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Kandidatin für alle?

Gouverneurswahlen in Tokio: Amtsinhaberin bekommt Konkurrenz von linksliberaler Kandidatin

Die nationale Politik in Japan ist arm an charismatischen Figuren. Das war schon immer so. Selbst das Feld der ehemaligen Premierminister wird von väterlichen Charakteren in Anzügen und Leisetretern dominiert, die nicht das Zentrum der Macht bilden, sondern den Ausgleich repräsentieren. Blickt man jedoch auf die regionale Politik, sind in den vergangenen Jahrzehnten einige Politiker aufgestiegen, die wegen ihrer Antiestablishmenthaltung als »Populisten« gelten.

Eine von ihnen ist Tokios Gouverneurin Koike Yuriko, deren Mandat am siebten Juli zur Wahl steht. Schon vor dem Wahlkampfbeginn am vergangenen Donnerstag war klar, dass es ein Medienspektakel werden würde. Neben Koike, die eine dritte Amtszeit anpeilt und als unabhängige Kandidatin antritt, hat sich nämlich auch Renho – die wohl bekannteste Oppositionspolitikerin Japans – aufstellen lassen. Die Presse stürzte sich begeistert auf diesen »Amazonenkampf«, nachdem sie vorher monatelang fast ausschließlich über die Niederungen eines Korruptionsskandals berichtet hatte, der die regierenden Liberaldemokraten (LDP) in Umfragen abstürzen ließ.

Renho arbeitet eng mit einer Bürgervereinigung zusammen, die sie zur Kandidatur überredet hatte. Die ehemalige Oppositionsführerin war zu Beginn des Wahlkampfs aus ihrer Partei, der linksliberalen Konstitutionell-Demokratischen Partei (KDP) ausgetreten, um als »unabhängige Kandidatin für alle« anzutreten. Vor Wochen kritisierte sie die Amtsinhaberin scharf und versprach bei einem Sieg einen »Neuanfang«. Die Zahlen sprechen für sie, denn während zu Beginn von Koikes Regierungszeit 2016 rund ein Viertel der Bürger Tokios über erschwerte Lebensbedingungen klagte, ist es heute fast die Hälfte. Vor allem die Inflation und sinkende Reallöhne drücken aufs Portemonnaie. Verantwortlich für die Misere ist auch Koike, die zuwenig für Abhilfe und Umverteilung tat. Dabei ist sie vor acht Jahren mit dem Versprechen angetreten, den LDP-Klüngel in der Stadtpolitik auszumisten und die Bürger ins Zentrum zu stellen. Dass eine Frau aus der LDP sich gegen eine so mächtige Partei positionierte, hatte zunächst aufhorchen lassen.

Doch schon bald stellten sich Koikes Versprechen als bloßes Gerede heraus. In der Baupolitik und bei Olympia im Jahr 2021 arbeitete sie eng mit den rechten Liberaldemokraten zusammen. Im aktuellen Wahlkampf wird sie von ebendieser LDP und deren Juniorpartner Komeito unterstützt, ohne dass die beiden Parteien jedoch eine offizielle Wahlempfehlung herausgegeben hätten. Renho ihrerseits kann auf die Hilfe der Oppositionsparteien wie der KDP oder der Kommunisten (KPJ) zählen – ein Lackmustest für die nächsten nationalen Unterhauswahlen 2025.

Wahlentscheidend, so glaubte man lange, werde sein, wieweit Renho von der derzeitigen Unbeliebtheit der LDP und deren Chef und Premierminister Kishida Fumio profitieren kann. Und ob die deutliche Wahlkampfhilfe der marxistischen KPJ für Renho ihr bei unentschlossenen Wählern zum Nachteil gereicht. Doch obwohl Kishidas Beliebtheitswerte weiterhin im Keller verweilen, zeigen neueste Umfragen, dass Amtsinhaberin Koike im Feld von 56 Kandidaten deutlich vor ihrer Herausforderin führt. Renho machte in den vergangenen zwei Wochen den Fehler, dass sie die Kritik an Koike abschwächte, um sich ein weicheres Image zu geben. Dadurch wurden die Unterschiede zwischen den beiden Kontrahentinnen teilweise verwischt. Beide konzentrieren sich vor allem auf die Erziehungshilfe, nachdem die Fertilitätsrate in Tokio auf 0,99 gesunken ist.

Doch der Vorsprung der Amtsinhaberin hängt auch stark mit ihrer Persönlichkeit zusammen. Der bekannte Verfassungsrechtler Kobayashi Setsu nannte sie gegenüber jW ein »Political animal« – eine Vollblutpolitikerin, die nichts dem Zufall überlässt. Sie hat die Chefposten in ihrer Verwaltung mit Getreuen besetzt, liebt das Spektakel und kontrolliert die Medien. Eine Niederlage Renhos würde den Höhenflug der KDP, die im Frühling drei Ersatzwahlen und eine Gouverneurswahl gewann, vorerst stoppen. Ob ein Sieg Koikes jedoch eine Trendumkehr in der nationalen Politik bedeuten könnte, wie einige der hiesigen Beobachter vermuten, muss sich erst weisen.

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