Leserbrief zum Artikel Scholz sieht wegen Pipeline keine Abhängigkeit
vom 22.09.2020:
Trumps »Breschnew-Doktrin«
In den Zeiten des vorherigen Kalten Krieges galt es für den Westen als ausgemacht, dass die mit der Sowjetunion verbundenen Länder des Warschauer Vertrags gegenüber ihrer Vormacht nicht souverän waren. Die sogenannte Breshnew-Doktrin von der eingeschränkten Souveränität der staatssozialistischen Länder Osteuropas war für deren Führungen im argumentativen Schlagabtausch mit dem Westen politisch kränkend, wohl aber keineswegs ganz von der Hand zu weisen. Nunmehr erleben wir allerdings einen zweiten kalten Krieg zwischen dem Westen mit der NATO und EU einerseits und einem inzwischen kapitalistisch gewordenen Russland andererseits. Nach seinem Unionskollaps vor gut 30 Jahren ist es wieder als ein machtvoller Akteur der internationalen Beziehungen zu Kräften gelangt. Und das trotz aller westlicher Sanktionen. Ein allein aufgrund seiner waffentechnischen Entwicklungen höchst gefahrvolles Wettrüsten hat durch den Ausstieg der USA aus dem internationalen Vertragssystem zur Rüstungsbegrenzung eine dramatische Zuspitzung erfahren. Im Rahmen der geopolitischen Großmächtekonkurrenz zeigen sich erstaunliche, aber irgendwie doch altbekannt scheinende Varianten zwischenstaatlicher Bündnisbeziehungen. Neben den Sanktionen der USA und EU gegen Russland sowie den US-amerikanischen Sanktionen gegenüber dem wirtschaftlichen Hauptkonkurrenten China forciert Trump nun allerdings auch in seiner Art unverkennbar erpresserischen Druck auf seine westlichen Bündnispartner in der NATO. Er begnügt sich im militärischen Bereich keineswegs nur mit der Forderung nach einem Zwei-Prozent-BIP-Rüstungshaushalt für jeden Mitgliedstaat der Militärallianz. Wirtschaftlich drängt er EU-Europa zur Einstellung des Erdgasprojektes »Nord Stream 2« mit völkerrechtswidrigen, geradezu erpresserischen Drohungen und Sanktionen gegenüber den Investoren und den beteiligten Unternehmen bis hin zu den Rohrproduzenten und Rohre lagernden Hafenstädten. So u. a. drei seiner republikanischen Senatoren im grundsätzlichen Konsens mit Joseph Bidens Demokraten, die Sassnitz »wirtschaftliche Vernichtung« bei fortgesetzter Unterstützung für »Nord Stream 2« ankündigten. Mit mafiaähnlichen Methoden soll Deutschland somit dazu gezwungen werden, das teurere und klimaschädlich gewonnene Frackinggas über den Atlantik aus den USA zu importieren. Obwohl das umweltschonendere Erdgas aus Russland um bis zu 30 Prozent billiger zu haben ist. Dennoch zeigt der Wink mit dem Zaunpfahl aus den USA offenkundige Wirkung. Vizekanzler und Bundesfinanzminister Scholz (SPD) unterbreitete nach Angaben der Zeitschrift Die Zeit seinem amerikanischen Amtskollegen Mnouchin in transatlantischer Ergebenheit diskret den Vorschlag zum Bau zweier Terminale in Wilhelmshaven und Brunsbüttel für den Umschlag importierten Frackingflüssiggases aus den USA. Auf Kosten von Deutschland in Höhe von rund einer Milliarde Dollar. Wenn denn Deutschland das »Nord-Stream-2«-Projekt mit gnadenvollem amerikanischen Verzicht auf Sanktionen gegenüber seinem NATO-Bündnispartner vollenden dürfe. Wie sich die Zeiten auch ändern mögen – Großmachtpolitik hat sich gegenüber dem völkerrechtlich verbrieften Souvernitätsanspruch kleinerer Staaten kaum verändert. Die Breschnew-Doktrin à la Trump lässt grüßen ...
Veröffentlicht in der jungen Welt am 24.09.2020.