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Die Antwort gibt das Werk

Streng und klar: Zum Tod des albanischen Schriftstellers und Moralisten Ismail Kadare

Eine seiner letzten Schriften widmete Ismail Kadare jenem kleinen Fleckchen Erde, auf dem er sich – wie er vor Jahren in einem Interview erzählte – am wohlsten gefühlt hatte: In der Schrift »Matinées au Café Rostand« erinnerte ­Kadare sich an die häufigen Spaziergänge im Pariser Jardin du Luxembourg, den er täglich durchschritt, im Winter mit Mantel und Hut, und deren Endstation ebenso regelmäßig das besagte Lokal war – ein echtes französisches Bistro mit Kellnerinnen und Kellnern in schwarzen Kleidern und gestärkten weißen Schürzen. Dort konnte ihn ziemlich leicht aufspüren, wer mit ihm reden oder ihm einfach einen guten Tag wünschen wollte. Kadare liebte Paris. Und die Pariser liebten ihn. Die französische Gelehrtengesellschaft Académie des sciences morales et politiques nahm ihn 1996 auf – als Nachfolger des zwei Jahre zuvor verstorbenen austro-englischen Philosophen Karl Popper. Verbunden war das mit einer weiten, hellen »Dienstwohnung« am Boulevard Saint-Michel, direkt gegenüber Park und Rostand, in der er bisweilen sogar Journalisten empfing.

Der am 28. Januar 1936 in der südalbanischen Stadt Gjirokastër (Silberburg) geborene Kadare war ein bescheidener Mensch. Ein scheuer Literat, der nicht nur mit seinem riesigen Werk zur Stimme seines Landes wurde. Es ist erstaunlich, wie dieser zurückhaltende Chronist seit den 90er Jahren, nach dem Ende der Alleinherrschaft des Enver Hoxha, in seiner Heimat zum Symbol einer politischen Utopie wurde, in der es keine Unterdrückung mehr geben würde. Keine im Gesellschaftssystem verankerte Korruption, keinen Handel mit Frauen und Waffen, keine Geldwäsche und keine falschen Freunde in Moskau, in Beijing oder – seit nun schon rund 30 Jahren – in Washington oder Brüssel. Mehrfach wollten ihm seine Landsleute einen Platz in den oberen Etagen der Politik freimachen, er sollte Albaniens Präsident werden. Einer, der sauber schien, obwohl er nach »westlich-demokratischer« Einschätzung eigentlich Dreck am Stecken haben musste. Wie sonst hätte er 1990 das abgeriegelte Land verlassen oder ab 1970 mit der französischen Fassung seines zuerst 1963 erschienenen Romans »Der General der toten Armee« zum in mehr als 45 Sprachen übersetzten Star der Balkanliteratur werden können? War er nicht Parteimitglied und sogar Parlamentsabgeordneter (1970–1982) gewesen?

Die Antwort gibt sein Werk selbst. Und auch die Flucht nach Frankreich – Hoxa war endlich verschwunden –, wo er mit seiner Familie Schutz suchte vor dessen korruptem, unberechenbarem Nachfolger Ramiz Alia.

International bekannt wurde ­Kadare durch die genialen französischen Übersetzungen seines Freundes Jusuf Vrioni, einem albanischen Diplomatensohn, der in Paris aufgewachsen und zur Schule gegangen war. Ein Glücksfall. Kadare gewann so ziemlich alle wichtigen internationalen Literaturpreise. Nur den einen, den Nobelpreis, bekam er nicht, obwohl er 15mal nominiert und von den Feuilletons als Favorit gehandelt wurde.

Ein Leitthema in Kadares Werk ist die griechische Mythologie, speziell die Figur des Prometheus. Eine genuin politische Literatur, wie auch sein berühmtester Roman »Der General der toten Armee« verdeutlicht, der von der satirisch anmutenden ­Suche eines italienischen Generals nach den Knochen gefallener Soldaten handelt, die zurück in die Heimat gebracht werden sollen. Wie Albert Camus in seinem Sisyphos-Essay beschreibt Kadare im Roman »Der Palast der Träume« (1981) das Absurde im Leben des politischen Menschen, vor allem, wenn es sich im Streben nach Macht erschöpft. Kadares Sprache ist streng und klar, besonders eindringlich gelang sie in der Novelle vom »Zerrissenen ­April« (1980), in der der Dichter das Leben seiner albanischen Vorfahren unter dem »Kanun« beschreibt, dem damals ausschließlich mündlich überlieferten Regelwerk für Mannes- und Frauenehre, für Gastfreundschaft, Geburt und Tod.

Am Montag ist Ismail Kadare in der albanischen Hauptstadt Tirana im Alter von 88 Jahren gestorben.

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