»Die USA duldeten kein zweites Kuba«
Von Leonard MielkeEs ist bekannt, dass chilenische Sozialisten und Antifaschisten nach dem Putsch am 11. September 1973 die Flucht vor der Pinochet-Junta in die DDR gelang. Wie lief dies ab?
Darüber müsste man nicht nur ein ganzes Buch schreiben, sonders es gibt dieses bereits (»Flucht vor der Junta. Die DDR und der 11. September«, Edition Ost 2005). Von den Aktivisten, die dort berichteten, lebt nach meiner Kenntnis nur noch Rudolf Herz, der im September 1973 als Offizier im besonderen Einsatz (OibE) mit dem Decknamen »Benz« nach Santiago de Chile geschickt worden war, um beispielsweise die Ausschleusung von Carlos Altamirano über die Anden nach Argentinien zu organisieren. Altamirano war der Generalsekretär der Sozialistischen Partei und Freund Allendes.
Die Rettung von Funktionären der Unidad Popular und anderer verfolgter Chilenen war in Berlin gemeinsam von Mitarbeitern der Abteilung Internationale Verbindungen im ZK der SED und der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS (HV A) geplant und vorbereitet worden. Mit präparierten Autos brachte man sie außer Landes. Die Details wird Rudi Herz bei der Veranstaltung Ende August in der Maigalerie erzählen. Und man kann sie auch nachlesen in seinen Erinnerungen, die demnächst unter dem Titel »Ich war OibE Benz in Chile« in der Edition Ost erscheinen werden.
Salvador Allendes Partei Unidad Popular, UP, hatte die chilenische Wahl 1970 mit großer Mehrheit gewonnen. Wie war das Verhältnis zwischen der DDR und Chile vor dem faschistischen Putsch?
Es bestanden bereits Kontakte vor dem Sieg der UP, die aber nach Herstellung der diplomatischen Beziehungen intensiviert wurden. Auf Einladung der chilenischen Regierung bereiste beispielsweise eine DDR-Studiendelegation sieben Monate das Land. Die Fachleute untersuchten die ökonomische Basis, Landwirtschaft, Gesundheits- und Bildungswesen, Wissenschaft usw. Die Einladung zur Bestandsaufnahme war deshalb an die DDR ergangen, weil sie sich in Europa bereits über zwanzig Jahre gegenüber allen imperialistischen Angriffen behauptet hatte und sich demokratisch und erfolgreich entwickelte.
Wie haben Sie damals die internationale Solidarität der DDR mit Chile und anderen Ländern erlebt?
Sehr intensiv. Das begann mit Spenden der Gewerkschaftsmitglieder, ging über Postkartenaktionen der Jungen Welt der FDJ bis hin zu Solidaritätsschichten in den Betrieben. Während der Weltfestspiele etwa wurden in Rostock die DDR-Frachter »J. G. Fichte« und »Radeberg« mit Solidaritätsgütern verabschiedet. Ich selbst war bei der Volksmarine, als die Faschisten in Chile putschten, und davon überzeugt, dass jetzt Freiwillige aus der ganzen Welt zur Verteidigung der demokratischen Republik Chile nach Südamerika eilen würden, um wie damals 1936 in Spanien Internationale Brigaden zu bilden. Ich ging zum Parteisekretär auf unserem Schiff, dem Minensuch- und -räumschiff (MSR) »Wittstock«, und erklärte, dass ich nach Chile gehen möchte, um dort gegen die Faschisten zu kämpfen. Der Genosse Oberleutnant lächelte mich an und sagte: Du willst dich doch nur vorm Dienst an Bord drücken. Dabei ging meine dreijährige Dienstzeit im folgenden Monat zu Ende. Also landete ich nicht in Chile, sondern Ende Oktober 1973 als Volontär bei der Jungen Welt und erfuhr: Auch mein Arbeitsplatz war ein Kampfplatz für den Frieden.
Sehen Sie die heutige Erinnerungskultur an den Putsch in Chile, 50 Jahre danach, als angemessen an?
Nein, natürlich nicht – sieht man mal davon ab, was die jW veranstaltet. Es ist doch klar, dass die globale kapitalistische Welt nicht dran erinnert werden möchte, dass sie eine legale, demokratisch legitimierte Ordnung in Blut badete, indem sie diese gewaltsam stürzte. Es ging erstens um Rohstoffe – Chile war der zweitgrößte Kupferproduzent der Welt –, also um ökonomische Interessen. Und es ging zweitens um politische Interessen: Die USA duldeten in ihrem Hinterhof kein zweites Kuba. Interview:
Podiumsgespräch »Flucht vor der Junta: DDR-Rettungsaktionen von Antifaschistinnen und Antifaschisten aus Chile«. Donnerstag, 24. August 2023, 19 Uhr, in der jW-Maigalerie und im Stream auf jungewelt.de
Der Autor Frank Schumann
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