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Bad in der Regentonne

Nur keine Hemmungen: Nora Haddadas Roman »Nichts in den Pflanzen«

Schreibende sind sensibel. Es gibt viele – offensichtliche wie verworrene – Wege, sie von ihrer Tätigkeit abzuhalten. Gebrochene Hände etwa oder eine Fruchtfliege auf der Tastatur. Nora Haddadas Hauptfigur und Ich-Erzählerin Leila stört im Roman »Nichts in den Pflanzen« nicht nur ein leicht fortzuwedelndes Insekt, sondern gleich ein ganzer Schwarm, der sich hartnäckig zeigt, wenn sie an ihrem Drehbuch schreiben will. Eine unliebsame wie willkommene Ablenkung, stockt die Arbeit am Kammerspiel, das an Yasmina Rezas von Roman Polański verfilmtes Stück »Le Dieu du Carnage« (»Der Gott des Gemetzels«) erinnert, ohnehin. Zwar hat Leila den Vertrag mit der Produktionsfirma dank Vitamin B von Boyfriend Leon, einem Filmproduktionsknecht im oberen Drittel der Hackordnung, bereits in der Tasche. Die damit einhergehende Bringepflicht zieht die Knoten im Hirn allerdings um so fester.

Leila gönnt sich statt dessen, säuft wie ein Raubritter, der auf die Aktualität seiner Hipstercocktails à la Espresso Martini Wert legt, und haut den Vorschuss in Berliner Restaurants auf den Kopf, salbadert mit recht viel Nullsätzen und an der Situation vorbei, unter anderem darüber, dass das Konzept romantischer Liebe doch auch nur »recyceltes Christentum« sei. Leons Zuchtkatze, die er sich als Ersatz für die tote Mutter geholt hat, gönnt sie statt dessen nichts: »Ich würde gerne sagen, dass es ein Unfall war, aber selbst mir fällt es schwer zu argumentieren, dass eine Sache zugleich ›einfach so passiert ist‹ und einen zwanzigminütigen körperlichen Kampf vorausgesetzt hat – aus dem, sollte das irgendwas besser machen, ich auch nicht unbeschadet davongekommen bin«; nach dem erzwungenen Bad in der Regentonne landet Mieze Bessie unterm Blumenbeet hinter der brandenburgischen Datsche.

Leila steckt in selbstkreierten Loops fest, die undisziplinierte Routine durchbricht sie nur mit amoralischen Schandtaten. Dazu gehört die Affäre mit einem, den sie fauler- wie richtigerweise schlicht »der Andere Leon« nennt, ein menschenkennernder Hedgefondbanker, der ihr den fliegenverklebten Laptop zumindest zeitweise fixt und der zwar goethezitierend, aber nicht der mephistophelische Verführungsfaktor in Aktion ist, sondern recht passiv daherkommt. Leila setzt sich ihre Plotpunkte selbst in einer Welt mit Dialogen de Funésscher Prägung (»Nein!« – »Doch!« – »Ich. Kann. Es. Nicht. Glauben.« – »Doch, doch!« – »Wow.«) und perfekter Performances, deren Risse – oder besser: Scriptfehler – schnell ins Auge stechen: Neben zwei Leons gibt es zwei Lauras, und überhaupt fängt fast jeder Name mit L an; die politisch aktive Aischa ausgenommen, die als Kommilitonin wiederum und rassistisch-klischisiert oft mit Leila verwechselt, von dieser stets ausgebootet wurde. Intrinsische Bugs, die sich zu häufen scheinen wie die zu Wolken und Bergen werdenden Viecher bei Leila daheim, je mehr sie sich durch ihre Paranoia vom Drehbuch ablenken lässt. Schließlich könnte Aischa ja mit Leon (nicht dem »Anderen«) vögeln und zudem diejenige sein, die Produzentin Lenka ein ähnliches Drehbuch angeboten hat, mit dem diese nun wiederum Leila unter Druck setzt. Leilas Plan, das aufzudecken, verläuft nicht so, wie sie es sich vorgestellt hat; dabei leckt Aischa scheinbar die Fristverlängerung für Leila somnambul sediert auf einer Party in der Edeldatsche aus Lenka heraus.

Das Opake und seine Brüche in Milieus, in der die Inszenierung bis zur Bewusstlosigkeit stimmen muss, kennt man als popliterarisches Topos spätestens seit Bret Easton Ellis. Das wurde mannigfach adaptiert und karikiert, wie etwa durch Christian Kracht oder in Elias Hirschls Austropsychoroman »Salonfähig« (2021), und hat die Welt, die auch im Kern nur Oberflächen kennt, stets von männlicher, meist rechtsliberaler Warte aus angefasst. Die egomane Antiheldin tauchte dagegen weit später auf und mehrte sich erst in den vergangenen Jahren, hierzulande etwa im Landroman »Niemand ist bei den Kälbern« von Alina Herbing (2017) oder Ronja von Rönnes Debütroman »Wir kommen« (2016). Bei Haddada nun findet eine Frau of Color, was ihre Schreibblockade bricht, auch wenn das anderen nicht guttut. Denn manche um sie her haben mit anderen Hemmungen zu kämpfen, von außen kommenden. Die auf ihr Engagement und ihre Identität festgenagelte Aischa etwa, die anmerkt, »niemand hat Bock auf einen unpolitischen Film von mir. Ich darf nichts anderes mehr machen, verstehst du, ich bin das jetzt.« Eine Erkenntnistiefe, in die Leila noch abtauchen muss, so sie denn will.

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