An manchen Stellen muß
es noch vertieft werden. Wie die Strategie zur Umsetzung dieses
Programms aussieht, muß weiter diskutiert werden. Was die Analyse
angeht, so mag man sagen, daß sie vielleicht zu harmlos sei, aber
immerhin, – und das ist nicht wenig, muß ich schon mal festhalten, –
wird in diesem Programm sehr deutlich formuliert, daß es notwenig ist,
eine andere Gesellschaft, eine Gesellschaft des demokratischen
Sozialismus aufzubauen.
Das ist als Zielsetzung ziemlich klar.
Im Kapitel dieses Programms »Krisen des Kapitalismus – Krisen der
Zivilisation« werden einige Entwicklungsstadien des Kapitalismus
aufgeführt. Es geht auch auf das Thema Finanzmarktkapitalismus ein,
sowie auf die verheerenden Wirkungen des gegenwärtigen Stadiums des
Kapitalismus. Das kann man möglicherweise noch vertiefen oder
dahingehend zuspitzen, daß wir es mit der Grundsituation einer
strukturellen Überakkumulation des Kapitals zu tun haben, mit einer
entsprechenden Dominanz der Finanzmärkte, mit zerstörerischen Wirkungen.
Es wird darauf hingewiesen, daß nach wie vor imperialistische Kriege
geführt werden. Wir haben eine soziale Zerstörung, wir haben
Unterdrückung in der Welt. Der entscheidende Punkt ist aber, wie kommen
wir – die Frage wirft auch Andreas Wehr auf, der ja durchaus
konstatiert, daß unsere Analysen antikapitalistisch seien – wie kommen
wir zu einer Strategie? Und ich glaube, da liegt das Hauptproblem. Nicht
nur für die Partei Die Linke, sondern für die linke Bewegung insgesamt.
Es stimmt, daß wir eine Situation haben, in der die Legitimationsbasis
der herrschenden Politik bröckelt.. Es ist ja schon interessant, daß
beispielsweise im Feuilleton der FAZ und auch in der Financial Times
Deutschland sehr harte Kritik formuliert wird, daß Beiträge
veröffentlicht werden, wie kürzlich beispielsweise ein Artikel des
Ökonomen Michael Hudson mit der Überschrift, daß die Banken dem Volk den
Krieg erklärt hätten. Die Legitimationsbasis bröckelt, aber das wirkt
sich bisher nicht so aus, daß eine Alternative greifbar wird. Das ist
eines der zentralen Probleme. Ich sehe zwei Ansatzpunkte, die im
Programm angesprochen sind, die aber nach meinem Dafürhalten vertieft
werden müssen.
Das eine ist die Eigentumsfrage. Die wird ja
gerade von oben gestellt in der gegenwärtigen – ich nenn’ es mal
abkürzend Eurokrise, obwohl ich natürlich weiß, daß es weder nur um eine
Krise des Euros noch um eine Krise der Staatsschulden handelt, sondern
um eine Krise der kapitalistischen Entwicklung. (...) So notwendig
Maßnahmen wie beispielsweise eine Regulierung der Finanzmärkte sind, ist
es damit nicht getan. Zumindest die Großbanken müssen verstaatlicht
werden, wie wir das auch gut im Programm dargestellt haben. Zentral ist
aber auch die Demokratiefrage. Wir erleben zur Zeit eine Situation, in
der Parlamente nicht mehr gehört werden. Demokratische und
gewerkschaftliche Errungenschaften werden mit einem Federstrich
beseitigt. Die Frage der Demokratie stellt sich auch in der Wirtschaft.
Das ist meiner Ansicht nach der Hebel, um eine gesellschaftliche
Alternative so darzustellen, daß sie hegemoniefähiger wird.
Arnold Schölzel, Frage an Georg Fülberth:
Du vermutest, daß wir es seit 2007 mit der vierten systemischen Krise
in der Geschichte des Kapitalismus zu tun haben, an deren Ende nicht die
Überwindung des Kapitalismus stehen wird, sondern wie schon bei den
vorangegangenen Krisen nur das Verschwinden des Kapitalismus, »wie man
ihn kannte«, und das Kommen eines neuen. Die Frage nach der »Barbarei«,
die du als Metapher für Zivilisationsbruch und den wiederum nicht als
Regression, sondern als »etwas Modernes« bezeichnest, stellt sich
demnach nicht. Ist das »ruchloser Optimismus«, den Schopenhauer bei
Hegel und dessen Schülern sah? Warum nicht von Imperialismus, also
Monopolkapitalismus und dem bestimmenden Produktionsverhältnis sprechen,
dem Monopol, von imperialistischer Konkurrenz, Kampf um Rohstoffe, um
strategische Positionen und permanentem Krieg, von Irrationalismus,
Antidemokratie, also Niedergang im Überbau, was wiederum die
Produktivkraftentwicklung entschieden behindert. Verordnest du – bei
aller Betonung der Eigentumsfrage – nicht letztlich der Linken eine
Politik ausschließlich im Rahmen des Kapitalismus, als dessen
Einschränkung, nicht von seiner Überwindung? Ist da nicht etwas mehr
Empörung nötig?
Georg Fülberth:
Vielleicht wurde ich
da mißverstanden, denn ich sage: Das Aggressionspotential des
Kapitalismus ist viel größer als das Aggressionspotential der
vergangenen Gesellschaftsformen. Wenn ich ihn vergleiche mit der
Barbarei zwischen Urgesellschaft und Zivilisation, dann meine ich, er
ist schlimmer. Das heutige Zerstörungspotential des Kapitalismus
bedeutet, daß er alles Leben auslöschen kann. Dazu haben die alten
Barbaren mit ihren Faustkeilen keine Chance gehabt. Der Kapitalismus ist
moderner, schlimmer, zerstörerischer. Zur Frage der Empörung. Rosa
Luxemburg hatte eine Doppelbegabung: Sie konnte sich fürchterlich
aufregen und trotzdem war sie bei so klarem Verstand, daß die Empörung
nicht gestört hat. Wer zum Analysieren geringere Gaben hat, sollte sich
die Empörung verkneifen. (...)
Wenn der Kapitalismus
weiterbesteht, transformiert er sich. Ich denke mir schon, daß diese
völlig ungeregelte Spekulation in der Form nicht fortgesetzt wird. Aber
was bedeutet das?
Es wird wahrscheinlich zumindest versucht
werden, dieselben Renditen, die Jahrzehnte lang an den Börsen erzielt
wurden, weiterhin zu erzielen, indem noch höherer Druck auf die
Arbeitsmärkte, noch mehr Druck auf die Löhne und die
öffentlich-rechtlichen sozialen Sicherungssysteme ausgeübt wird. (…)
Die Gewaltförmigkeit der Politik wird zunehmen, die Bundeswehr wird zur
Interventionsarmee ausgebaut, um an Rohstoffe heranzukommen. Auch der
Druck auf die informationelle Selbstbestimmung nimmt zu. Dietmar Dath
hat zutreffend vermutet, die Entdeckung eines Staatstrojaners 2011
bedeute einen ähnlichen Einschnitt wie 1986 Tschernobyl. Wenn so ein
popeliges Landeskriminalamt mit einer offensichtlich nicht besonders
guten Software dafür sorgen kann, daß nicht nur Computer ausgespäht
werden, sondern Computer so manipuliert werden, daß sie Dinge tun, die
ich nicht will, dann kann das jeder Konzern viel besser. (…)
Zum Parteiprogramm der Linken: Man hat diesem Programm vorgeworfen, daß
die Eigentumsfrage gestellt wird. Das ist richtig. Die Eigentumsfrage
ist aber eigentlich nicht erst durch Die Linke gestellt worden. Man hat
öffentliches Eigentum im Osten abgeräumt, öffentliches Eigentum im
Westen abgeräumt. Die Eigentumsfrage steht – sie wird vom Kapital
gestellt. (…)
Es kommt darauf an, daß die Eigentumsfrage von
links gestellt wird. Es geht um den Kampf gegen Bellizismus – ganz
schwieriges Thema, sowie um den Kampf für informationelle
Selbstbestimmung und Kampf gegen informationelle Fremdbestimmung.
(…) Die Frage ist, wer soll es machen? Und da wünsche ich mir zum
Schluß, daß ich nach einem Jahr wieder etwas von dieser Partei höre.
2011 hat sie sich vor allem mit K- und P-Fragen beschäftigt.
K wie »Kuba-Diskussion« und »Kommunismusspektakel« und P wie »Palästina« oder »Personal«.
Mal sehen, wie das 2012 wird. Ich würde gern mehr vom Programm hören,
und ich würde mich freuen, wenn ich allmählich den Eindruck bekäme, daß
diese Partei ihr Programm auch ernst nähme.
Arnold Schölzel, Frage an Dietmar Dath:
Sie sehen die Lage etwas düsterer, wenn ich richtig interpretiere, was
Sie in »Maschinenwinter« 2008 geschrieben haben. Ich zitiere: »Eine
hochtechnisierte Zivilisation, die nicht als freier Verein freier
Produzenten nach den wissenschaftlichen Einsichten plant, die ihren
Stoffwechsel mit der Natur bestimmen, kann ins Grauen einer
nachwissenschaftlichen Technik münden, die von (schwarzer) Magie
wirkliche nicht mehr zu unterscheiden wäre – in ein kybernetisches
Dunkles Zeitalter, neben dem die Epoche der Hexenverbrennungen sich wie
der schwedische Sozialstaat ausnähme.« Sie werfen dort und in den in junge Welt
abgedruckten Auszügen aus Ihrem neuen Buch »Implex«, das Sie gemeinsam
mit Barbara Kirchner geschrieben haben und das in wenigen Wochen
erscheint, nun die Organisationsfrage auf. Wie gelingt es in einer vom
Kapitalismus weltweit verwüsteten und zerklüfteten Gesellschaft, im
Zeitalter des »Informationsfeudalismus« und wenn nach Schernikau
Staatspolitik Militärpolitik ist und Bürgerinitiativen Pipifax sind, von
partikularer Interessenvertretung zu universaler zu kommen, also zu
Programm, Strategie und Taktik?
Dietmar Dath:
Zur
Barbarei: Ich glaube, daß Georg Fülberth philologisch völlig recht hat.
Es ist tatsächlich verniedlichend. Man denkt da an Leute, die sich mit
Knüppeln hauen, Pferde schlachten und ihren Met aus den Schädeln
besiegter Feinde trinken. Wobei man hört, daß das zumindest bei den
Marines auch schon wieder vorkommt. Aber wenn man jetzt mal nicht
philologisch, sondern arbeits- oder herrschaftsgeschichtlich darüber
nachdenkt, was mit der Barbarei als Alternative zum Sozialismus bei
Luxemburg gemeint gewesen sein könnte, dann hab’ ich mir das immer so
erklärt: Die ersten Formen der Herrschaft sind sehr unmittelbar. Da
gibt’s halt was auf den Kopf. Da gibt’s die Peitsche, da gibt’s
vielleicht in der Sklavenhaltergesellschaft jemanden, der in der Galeere
trommelt und so weiter. Dann wird das immer – das hat sich das
Bürgertum sehr zugute gehalten, immer abstrakter, immer vermittelter.
(…)
Zunächst mal haben wir dann Feudalismus: Das ist der
Besitztitel an dem Land, auf dem ihr lebt, deshalb gehört ihr uns; da
kann man aber auch noch die Leute auf der Straße niederknüppeln, und
weil man einem höheren Stand angehört, ist das nicht strafbar – oder
jedenfalls vernachlässigbar strafbar. Und dann wird’s noch abstrakter,
dann werden’s Verträge, denn irgendwann rechnen die das aus. Dann halten
sie sich sehr zugute, daß sie die Sklaven freilassen. Das tun sie aber
unter anderem deswegen. Wenn das Zeug keinen Absatz findet, müßte man
Sklaven trotzdem weiter durchfüttern. Wenn sie dagegen Lohnarbeiter
sind, verhungern sie halt irgendwo – das ist dann der
Zivilisationsfortschritt, auf den man sich so viel einbildet.
Und nun könnte man sich eben vorstellen – das ist alles noch nicht von
mir, das ist alles noch Marx – jetzt könnte man sich vorstellen, das
wird immer abstrakter. Oder es kollabiert irgendwann in die unmittelbare
Herrschaft zurück. Und ich glaube, das meinte Rosa Luxemburg mit
Barbarei. Das heißt, sie meinte, daß es tatsächlich wieder was auf den
Kopf gibt. Und wenn ich mir den Kapitalismus sogar ohne Kriege angucke,
sogar ohne Marines, die auf die Körper ihrer Opfer urinieren, dann habe
ich ein System, das in den reichsten Zonen, in den Metropolen die Kinder
mit Drogen vollhaut, wenn sie nicht in dieses Schulsystem reinpassen,
also sehr in den Körper hineinherrscht, das die Bewegungsformen der
Leute dahingehend kontrolliert, daß ein paar tausend im Straßenverkehr
jedes Jahr verrecken, weil man kein ordentliches Nahverkehrssystem
ausbaut, denn – das würde ja kosten, das wäre ja Gemeineigentum. Statt
dessen verkloppt man dieses Gemeineigentum an irgendwelche Investoren,
die dann überall die Stationen streichen, weil sie sagen, das kostet
viel – na ja, genau wie beim Bankenretten auch –, die Kosten werden halt
verteilt auf die Leute, die trotzdem irgendwie nach Hause müssen. Dann
werden vielleicht ein paar Autos mehr verkauft, und jeder Idiot, der
sich irgendwie einen Jeep leisten kann oder einen Hummer, fährt einen
Panzer durch die Innenstadt, und wenn der ein bißchen zu schnell fährt,
ist das Kind halt tot. Angestellte sitzen dann in irgendwelchen
Großraumbüros, wo die Klimaanlagen die Gesundheit kaputt machen, und
arbeiten bis zum Burnout. (...)
Wenn das nicht unmittelbare Herrschaft über die Körper und Barbarei ist, dann weiß ich nicht, was es sonst ist. (...)
Ich hab’ jetzt die angenehmen Zonen beschrieben, nach denen sich Leute
aus anderen Weltteilen sehnen, weswegen sie hierher kommen. So. Das ist
also der Luxusteil.
Jetzt zur Strategie. Es gibt so einen,
durchaus auch bürgerlichen, Linkstrend. So ein bißchen, daß man halt die
Schnauze voll hat von Leuten wie George Bush und diesem Cheney, die
sich unmittelbar an so einem Krieg bereichern. Oder wenn so ein
Guttenberg in Verschiß gerät oder so ein Wulff. Man kann das irgendwie
nobel finden im Sinne der Korruptionsbekämpfung, man könnte aber auch
einen Zusammenhang sehen zu dem, was Georg Fülberth gesagt hat, nämlich:
Wenn der Ton jetzt noch härter wird, was nach jeder Krise passiert,
weil jede Krise als Umverteilungsgelegenheit genutzt wird, dann braucht
man halt eine andere Garde, dann braucht man nicht mehr diese
Kasperfiguren, sondern wieder jemanden mit deutschen Sekundärtugenden.
(...)
Zum Schluß: Verstaatlichung von zwei Seiten.
Der
Staat ist ja nicht irgendein Staat, sondern im Kapitalismus ein
kapitalistischer Staat. Er ist dafür da, die Märkte zu garantieren, er
ist dafür da, die Verträge zu schützen, und zwar die ungerechten, den
ungerechten Tausch und all dieses Zeug. Es ist tatsächlich so, daß ein
gewisses Quantum Verstaatlichung schon immer dazugehört hat. Zum
Beispiel, wenn der Onkel Dagobert alles verzockt hat, dann geht das
Fähnlein Fieselschweif mit den Mützen rum und sammelt bei den Armen,
damit die Bank nicht Pleite macht.
(…) Die Vergesellschaftung
von Energie, von Informationen und so weiter muß auf der Ebene
stattfinden, wo die Leute produzieren. So etwas wird nicht
ausschließlich im Parlament entschieden. Aber man kann das Parlament
natürlich als Tribüne nutzen.
Und wenn man das nicht macht,
wenn man statt dessen das Parlament nutzt, und sich Leuten, die sich
fremde Arbeit auf inzwischen wieder sehr unmittelbare Art aneignen
können, als sozialer Friedensstifter und Unterhändler anbietet, hat man
eben die Geschichte einer Partei, die zuerst den Bernstein hervorbringt,
dann die Kriegskredite gut findet, dann den Radikalenerlaß, das
KPD-Verbot, den NATO-Doppelbeschluß, die Bundeswehr fit macht, die
Hartz-Schweinerei durchzieht. (...)
Und wenn man also fragt, wie wünsche ich mir die Strategie, so daß all das bitte nicht passiert.
Arnold Schölzel, Frage an Jutta Ditfurth:
Deutschland ist in den vergangenen 22 Jahren weit vorangekommen: Die
Bundeskanzlerin teilt Sarkozy nur noch mit, wenn sie anordnet,
Griechenland keine Kreditrate auszuzahlen. In der jährlichen Vorausschau
der US-Agentur Stratfor, die auch als »Schatten-CIA« bezeichnet wird,
für 2012 heißt es, daß Deutschland in der Finanzkrise eine Gelegenheit
sieht, durch Nutzung seiner finanziellen und ökonomischen Überlegenheit
die Struktur der Euro-Zone zu seinen Gunsten zu verändern. Es werde
wahrscheinlich – Stichwort Fiskalunion – den Verlust der Budgethoheit
und damit der Souveränität mehrerer Euro-Staaten durchsetzen.
1990, mitten in der nationalistischen Aufwallung, die dem DDR-Anschluß
folgte und deren Resultat u. a. das staatlich finanzierte
Neonazinetzwerk ist, bot die Grüne Antje Vollmer im Bundestag geistige
Hilfe bei der neuen Weltmachtrolle der Bundesrepublik an. Die Grünen in
der Regierung standen 1999 an der Spitze der Kriegshetzer beim
NATO-Angriffskrieg gegen Serbien und Montenegro. Sie haben sich gerade
wieder bewährt als staatstragende Partei in Baden-Württemberg und
setzten den Widerstand gegen »Stuttgart 21« – wie Du in »Krieg, Atom,
Armut« vor einem Jahr geschrieben hast, von der Straße vor den
Fernseher. Schicksal linker Organisationen?
Jutta Ditfurth:
Stichwort EU-Diktatur, tja, das war jetzt die kürzest mögliche Fassung,
aber dahinter verbirgt sich natürlich etwas, was in bestimmten linken
wissenschaftlichen Kreisen unter dem Stichwort geostrategische
Interessen deutscher Außenpolitik nicht erst seit Wilhelm schon länger
diskutiert wird. Da gibt es ziemlich schlaue Bücher drüber. Was wir
jetzt beobachten können ist etwas, wofür wir vor zehn Jahren noch
ausgelacht worden wären, hätten wir gesagt, Deutschland ist auf dem Weg,
strebt an, will werden, die Struktur zwingt das System dazu, es werden
zu wollen, nämlich Führungsnation in Europa. Und jetzt ist es schon fast
als Normalzustand abgehakt. Ich erinnere mich noch an
Schwachsinnsdebatten aus den 90ern, mit irgendwelchen Grünlingen und
anderen Leuten, auch Reformisten aus der SPD, und ich glaube, ich habe
solche Texte auch bei der DKP gelesen. Da wurde über Zivilgesellschaft
geplappert und darüber, daß man den Kapitalismus zähmen könne. Dieser
ziemlich bekiffte Traum zieht sich auch durch das linke Programm.
Das zweite ist die Frage – und die war so gut gestellt, ich hätte es
selber nicht besser zusammenfassen können: Ja, es gibt ein staatlich
finanziertes Nazinetzwerk, die NSU und andere faschistische
Organisationen, man sollte sie nicht mehr »Neonazis« nennen. (...)
Diese Netzwerke gäbe es nicht ohne staatliche Finanzierung, und
deswegen löst man das Problem auch nicht, obwohl ich eigentlich dafür
bin, durch ein NPD-Verbot. Das ist nur eine Beruhigungstaktik, weil es
die faschistischen Strukturen in Teilen der Institutionen – und vor
allem den Rassismus in dieser Gesellschaft und den Antisemitismus in
seinen Spielarten gibt. Der läßt sich ja leider nicht verbieten. Der
blüht dann anderweitig weiter, und ich weiß auch nicht, ob man einen
Sarrazin verbieten kann – kann man nicht. Aber man begreift in dem
Moment, wo der in München im Literaturhaus sitzt und selbst bei ganz
moderat, ich würde sagen, biederbraven, höflichen Fragen – nicht so
welchen, die ich gestellt hätte –, vor bürgerlichem Publikum, die Leute
ausgebuht und fast rausgeschmissen werden – es war ein Mob, der sich da
äußerte. In dem Moment sind wir mitten in Deutschland, und dann nützt
auch kein NPD-Verbot etwas, weil wir diese Kreise damit nicht erreichen.
Jetzt möchte ich gern den Sprung machen zu dem, was andere gesagt haben
und was mich besonders kitzelt, darauf einzugehen, und meiner Rolle
gerecht zu werden, den Reformismus niederzumachen – ich hoffe mit
einigem Erfolg. Nötig ist immer wieder der Verweis auf den wunderbarsten
aller Klassiker, nämlich Marx, aber auch noch ein paar andere Autoren,
ich kann das ja offenlegen, schätzen tue ich zum Beispiel auch
Luxemburg, aber auch Krahl, Marcuse und noch so ein paar andere, damit
ihr irgendwo wißt, wo das herkommt, was ich so denke.
Wir haben
einen Krieg, der ist längst erklärt, das muß man sich nicht andauernd
erzählen, den Krieg haben Milliardäre erklärt, und sie haben auch gleich
angekündigt, vor fast zehn Jahren jetzt, daß sie diesen Krieg gewinnen
werden. (…)
Dieses System herrscht weltweit, und was mich an
diesem linken Programm so ärgert: Es gibt ein paar Bonbons für den
linkeren Teil der Partei, aber die Hauptlinie heißt: Kapitalismus ist
reformierbar. Und dann soll man immer klatschen und sich freuen, wenn
einer sagt, ich will aber wirklich keinen Krieg. (...)
Kapitalismus ist schon in seinem menschenzerstörenden und
naturplündernden Normalzustand unser Problem, ist täglicher Krieg und
täglicher Terror. Was über diesen terroristischen Normalzustand hinaus
geht, das zusätzliche Dilemma des Kapitalismus ist seine
Krisenhaftigkeit. Deshalb kommt es zu diesen systemischen Schüben und
verschiedenen Schritten und Wandlungsformen, aber immer nur innerhalb
des Kapitalismus – es wird nicht was anderes, Besseres draus, und schon
gar nicht eine andere, bessere Welt. So groß sind die Risse nicht. Und
so groß ist auch die Legitimationskrise nicht. Diese
Überproduktionskrisen, die regelmäßig kommen wie eine Krankheit, wie
eine Grippe im Winter, sind eine Gesetzmäßigkeit. Was aber immer
unterschätzt wird von vielen Linken, auch von vielen linken Strömungen
außerparlamentarischer Art, ist die äußerste Wandlungsfähigkeit des
Kapitalismus, einerseits den Feudalismus abgeschafft zu haben, aber
andererseits das Patriarchat zu übernehmen, was in diesem Programm
komischerweise neben dem Kapitalismus steht, als ob es etwas Eigenes
sei, genau wie die Ökologie daneben steht und nicht Teil des
Kernproblems ist. (...)
Wie Herbert Marcuse das 1967 auch in
Berlin sagte: Die Utopie ist an ihrem Ende, weil alle Techniken
entwickelt sind, um den Menschen und die Natur zu zerstören; aber auch
alle Mittel entwickelt sind, mit ein paar Variationen, um die Welt zu
einer menschenwürdigen zu machen mit einer Ökologie, die den Menschen
nicht zerstört und nicht krank werden läßt. Aber die Ruinierung des
Menschen und der Natur bleiben eben profitabler als ihr Glück und ihre
Freiheit und die soziale Gleichheit, die ja unser Wertmaßstab sein muß.
Die Sache ist also nicht die Frage fehlender Alternativen, sondern eine
der Herrschaft von Staat und Kapital – und wann und mit welchem Ziel wir
mit ihr brechen können.
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!