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Betr.: Artikel »Das war eine eklatante Fehleinschätzung«

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Früher hatte ich die PDS/Die Linke wegen Gregor Gysis gewählt, später nur noch (!) wegen Sahra Wagenknecht und ihrer Richtung; deswegen finde ich es korrekt, wenn die 10 Dissidenten ihr Bundestagsmandat behalten. Die Linke war für mich endgültig gestorben, nachdem sie die Friedensdemo und Unterschriftenaktion von Wagenknecht/Schwarzer abgelehnt und verleumdet hatten. Und: Wer hat Wagenknecht und Co. aus der Partei heraus gemobbt? Mir tut es nur leid um die vielen Parteimitglieder, die ehrlichen Herzens originär-linke Politik gemacht haben und nicht die Anbiederung an woke pseudolinke Milieus.

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»Das war eine eklatante Fehleinschätzung«

Partei Die Linke bei EU-Wahl auf 2,7 Prozent der Stimmen abgestürzt. Strategie vernachlässigte die Friedensfrage. Ein Gespräch mit Gesine Lötzsch

Sie wollen bei der nächsten Bundestagswahl nicht wieder antreten. Die Entscheidung sei bereits 2021 gefallen. Warum war für Sie jetzt der richtige Zeitpunkt, damit an die Öffentlichkeit zu gehen?

Ich wollte das nicht fünf Minuten vor der Neuaufstellung bekanntgeben, sondern allen Beteiligten genügend Zeit lassen, sich auf den Wechsel vorzubereiten. Ich habe sechsmal direkt für den Bundestag kandidiert und jedesmal direkt gewonnen. Außerdem habe ich geholfen, auf Bundesebene die parlamentarische Existenz der Partei zu sichern: 2002 mit Petra Pau zusammen und 2021 zusammen mit Sören Pellmann und Gregor Gysi. Zur nächsten Wahl 2025 werde ich 23 Jahre lang Mitglied im Bundestag gewesen sein. Das ist überdurchschnittlich lange. Es ist Zeit, an die nächste Generation zu übergeben. Außerdem war mir jetzt wichtig, mich nach diesem EU-Wahlergebnis öffentlich zu äußern.

Die Linkspartei erzielte 2,7 Prozent, nachdem sie zuvor mit 5,5 Prozent im EU-Parlament vertreten war. Wie intensiv wird das aufgearbeitet?

Die Genossen in den Basisgruppen, in den Kreisverbänden und in den Landesverbänden befassen sich sehr intensiv damit. Dort, wo jetzt die Landtagswahlen anstehen, ist den Landesverbänden klar, dass wir erkennbar sein müssen in den Fragen Soziales und Frieden.

Für das schlechte Abschneiden haben Sie auch den Parteivorstand verantwortlich gemacht. Wo sehen Sie Fehler in dessen Strategie?

Es gab viel zu wenig Schwerpunktsetzung auf das Thema Frieden. Diese Strategiediskussion hat es ja bis in den Spiegel geschafft. Da wurden Geschäftsführung und Wahlkampfleitung damit zitiert, dass das Thema Frieden von unserer potentiellen Wählerschaft vor allem ältere Ostdeutsche interessiere. Das halte ich für eine eklatante Fehleinschätzung, der aus der Partei deutlich entgegengetreten werden muss.

Sie haben auch kritisiert, dass der Vorstand sich für die als Seenotretterin bekannt gewordene Carola Rackete als EU-Spitzenkandidatin entschieden hatte. Die Delegierten folgten mehrheitlich dem Vorschlag der Parteispitze.

Ich habe Carola Rackete auf dem Parteitag in Bonn erlebt. Dort sprach sie sehr bewegend über ihre Arbeit. Aber wenn Sie auf einem Parteitag Kandidatinnen und Kandidaten präsentieren als Spitzenteam und dabei eine Person, die nicht Mitglied der Partei ist, dann wird kein Parteitag diese Person nicht wählen. Doch als Kandidatin für das EU-Parlament konnte sie die Erwartungen nicht erfüllen. Die Partei kannte sie nicht, und sie kannte die Partei nicht. Das war das Problem.

Wollte man mit dieser Personalentscheidung am Ende die falsche Zielgruppe ansprechen?

Ich verweise dazu mal auf einen Leserkommentar in der Taz. Da schrieb jemand sinngemäß: »Na ja, man hatte schon immer den Eindruck, dass eine Stimme, die in den Innenstadtbezirken den Grünen abgejagt wird, quasi eine edlere Stimme ist als eine, die Die Linke in Marzahn, Hellersdorf oder Hohenschönhausen der AfD oder einer anderen Partei wieder abgejagt hat.«

In den Bundestag konnte die Linkspartei 2021 durch die drei Direktmandate in Fraktionsstärke einziehen. Doch die Fraktion spaltete sich, das Bündnis Sahra Wagenknecht wurde gegründet. Inwiefern hat die Linke-Spitze hier leichtfertig agiert?

Im Sommer 2023 forderte der Parteivorstand Sahra Wagenknecht auf, ihr Mandat niederzulegen. Doch gerade eine so kleine Formation wie wir mit 4,9 Prozent der Abgeordneten hätte immer wieder herausfinden müssen, wo unser gemeinsamer Nenner ist – und nicht die Spaltung vorantreiben. Bestimmte temporäre Zusammenschlüsse in der Partei forderten Sahra Wagenknecht auf, endlich zu gehen. Aber als sie dann ging und andere mit ihr, war der Schock groß. Das konnte man sich vorher ausrechnen. Jetzt sind wir in dieser schlechten Lage als Gruppe im Bundestag mit noch weniger Rechten als unsere damalige PDS-Gruppe (Partei des demokratischen Sozialismus, jW). Man hat uns nun Plätze außerhalb des Bereiches mit Tischen zugewiesen. Im Fernsehen werden wir dadurch von der Kamera so gut wie nicht mehr erfasst. Jetzt sind wir manchmal erst auf Platz 13 oder 14 der Rednerliste. In vielen Bürgergesprächen heißt es: »Ihr seid ja jetzt nicht mehr im Bundestag«. Diese ganze von unseren Gegnern auch gewollte Demütigung hätten wir uns ersparen können.

Wo lagen jene Gemeinsamkeiten?

Viele bei den sozialen Fragen. Aber es gab einen Kippunkt, wo die Weichen für die Trennung gestellt schienen: die Friedenskundgebung am Brandenburger Tor von Wagenknecht und Alice Schwarzer im Februar 2023. Den Aufruf dazu hatten unsere früheren Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten, Christoph Butterwegge, Luc Jochimsen und Gerhard Trabert, sowie auch Gregor Gysi unterstützt. Der Parteivorstand dagegen nicht – eine ganz fatale Entscheidung. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine hatten wir gesagt, wir müssen die Partei sein, die alles daransetzt, eine große Friedensbewegung zu organisieren. Das ist uns nicht gelungen.

Sie haben die BSW-Abgeordneten zum Mandatsverzicht aufgerufen und geschrieben, dass man »für eine Veränderung der Politik unserer Partei auch in ihr streiten, kämpfen und ringen« könne. Gilt das auch für Ihre Zeit bis zur nächsten Bundestagswahl und darüber hinaus?

Ich werde weiterhin in dieser Partei kämpfen und arbeiten, vor allen Dingen für die Bürgerinnen und Bürger. Im Bundestag will ich unsere Themen noch so adressieren, dass davon auch was ankommt bei den Leuten. Vor Ort im Wahlkampf werde ich die Genossinnen und Genossen unterstützen. Zum Mandatsverzicht: Es gibt ja die Besonderheit, dass alle der ursprünglich 36 Fraktionskollegen nur wegen unserer drei Direktmandate im Bundestag sitzen. Selbstverständlich ist ein Direktmandat nicht der persönlichen Schönheit geschuldet. Man wird von seiner Partei unterstützt, klar, dennoch steht man viel mehr mit seinem Namen und Gesicht im Vordergrund …

… und mit den Inhalten, die man nach vorne stellt. In Ihrem Fall Haushalts- und Friedenspolitik. Haben Sie ein besonderes Interesse daran, im Parteivorstand aktiv zu werden?

Im Parteivorstand nicht, aber sicherlich in bestimmten Arbeitsgruppen. Die Frage ist, ob es Interesse an den Erfahrungen gibt. Ich werde auf alle Fälle in meinem Wahlkreis oder dann im Bezirksverband Lichtenberg aktiv die Arbeit unterstützen.

Welche Erfahrungen können Sie weitergeben?

Gerade wenn man direkt gewählt werden möchte, muss man sich ein relevantes Thema im Bundestag suchen und das so bearbeiten, dass einen die Wählerinnen und Wähler auch mal im Fernsehen sehen. Das ist augenscheinlich für viele Leute wichtig. Die eigenen Botschaften kommen nur an, wenn die Leute sagen können: »Das ist jemand von uns, und sie/er ist für uns da«. Bei großen Veranstaltungen vor Ort kommt man mit sehr vielen Menschen ins Gespräch.

Und wie schwer ist es, dabei linke Haushaltspolitik zu vermitteln?

Was Linkes durchzusetzen ist erstmal ganz kompliziert. Aber ich weise immer darauf hin, wie die SPD früher sagte, sie würde ja gerne Soziales umsetzen, aber in der Großen Koalition mit der CDU/CSU dürfe sie nicht. Jetzt ist sie Kanzlerpartei und FDP-Finanzminister Christian Lindner an allem schuld.

Wie erklären Sie das in Gesprächen vor Ort?

Parteien vertreten unterschiedliche Interessen. Die FDP hat diese Regierung augenscheinlich fest in der Hand und vertritt die Interessen der Reichen im Land. Man muss die Dinge viel deutlicher ansprechen, als wir das manchmal machen. Wer zum Beispiel hat Interesse an Kriegen? Leute, die am Krieg verdienen! Ganz einfach.

Die Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen finden am 1. September, in Brandenburg am 22. September statt. Erst im Oktober aber soll es einen Bundesparteitag von Die Linke geben, für den Sie eine Strategieänderung einfordern. Ist das nicht längst zu spät?

Ich gehöre nicht zu denen, die die Totenglöckchen läuten oder läuten hören. 1989 wusste keiner, wie sich die Dinge entwickeln. 2002, nachdem nur Petra Pau und ich in den Bundestag gekommen waren, war die Situation alles andere als aussichtsreich. Ich hoffe nicht, was unsere jetzige Lage betrifft, dass es zu spät ist. Die grundlegenden Ziele soziale Gerechtigkeit, Frieden, Demokratie, Solidarität bleiben ja richtig.

In Thüringen stellt die Linkspartei den Ministerpräsidenten. In Brandenburg flog sie bei der vorherigen Wahl aus der Regierung.

Was Thüringen betrifft, ist es wichtig, alles zu tun, um Bodo Ramelow zu unterstützen. Denn er hat ja sehr, sehr hohe Zustimmungswerte. Man muss den Leuten klar sagen: Wer Ramelow will, muss Die Linke wählen. Insgesamt müssen wir der rasanten und radikalen Militarisierung unserer Gesellschaft entschlossen entgegentreten. In persönlichen Gesprächen merke ich, wie stark militaristische Botschaften bei den Leuten wirken. Ich habe mit zwei jungen Frauen gesprochen, die zum ersten Mal bei der EU-Wahl abstimmen durften. Eine 16jährige sagte zu mir, wir dürfen nicht bei der Bundeswehr kürzen, denn die wurde ja kaputtgespart. Ich fragte sie, wie sie darauf kommt, nannte ihr die Zahlen – von Jahr zu Jahr mehr Milliarden für die Bundeswehr.

… im Bundestag laufen schon die nächsten Haushaltsverhandlungen.

Richtig. Und da ist es mein Hauptanliegen, diese wahnsinnigen Militärausgaben zurückzudrängen.

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