Aus: Ausgabe vom 22.10.2011, Seite 16 / Aktion
Antikapitalismus als Mode
Von Dietmar KoschmiederWenn das weiterhin genügt, um im Verfassungsschutzbericht erwähnt zu werden, dürfen wir auf den kommenden gespannt sein. Denn so ziemlich jede bundesdeutsche Zeitung übt sich zur Zeit in heftiger Kapitalismuskritik. »Konjunktur der Kritik« nennt das die Berliner Zeitung und macht daraus gar »Eine Serie zur Kapitalismuskrise«. Der Wirtschaftschef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung durfte schon vor Monaten über die Vorzüge des Sozialismus im Vergleich zum realen Kapitalismus schwadronieren. Und wie sich in den letzten Tagen bürgerliche Zeitungen und Politiker darüber beschweren, daß Gewinne im Interesse weniger privatisiert und Verluste zum Schaden aller sozialisiert werden und wie sie deshalb größtes Verständnis für aktuelle Protestaktionen weltweit zeigen – als ob sie als Personal und Stimme der Nutznießer solcher Verhältnisse nicht mitverantwortlich wären –, ist schon erstaunlich. Über allem schwebt die Angst, daß die Situation völlig aus dem Ruder läuft, daß trotz erheblichem Propagandaaufwand diejenigen, die wie immer alles ausbaden sollen, nicht mehr mitspielen und künftig das Anzetteln von Kriegen und das Zerschlagen von Sozialsystemen nicht auch noch mit ihrer Stimme legitimieren. »Wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen, so umschrieb Lenin eine revolutionäre Situation«, warnt die Berliner Zeitung am 19. August dieses Jahres. Und die FDP-nahe Naumann-Stiftung weiß aufgrund wissenschaftlicher Untersuchungen, daß die Mehrheit der Deutschen den Sozialismus dem Kapitalismus vorziehen – und fordert als Konsequenz eine effektivere Propaganda gegen die DDR.
Unter solchen Bedingungen sollte man meinen, daß eine linke, moderne und sich sozialistisch nennende Partei Besseres zu tun hätte, als ausgerechnet mit Verfassungsschutz und anderen auf die einzige marxistische Tageszeitung des Landes einzudreschen. Zwar hat die ganze Aufregung um die unbotmäßige Titelseite vom 13. August vor allem gezeigt, wie sehr die junge Welt in den Reihen der Mitglieder, Wähler und Abgeordneten dieser Partei verankert ist. De facto ist es aber so, daß es mehr oder weniger einen Anzeigenboykott der Gremien dieser Partei gibt – vor und nach dem 13. August. Die Behauptung einer »privilegierten Partnerschaft« oder gar von der Finanzierung der jungen Welt über solche Anzeigen ist eine dreiste Lüge. Wenn aber eine sozialistische Partei dem laut Verfassungsschutz wichtigsten antikapitalistischen Medium des Landes Anzeigen verweigert, schadet sie sich vor allem selbst. Und wer von sich behauptet, für andere gesellschaftliche Verhältnisse einzutreten, dabei aber der Eigentums- und Machtfrage konsequent aus dem Weg geht, verhält sich nicht anders als bürgerliche Parteien und Medien, die gelegentlich gesellschaftliche Verhältnisse bitter beklagen – aber sich deren radikale Umwälzung nicht einmal vorstellen wollen
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