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07.06.2000 / Feuilleton

Deutschland, kein Wintermärchen

Anna Seghers - eine Bildbiographie. Von Arnold Schölzel

Arnold Schölzel

*** Anna Seghers. Eine Biographie in Bildern. Mit einem Essay von Christa Wolf. Aufbau Verlag, Berlin 2000, 264 Seiten, DM 39,90

Das Buch endet mit der Abbildung Nr. 252. Sie zeigt eine Gedenkplatte am Haus Parcusstraße 5 in Mainz, die am 1. Juni 1984 angebracht wurde. Der Text: »Anna Seghers (Netty Reiling) wurde in diesem Hause am 19. 11. 1900 geboren. Schriftstellerin >Das siebte Kreuz<. Ehrenbürgerin der Stadt Mainz. Sie starb am 1. 6. 1983 in Berlin-Adlershof.«

Hätte die Stadt Mainz nach 1990 noch diese Tafel anbringen lassen? Nach dem Triumphzug gegen DDR- Literatur und Arbeiterbewegungskultur in den letzten zehn Jahren darf das bezweifelt werden. Anna Seghers gehörte zu denen, deren Bücher 1990 flugs aus zahlreichen Bibliotheken verschwanden, deren Namen von Betriebs- und Straßenschildern getilgt wurden. Übrig blieben die politästhetischen Blähungen westdeutscher Funktionäre des Kalten Krieges. Marcel Reich-Ranicki hatte sich, auch das ist in der Bildbiographie nachzulesen, schon 1959 in deren erste Reihe emporgedienert, als er über »Die Entscheidung« schrieb, er halte das Buch für ein »erschütterndes Dokument der Kapitulation des Intellekts, des Zusammenbruchs eines Talents, der Zerstörung einer Persönlichkeit.« Zitierend gab er wieder, Anna Seghers habe in der »Entscheidung« die politische Diskussion auf die Formel »ja oder nein« gebracht: »Willst du nicht die Gestapo, mußt du den Staatssicherheitsdienst wählen. Schwankende werden mit dem Tode bestraft.« Reich-Ranicki fragte 1962 in der »Zeit«: »Warum sollte den Lesern der Bundesrepublik verheimlicht werden, daß die Seghers auf ein derartiges Niveau gesunken ist?«

Reich-Ranickis Niveau beschränkt sich bekanntlich auf die Formel »nein oder ja«: Wer im Reich des Bösen, wie er im »Spiegel« vor einigen Jahren formulierte, schrieb, konnte kein Schriftsteller sein. Über dieses Niveau ist die bundesdeutsche offiziöse Literaturrezeption nie hinausgekommen.

Dementsprechend war Anna Seghers eine, »die einst Meisterwerke deutscher Prosa schrieb« - ungefähr bis zur Gründung der DDR. Für den »Aufstand der Fischer von St. Barbara« hatte sie zwar zwanzig Jahre davor den Kleist-Preis erhalten - um so schlimmer für sie.

Ein Zeugnis ihrer Weltsicht findet sich ungefähr in der Mitte des Bandes, ihr »Abschied vom Heinrich-Heine-Klub« 1946 in Mexiko: »Deutschland darf künftig kein Wintermärchen mehr sein, sondern helle, harte Wirklichkeit ... Wir werden weiter an verschiedenen Enden der Welt über die Antworten grübeln müssen. Wir werden alle zäh daran festhalten, um so zäher die, die daheim am Wiederaufbau arbeiten. Nur daß die Menschen, die sich zusammentaten, um gegen den Nazifaschismus zu kämpfen, von jetzt ab mit den lebendigsten, sichtbarsten Kräften Deutschlands kämpfen und nicht mehr unter dem Namen von Heine, der als Emigrant in Frankreich starb, nachdem er sich Herz und Feder abschrieb.«

Die Bilder, die in diesem Band versammelt sind, die Dokumente aus Tagebüchern, Briefen, Büchern und aus Gesprächen mit ihren Kindern geben Auskunft über das Leben und die Lebensumstände der »größten deutschen Erzählerin in unserem Jahrhundert« (Hans Mayer 1991). Sie bezeugen eine Kraft, die aus Humanismus und Konsequenz kam. Als stärkster Eindruck bleibt, daß diejenigen, die Anna Seghers und ihre Familie in Not und Emigration zwangen, in dieser oder jener Form noch da sind, daß ihre Anwürfe aber die Person nicht erreichen, ihr Werk nicht tangieren. Dieses Leben war nicht nur ein Gegenentwurf, sondern ein gegen die heute wieder in Deutschland unumschränkt herrschenden Mächte gelebtes Leben. Das verzeiht die bundesdeutsche Literaturkritik nicht.

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