75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Dienstag, 2. Juli 2024, Nr. 151
Die junge Welt wird von 2819 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €

Leserbrief verfassen

Betr.: Artikel Wird die NATO Russland angreifen?

Sie antworten auf den Leserbrief

»In dieser Hinsicht steht Russland vor der schwierigen Aufgabe, die Eskalation bei geringer Aufnahmefähigkeit des Westens für an ihn gerichtete Signale einzudämmen.« So schwierig ist diese Aufgabe nicht. Man könnte ja damit anfangen, diesen unsinnigen Krieg gegen die Ukraine zu beenden. Aber in dem Artikel wurde vergessen zu erwähnen, dass sich Russland eben auch in einer Eskalationsspirale verfangen hat. Es war doch bestimmt nicht so gedacht, dass sich der Krieg nun schon ins dritte Jahr hinzieht. Deshalb hieß er ja auch »Spezialoperation«. Aber man kann eben nicht einfach mal so Hunderttausende der eigenen Soldaten in selbstmörderischen Angriffswellen verbraten und dann sagen: »Ach nee, das war wohl nichts, das lassen wir mal lieber.« Russland ist auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, diesen Schlamassel zu gewinnen. Noch kann die dortige Regierung ihrer Bevölkerung wohl verklickern, dass das in Kiew alles nur böse Bandera-Faschisten sind und man deshalb für eine gerechte Sache kämpfe. Aber wie lange noch? Auch dem letzten Russen muss doch irgendwann aufgehen, dass man so kein »Brudervolk« für sich gewinnt. Genau darauf spekuliert der Westen. Dazu braucht er Russland gar nicht selbst anzugreifen. Und das hat er wohl auch tatsächlich nicht vor. Er weiß nur zu gut, dass Russland ein ganz anderes Kaliber wäre als der Irak und Afghanistan zusammen. Aber seine ukrainischen Verbündeten nur auf kleiner Flamme zu unterstützen und sich ansonsten nicht die Hände schmutzig machen zu wollen, darin besteht die eigentliche Gemeinheit. Dann wäre es wirklich besser gewesen, sich rauszuhalten, das Land schnell zusammenbrechen zu lassen und abzuwarten, ob sich Russland an dem Brocken verschluckt.

Artikel »Wird die NATO Russland angreifen?« einblenden / ausblenden

Wird die NATO Russland angreifen?

Die Furcht europäischer NATO-Staaten vor einem Rückzug der USA führt schon jetzt zu radikalen Tönen. Ein Krieg ist wahrscheinlich

Die Frage eines großen Krieges in Europa stellt sich heute dringlicher denn je, gerechnet ab der Mitte des 20. Jahrhunderts. Westliche Analytiker diskutieren eine Vielzahl Konfliktszenarien, Personen in politischen Funktionen spekulieren offen über die Wahrscheinlichkeit eines Krieges und diskutieren sogar Zeit­horizonte. Vor kurzem hatte der russische Präsident Wladimir Putin in einer Rede erklärt, dass das Vorgehen westlicher Regierungen die Welt »an den Punkt ohne Wiederkehr« gebracht habe. Zugleich herrscht in Russland die Überzeugung vor, dass sich die USA und ihre Verbündeten der katastrophalen Risiken eines direkten militärischen Zusammenstoßes mit Moskau bewusst sind und aus Selbsterhaltungsgründen versuchen werden, einen solchen zu vermeiden.

Derartige Urteile basieren auf der Annahme, dass sich der Westen, seiner Aggressivität und Arroganz zum Trotz, von einer rationalen Nutzen-Kosten-Abwägung leiten lässt, die auf der Einschätzung des bestehenden Kräfteverhältnisses basiert. Allerdings überzeugen uns bisherige Erfahrungen nicht von der Fähigkeit der NATO-Staaten, einen ausgewogenen, berechenbaren Kurs zu verfolgen. Im Verlauf der 2000er bis 2010er Jahre gerieten sie immer wieder in militärische Abenteuer, aus denen sie dann mühsam einen Ausweg suchen mussten. In Afghanistan, Irak und ­Libyen zum Beispiel. (…)

Bezeichnend ist das jüngste Eingeständnis von US-Präsident Joseph ­Biden: »Wenn wir jemals zulassen, dass die Ukraine scheitert, denken Sie an meine Worte. Sie werden Polen gehen sehen, und Sie werden sehen, wie all diese Länder entlang der jetzigen Grenze zu Russland beginnen, ihre eigenen Verständigungen zu machen.« Man kann festhalten: Die gute alte »Domino-Theorie« hat sich in den Köpfen westlicher Strategen wieder etabliert.

Gespaltenes Bewusstsein

Die wachsende Verbitterung westlicher Länder gegenüber Russland steht im Einklang damit, bewaffnete Konflikte aus der Logik des Präventivkriegs zu erklären. (…) Im Lauf der Geschichte waren große Kriege in der Regel Resultat genau solch präventiver Logik – dem Streben danach, einen Schlag zu führen, der der eigenen erwarteten Schwächung zuvorkommen sollte. Der Zerfall des kontinentalen Blockadesystems veranlasste Napoleon, Russland anzugreifen. Die deutsche Furcht vor der Aussicht einer Modernisierung der russischen Armee war der Auslöser des Ersten Weltkriegs.

Eine analoge Dynamik ist heute in der Politik des Westens zu beobachten. (…)

Aufgrund des Scheiterns der Pläne, die russische Wirtschaft durch einschränkende Maßnahmen zu zerstören und Moskau durch Kiew eine strategische Niederlage zuzufügen, rückt der Westen immer näher an den Rand eines direkten militärischen Konflikts. Zugleich zeigt sich ein abnehmendes Gespür gegenüber den möglichen Folgen eines solchen Szenarios. Wie Casinospieler erhöhen auch die USA und ihre Verbündeten den Einsatz mit jedem weiteren Spiel immer mehr.

Die Risikobereitschaft westlicher Länder wird durch eine widersprüchliche Sicht auf Russland verstärkt. Sie werden nicht müde zu wiederholen, dass das Potential Moskaus früher stark überschätzt und durch den Ukraine-Krieg noch weiter geschwächt wurde. Gleichwohl rechtfertigen sie, ohne sich der Dissonanz bewusst zu sein, die Aufstockung ihrer eigenen Streitkräfte mit der zunehmenden russischen Bedrohung. (…)

Die Darstellung Russlands als »Papiertiger« – eines aggressiven, aber schwachen Players – legt den Grundstein für eine präventive Eskalation, um die für den Westen ungünstigen Entwicklungstendenzen in der Konfrontation umzukehren. Das kann nicht nur in der ­Ukraine unternommen werden. Ein Beleg dafür ist die regelmäßig in westliche Diskussionen eingebrachte Idee, den Zugang Moskaus zur Ostsee einzuschränken und dabei die unvermeidliche Reaktion auf Bedrohungen für Kaliningrad zu ignorieren.

Quo vadis?

Bislang haben westliche Politiker die Idee eines bewaffneten Angriffs auf Russland nicht direkt geäußert. Derzeit reden wir über die Erhöhung der Einsätze in der Annahme, dass Moskau sich nicht trauen werde, darauf zu reagieren. Darüber hin­aus ist weiterhin die These zu hören, dass die NATO und ihre Mitgliedstaaten keine direkte militärische Konfrontation wollen. Diese Zusicherungen beseitigen nicht zwei Arten von Gefahren.

Erstens könnte der Westen – mit der Zuverlässigkeit nuklearer Abschreckung rechnend – das Spiel zu weit treiben und zu einer solchen Provokation übergehen, die Moskau zwingt, seine lebenswichtigen Interessen mit allen verfügbaren Mitteln zu verteidigen. Die genannten Vorhaben zur Schließung der Ostsee versprechen genau solch eine Tändelei.

Zweitens ist der Trend zum Abenteurertum gefestigt und gewährt die Aussicht auf eine weitere Verschiebung der Grenzen dessen, was für die NATO akzeptabel ist. Die Logik der Konfrontation führt dazu, dass die Einsätze immer weiter steigen, auch aufgrund der Akkumulation von bereits angefallenen Kosten. Im Ergebnis dessen beginnen die Mittel, die Ziele zu diktieren.

Ein weiterer Faktor ist der kollektive Charakter des Westens. (…) Mittlerweile steigert der Vasallenstatus europäischer Staaten ihr Interesse an einer Eskalation. Die Angst der US-Verbündeten vor der Perspektive, dass Washington, das mit der Konkurrenz zu China beschäftigt ist, das Interesse an ihnen verlieren und sich wieder auf asiatische Angelegenheiten umorientieren könnte, ist unausweichlich. Als Verkörperung dieser Horrorgeschichte dient die Figur Donald Trump, doch in europäischen Hauptstädten herrschen Befürchtungen, dass dieses Szenario unabhängig von der amtierenden Person Wirklichkeit wird.

Die US-Verbündeten gehen davon aus, dass die Zeit gegen sie arbeitet. Dementsprechend kommt der Konfrontation mit Russland eine instrumentelle Funktion zu, die dazu beiträgt, die Aufmerksamkeit Washingtons auf die europäische Agenda zu richten. Bereits die Auseinandersetzungen im US-Kongress über die Finanzierung Kiews zu Beginn des Jahres 2024 wurden zu einem Weckruf und zeigten, dass die USA in ihre eigene Küche vertieft sind.

Geleitet von der Logik der Präemption könnten europäische Mitgliedstaaten der NATO zu dem Schluss kommen, dass das Provozieren einer Konfrontation jetzt, solange die Vereinigten Staaten in den Konflikt in der Ukraine verwickelt sind und Russland eindämmen, dem Szenario vorzuziehen wäre, die Last der Konfrontation mit Moskau in Zukunft allein zu tragen – ein Szenario, das sie nicht ausschließen.

Es ist nicht verwunderlich, dass gerade von seiten europäischer Politiker die unverantwortlichsten und radikalsten Vorschläge ertönen – etwa die Entsendung von Truppen in die Ukraine oder die Ausweitung der NATO-Garantien auf von Kiew kontrollierte Gebiete. Die innere Dynamik innerhalb des Westens fördert den Wettbewerb um den Status als unnachgiebigster Bekämpfer Russlands.

Von der Planung zur Praxis

In der Praxis bereiten sich die NATO-Mitgliedstaaten aktiv auf einen militärischen Zusammenstoß mit Moskau vor. Das neue Modell der Streitkräfte des Bündnisses, das auf dem Madrider Gipfel 2022 verabschiedet wurde, und die auf seiner Grundlage erstellten regionalen Pläne sehen die Entsendung einer bedeutenden Gruppe von 300.000 Menschen innerhalb von 30 Tagen zusätzlich zu den bereits an den Grenzen Russlands stationierten Truppen vor.

Letztere basieren auf den expandierenden und modernisierten Kontingenten der Länder Mittel- und Osteuropas. Polen sticht in dieser Hinsicht besonders heraus und beansprucht den Status der wichtigsten NATO-Bastion, den die Bundeswehr in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts innehatte. Die Aufstockung auf 300.000 Menschen soll seine Streitkräfte zur größten Landarmee des Bündnisses unter den europäischen Mitgliedstaaten machen.

NATO-Mitglieder üben offen Kampfszenarien auf potentiellen Schauplätzen in Ost- und Nordeuropa. Großer Wert wird auf die Beherrschung der Lehren aus dem bewaffneten Kampf in der ­Ukraine gelegt. Zu diesem Zweck entsteht im polnischen Bydgoszcz ein spezielles Zentrum, das einen regelmäßigen Erfahrungsaustausch zwischen westlichen und ukrainischen Militärs gewährleisten soll.

Lange Zeit waren das schwache Glied der westlichen Bemühungen die begrenzten Fähigkeiten der Militärindustrie. Allerdings legen die NATO-Mitgliedstaaten zunehmend Wert darauf, diese Einschränkung zu überwinden. (…)

Experten des einflussreichen Washington Center for Strategic and International Studies charakterisierten in einem aktuellen Bericht die Zwischenergebnisse der westlichen Bemühungen und fassten zusammen, dass die NATO für einen zukünftigen Krieg bereit ist. Diese dröhnende Schlussfolgerung ging mit der Klarstellung einher, dass das Bündnis noch daran arbeiten muss, sich auf eine langwierige Konfrontation vorzubereiten, die in einen Zusammenstoß mit Russland zu münden droht.

Solche widersprüchlichen Schlussfolgerungen sind eindeutig von politischer Zweckmäßigkeit diktiert – einerseits vom Bestreben, die Richtigkeit des gewählten Kurses zur Eindämmung Moskaus zu bestätigen, andererseits von der Notwendigkeit, die Mitgliedstaaten der Allianz zu weiteren Anstrengungen im militärischen Bereich zu mobilisieren. Das verstärkt noch einmal die Logik des Spiels, die Einsätze zu erhöhen.

Suche nach »goldener Mitte«

Die Analyse zeigt, dass die Antwort auf die im Titel gestellte Frage mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Ja ist. In dieser Hinsicht steht Russland vor der schwierigen Aufgabe, die Eskalation bei geringer Aufnahmefähigkeit des Westens für an ihn gerichtete Signale einzudämmen. Versuche, den Ernst der Lage zu vermitteln, werden entweder beiseite gewischt oder als Ausdruck russischer Aggressivität interpretiert. Angesichts einer solchen Indoktrination besteht die Gefahr, in eine ähnliche Begeisterung zu verfallen und den Gegner durch noch riskantere Demonstrationen von Entschlossenheit zum Verlassen seiner abenteuerlichen Linie zu zwingen. Bisher ist es der russischen Führung gelungen, diesen Versuchungen zu widerstehen.

Zweifellos muss auf Versuche des Westens, den Einsatz zu erhöhen, reagiert werden. (…) Aussagen über die mögliche Weitergabe von Langstreckenwaffen an US-Widersacher wie auch der Besuch russischer Schiffe in Kuba sind in diesem Zusammenhang logische Schritte.

Möglich, dass das Spektrum an Antworten auch den Verlust von Drohnen, die für die Ukraine über dem Schwarzen Meer aufklären, einschließt. Darüber hinaus rechtfertigt der letztgenannte Umstand die Erklärung eines direkten Flugverbots für sie in angrenzenden Gewässern. Ergänzend zu den Eindämmungsmaßnahmen Russlands könnten auch Manöver in der Ostsee, im Mittelmeer oder im Nordatlantik gemeinsam mit anderen Staaten stattfinden, die den Status von Gegnern des Westens erlangt haben.

Eine Kalkulation mit Einschüchterungsaktionen muss mit der historischen Erfahrung abgewogen werden, die besagt, dass die Reaktion darauf häufig Erbitterung beim Gegner ist, nicht ein Zugeständnis. Das stellt insbesondere die Stichhaltigkeit des früher geäußerten Vorschlags von Atomschlägen zu Demonstrationszwecken in Frage. Handlungen dieser Art führen eher zu Konsequenzen, die das Gegenteil von dem sind, was ihre Autoren beabsichtigen. Sie bringen einen direkten militärischen Zusammenstoß mit der NATO näher, statt ihn zu entfernen.

Leserbriefe müssen redaktionell freigeschaltet werden, bevor sie auf jungewelt.de erscheinen. Bitte beachten Sie, dass wir die Leserbriefe Montags bis Freitags zwischen 10 und 18 Uhr betreuen, es kann also einige Stunden dauern, bis Ihr Leserbrief freigeschaltet wird.

Sie erklären sich damit einverstanden, dass wir dessen Inhalt ggfls. gekürzt in der gedruckten bzw. Online-Ausgabe der Tageszeitung junge Welt und in sog. sozialen Netzwerken wiedergeben können. Es besteht kein Anspruch auf Veröffentlichung. Die junge Welt behält sich Kürzung Ihres Leserbriefs vor.

Bitte beachten Sie unsere Netiquette (einblenden / ausblenden)

Netiquette

Liebe Leserin, lieber Leser,

bitte beachten Sie die folgenden Hinweise für Ihre Beiträge zur Debatte.

Ihr Leserbrief sollte sich auf das Thema des Artikels beziehen. Veröffentlicht wird Ihr Beitrag unter Angabe Ihres Namens und Ihres Wohnortes. Nachname und Wohnort können abgekürzt werden. Bitte denken Sie daran, dass Ihr Text auch nach Jahren noch im Internet auffindbar sein wird. Wir behalten uns eine redaktionelle Prüfung vor, ein Anspruch auf Veröffentlichung besteht nicht.

Für uns und unsere Leser sind Ihre eigenen Argumente interessant. Texte anderer sollen hier nicht verwendet werden. Bitte bleiben Sie auch im Meinungsstreit höflich. Schmähungen oder Schimpfwörter, aggressive oder vulgäre Sprache haben hier keinen Platz. Denken Sie daran: »Auch der Haß gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge.« (Bertolt Brecht)

Äußerungen, die als diskriminierend, diffamierend oder rassistisch aufgefasst werden können, werden nicht toleriert. Hinweise auf kommerzielle Angebote jeder Art sind ausdrücklich nicht gewünscht. Bitte achten Sie auf die Orthografie und bitte nicht »schreien«: Beiträge, die in Großbuchstaben abgefasst wurden, werden von uns gelöscht.

Die Moderation bedeutet für unsere Redaktion einen zusätzlichen Aufwand: Leserbriefe zu älteren Artikeln sind deshalb nur befristet möglich. Außerdem kann es etwas Zeit in Anspruch nehmen, bis die Redaktion Ihren Leserbrief bearbeiten kann, dafür bitten wir um Verständnis. Orthografische Änderungen durch die Moderation machen wir nicht kenntlich, Streichungen mit eckigen Klammern.

Viel Freude am Debattieren!