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Letzten Dienstag hatte die junge Welt den Organisatoren der Veranstaltung »Reclaiming the Discourse: Palestine, Justice and the Power of Truth« spontan Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt, damit die Veranstaltung doch noch stattfinden konnte: Nach harten behördlichen Auflagen und massiver Einflussnahme war der Vermieter des ursprünglichen Veranstaltungsortes eingeknickt. Das völlig überdimensionierte Polizeiaufgebot musste deshalb zur jungen Welt in die Berliner Torstraße umgeleitet werden: über 200 gepanzerte und bewaffnete Polizeibeamte und deren Einsatzfahrzeuge wurden rund um das Verlagsgebäude postiert. Der Einsatzleiter wollte zudem sieben bewaffnete Uniformierte direkt in der sowieso schon überfüllten jW-Maigalerie postieren, was ihm umgehend von der Geschäftsführung der jungen Welt untersagt wurde. Daraufhin erklärte er die geplante Veranstaltung zu einer »Versammlung in geschlossenen Räumen« und erzwang sich den Zutritt zur jW-Maigalerie. Begründung: Man rechne mit »Äußerungsstraftaten«, ausdrücklich auch im Publikum.
Die Polizisten hatten aber nicht nur das Publikum zu bespitzeln. Auf der Bühne wollten hochkarätige Referentinnen und Referenten ihre Meinung frei äußern, so die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für die besetzten palästinensischen Gebiete, Francesca Albanese und die Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International, Julia Duchrow. Die Droh- und Einschüchterungskulisse umfasste dann uniformierte und mit Schusswaffen ausgerüstete Beamte im Raum und rund um das Gebäude der jW.
»Druck, Einschüchterung und Mafia-Taktik«, so beschrieb Francesca Albanese die Umstände ihres Besuches, und erklärte sich erschüttert über den Angriff auf die Grundrechte in der BRD. Die Versuche, die Veranstaltung zu verhindern, die Einschüchterung und somit der Angriff auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit sind nicht neu – erstmalig haben sich aber Polizisten in den Räumen einer Tageszeitung so verhalten. Damit ist auch eine neue Qualität der Behinderung der Pressefreiheit erreicht, auch wenn die junge Welt den Kampf gegen staatliche Repression bereits seit Jahren führen muss. Die Nennung der Zeitung im Verfassungsschutzbericht mit dem Ziel, ihr den »Nährboden zu entziehen«, und die seit 2021 anhaltenden juristischen Auseinandersetzungen dazu sind nur zwei Beispiele. Gegen das gewaltsame Eindringen von bewaffneten Polizeibeamten und deren Verweilen bis über das Ende der Veranstaltung hinaus in Räumen der Tageszeitung junge Welt wird Klage beim Berliner Verwaltungsgericht eingereicht.
An den Vorgängen des vergangenen Dienstags gibt es großes mediales Interesse im In- und Ausland. Die junge Welt erfährt vielfältige Unterstützung der Leser und anderer Beteiligter. Und doch: Der entscheidende Faktor, um die aufklärerische Arbeit der jungen Welt weiterführen zu können, sind Abonnements! Das erkennen in diesen Tagen erfreulicherweise immer mehr Menschen, schon manche Besucher der Veranstaltung schlossen noch am Dienstag vor Ort ihr Abo ab.
»Könnte ein breites, süditalienisches Lächeln helfen?«, war das Angebot von Francesca Albanese, die sich im Pausenraum der Redaktion auf ihren Vortrag vorbereitete, um sich herum das Chaos einer Ad-hoc-Veranstaltung mit gerade einmal drei Stunden Vorlauf. Und: es half. Dank an alle, für die es selbstverständlich war, anzupacken und mitzuhelfen, den Veranstaltungstechnikern, die kurzfristig einsprangen und die Übertragungstechnik installierten, den Kolleginnen und Kollegen der jungen Welt, die Überstunden schrubbten – und allen Besuchern der Veranstaltung, die sich nicht provozieren, aber auch nicht einschüchtern ließen!
Nur zwei Tage danach gab es am Donnerstag schon den nächsten Angriff auf Pressefreiheit und junge Welt. Der Sprecher des israelischen Militärs, Arye Shalicar, veröffentlichte auf X seine Liste »Die Top-10 Verbreiter von Judenhass auf X in Deutschland«. Ganz oben stehen der Blogger Tilo Jung (der an der Veranstaltung am Dienstag teilgenommen hatte) und der jW-Journalist Jakob Reimann. Shalicar begründet sein unverschämtes Anprangern damit, dass die Genannten fast täglich Israel »kritisieren«, aber bisher nicht ein einziges Foto der toten Geiseln gepostet hätten, die in dieser Woche an Israel übergeben wurden. Womit auch klargestellt wird, worum es Polizei und Militärsprecher in Wirklichkeit geht: Nicht genehme Meinungen, Presseveröffentlichungen, Veranstaltungen sollen sanktioniert und damit letztlich ausgeschaltet werden. Die junge Welt kämpft aber weiter für Meinungsfreiheit und -vielfalt. Gedruckt, digital und, wie etwa am vergangenen Dienstag, auch vor Ort.