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Betr.: Artikel Die große Verwurstung

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Die große Verwurstung

Wieviel davon war gut? »Nixon in China« von John Adams an der Deutschen Oper Berlin

Die Deklamation einer Verpflichtung ist es, mit der die Oper »Nixon in China« von John Adams (Musik) und Alice Goodman (Libretto) eröffnet. Zitiert werden Maos »Drei Regeln und acht Punkte« von 1947. Die Verpflichtungen der Roten Armee gegenüber der Zivilbevölkerung, sich angemessen höflich zu verhalten. Eine Armee, die nicht plündert, brandschatzt, vergewaltigt? Sie wird den Bürgerkrieg gewinnen.

»Pay a fair price for all you buy / Pay to replace what you destroy«, singt der Chor. Und bei dem einen oder anderen schwingt darin vielleicht eine Ahnung des dritten Zusatzartikels der US-amerikanischen Verfassung mit, dass kein Soldat sich ohne Einwilligung des Besitzers in dessen Haus einquartieren dürfe. Im Frieden nicht und im Krieg auch nicht.

Bekanntlich gehören sowohl die VR China als auch die USA zu den Ländern, zu deren Gründung ein Bürgerkrieg erforderlich war. In einem Fall die Revolution von Philosophen, Journalisten, Arbeitern und (hauptsächlich) Bauern. Im anderen Fall die von Philosophen, Journalisten, Sklavenhaltern und Schnapsbrennern. Sie alle teilen eine gewisse historische Perspektive.

Aber da ist noch etwas anderes, das da mitschwingt. Eine ästhetische Selbstverpflichtung: Bewahren Sie den Ernst, halbwegs zumindest. Und wenn Sie aus Not und Notwendigkeit etwas entwenden, dann zahlen Sie auch Ihren Tribut.

In der aktuellen »Nixon in China«-Inszenierung an der Deutschen Oper, die am vergangenen Sonnabend Premiere feierte, gab es vom Musiktheaterkollektiv Hauen und Stechen (mit den Regisseurinnen Franziska Kronfoth und Julia Lwowski) noch einen Prolog mit postdramatischen Mätzchen: ein Video mit einem Starsänger-Mao, der im Foyer der Deutschen Oper in der Bismarckstraße vor Fans und Gefolge flieht, um in Ruhe eine zu rauchen. Inszenierung einer Inszenierung. Große Verdoppelungsverwirrung.

Die Frage ist nur, ob ausgerechnet »Nixon in China« solche Verdoppelungen nötig hat. In dieser Oper hat doch ohnehin schon alles einen doppelten Boden, sie ist die opernhafte Verkörperung des amerikanischen Postmodernismus der 1980er schlechthin. Als sie 1987 in Houston uraufgeführt wurde, galt sie als Pop-Art-Oper mit nichts als Karikaturen und Travestien. Aber da hatte man falsch gerechnet. Für gar nicht so wenige ist aus der Travestie die »große amerikanische Oper« des 20. Jahrhunderts geworden. »In ›Nixon in China‹ steckt eine ganze Welt«, sagt Daniel Carter, der musikalische Leiter des Premierenabends im Programmheft.

Und wenn direkt nach der Deklamation der Verpflichtung Richard Nixon und Gefolge (seine Ehefrau Pat und sein gehorsamer Diener Henry Kissinger, ja, sein »James Bond«, wie’s in Goodmans Libretto heißt) in Beijing landen und die Figur Nixon mit der an diesem Abend eindringlich schmetternden Baritonstimme von Thomas Lehman das Lob der Nachrichtensendungen singt »News has a kind of mystery«, dann klingt das nicht zuletzt deshalb so bravourös beschwingt, weil der melodische Einfall bei Nixons Ankunft der »Hochzeit des Figaro« entnommen ist.

Eine Welt des Zitats. Richard Wagner trifft auf Minimal Music mit Big-Band-Jazz. Inszenierung, Kostüme (Christina Schmitt) und Bühnenbild (Yassu Yabara) verdoppeln oder ergänzen sie. Man kann diese Ästhetik für falsch halten, aber man kann nicht behaupten, sie sei nicht absorptionsfähig und entsprechend reich und reizvoll. Sehr. In den Feuilletons war wiederholt von »Reizüberflutung« die Rede. Der Reiz allerdings ist keine Flut. Er ist eine Herausforderung.

Auch viele der Einfälle von Hauen und Stechen sind stichhaltig, haben eine historische Referenz – die rote Robe von Pat Nixon, die Pandabären, das Tischtennis, die Lethargie der Sowjets, das Entsetzen Taiwans. Oder sind fast schon zu offensichtlich: Maos Ehefrau ­Chiang Chi’ing (Hye-young Moon) ist in Anspielung an ihren Suizid 1991 von Beginn an nur im Schatten des Galgenstricks zu sehen. Andere Einfälle sind vornehmlich albern. Mao (Ya-Chung Huang) steckt plötzlich in einem Jabba-the-Hutt-Kostüm, der meditative dritte Akt der Oper – die Protagonisten singen von der historischen Zeit (Zweiter Weltkrieg, chinesische Revolution), von Hamburgern und Hungersnöten – spielt in einer grotesken postatomaren Fifties-B-Film-Landschaft mit turmhohen Pilzgewächsen, die aussehen wie Spargelstangen.

Das Zentrum der Oper, ein Stück im Stück – das Ballett »Das rote Frauenbataillon«, eine Parodie, eine Modelloper im Sinne der historischen Chiang Chi’ing –, ist, leicht verschenkt, in eine Wurstfabrik versetzt. Bei der großen Verwurstung vergewaltigt die Kissinger-Figur (Seth Carico) ein übermenschlich großes Würstchen. Die strahlendsten Momente hingegen haben Heidi Stober mit Pat Nixons Traumarie »I don’t daydream and don’t look back« und Kyle Miller mit der melancholischen Schlussarie des chinesischen Premierministers Chou En-Lai: »How much of what we did was good?«

Trotz technischer Unzulänglichkeiten bei Videoprojektion und elektrischer Verstärkung war doch einiges gut an dieser nach der von John Adams selbst dirigierten konzertanten Aufführung beim Musikfest 2012 erst zweiten Produktion von »Nixon in China« in Berlin, die unter Daniel Carter auch musikalisch immer die Spannung hielt.

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