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Im Zeitraffer

Die Stadt verändert sich: Fotos von Michael Ruetz in der Berliner Akademie der Künste

Die Fotografie ist das Medium zur Sichtbarmachung von Entwicklung und Veränderungen. Den minutiösen Ablauf von Bewegung untersuchte Eadweard J. Muybridge in seinen stilprägenden Aufnahmen. Was für Spuren der politische Alltag über einen Zeitraum von sieben Jahren in den Gesichtern der Macht hinterlässt, hat Herlinde Koelbl mit ihrer Kamera festgehalten. Auch die Stadt als ständiger Ort des Wandels war immer schon ein dankbares Objekt der Fotografie.

»Aber ist nicht jeder Fleck unserer Städte ein Tatort?« fragte Walter Benjamin in seiner »Kleinen Geschichte der Photographie«. Ja, könnte die Antwort lauten, denn die Stadt ist Tatort von Stadtplanern, -politikern, Investoren und Architekten. Oft zitiert ist zur deutschen Hauptstadt Karl Schefflers über 100 Jahre altes Aperçu, dass Berlin verdammt sei »… immerfort zu werden und niemals zu sein«.

Abbildung der Zeit

Prozesse des Werdens sind Gegenstände zweier aktueller Ausstellungen in Berlin. Michael Wesely legte für seine im Museum für Fotografie gezeigten Serie »Doubleday« eigene Aufnahme Berlins passgenau auf alte historische Fotos desselben Ortes und macht so »atemberaubende Zeitsprünge« sichtbar, wie es in der Pressemitteilung heißt.

Weit kürzere Intervalle hat das enorme Projekt »Timescapes« des 1940 in Berlin geborenen Fotografen Michael Ruetz, das in Auszügen in der Akademie der Künste am Pariser Platz vorgestellt wird. Der Titel, eine Kombination von Time und scape aus Landscape, bedeutet so viel wie Abbildung der Zeit. Das Projekt umfasst drei Teile, in denen Ruetz neben der Metamorphose von Gesichtern und Interieurs auch die sich verändernde Landschaft sowie die Veränderung der städtischen Szenerie dokumentierte. Die Ausstellung beschränkt sich vor allem auf letztere, nur am Beispiel Berlins. Für das »Time­scapes«-Projekt hat Ruetz auch zahlreiche andere Orte von Brielle bei Rotterdam bis zum australischen Melbourne fotografiert.

Nach dem Fall der Mauer richtete Ruetz seinen Fokus völlig auf Berlin, da sich dort Veränderungen durch das Zusammenwachsen der beiden Stadthälften besonders rasant vollzogen. Rückwirkend erklärte Ruetz seine Aufnahme des Gendarmenmarktes vom 11. April 1966, den er am 11. April 2002 erneut fotografierte, als Beginn von »Timescapes«. Rund 180 Orte in und um Berlin machte er zu seinem Gegenstand, 140 davon befinden sich unmittelbar in der Stadt. Unterstützt von seiner Assistentin, der Künstlerin Astrid Köppe, die unter anderem für die wichtige Archivarbeit verantwortlich ist, hielt Ruetz zwischen 1990 und 2023 die Veränderung der Stadt fest. Orte wie der Potsdamer Platz an der Linkstraße und das Alexanderufer am ­Kapel­le-Ufer sind über einen Zeitraum von 30 Jahren mit drei bis 24 Bildern erfasst, in der Ausstellung finden sich jeweils sechs Aufnahmen.

In wessen Interesse

In dieser Verdichtung wird die radikale Um- und Überbauung solcher Orte visuell eindrücklich deutlich. Alle Aufnahmen sind mit Datum, Uhrzeit, geographischen Koordinaten und Blickrichtung versehen. Ein in Auszügen in der Ausstellung gezeigter Film verdeutlicht die Hartnäckigkeit von Ruetz’ Suche nach dem exakten Punkt an einer stark befahrenen Straße in einem völlig veränderten Stadtraum an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten. Das ist manchmal verstörend, weil sich kaum etwas wiedererkennen lässt. Die Ausstellung evoziert die Fragen nach den Interessen und Interessenten an der enormen Umgestaltung. Spekulation, Restitution, Verdrängung und auch die Beseitigung aller Spuren der sozialistischen DDR geraten in den Blick eines politisch wachen und kritischen Publikums, das sich nicht damit begnügt, die Veränderung zu registrieren. Der Umbau des Schlossplatzes samt seiner Umgebung mit dem politisch verfügten Abriss des Palastes der Republik wird in einer Kammer auf vier Monitoren verfolgbar. Von einem definierten Punkt hat Ruetz über Jahre in alle vier Himmelsrichtungen fotografiert, die Veränderung ist nun im Zeitraffer auf den Monitoren sichtbar.

Kritische Prägung

Wie die Kuratorin Franziska Schmidt bei der Pressekonferenz ausführte, ist Michael Ruetz vor allem mit seinen Bildern der Außerparlamentarischen Opposition in Westberlin bekannt gewordenen. Er fotografierte auch in der Gedenkstätte Auschwitz, widmete sich 1969 Griechenland unter der Militärdiktatur und 1974 der Nelkenrevolution in Portugal. 2018 veröffentlichte Ruetz mit dem fotohistorischen »Pogrom 1938« eine Untersuchung über die visuell nachweisbare Zeugenschaft von Passanten und Zuschauern der Pogrome 1938 gegen die jüdische Bevölkerung. All diese Themen sind Indizien für Ruetz’ kritische Prägung, eine Antwort auf den deutschen Faschismus und typisch für seine Generation der Studentenrevolte von 1967/68.

Sein abgeschlossenes Projekt »Time­scapes« samt Archiv und Kameras hat Michael Ruetz nun als Vorlass der Akademie der Künste Berlin vermacht.

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