Aus: Ausgabe vom 26.11.2011, Seite 16 / Aktion
Medien an der Laufleine
Von Dietmar KoschmiederInge Viett wurde beschuldigt, in ihrem Text für die diesjährige Rosa-Luxemburg-Konferenz unter anderem Angriffe auf Bundeswehrausrüstung im Kriegsfall für legitim angesehen, damit begangene Straftaten moralisch unterstützt und Zuhörer zur Nachahmung angestiftet zu haben. Den konkreten Umstand ihrer Äußerungen ließ die Staatsanwaltschaft unberücksichtigt: Viett schlug in ihrem Diskussionsbeitrag vor, eine neue revolutionäre Organisation zu schaffen, die nicht reflexartig Antikriegsaktionen wie Brandanschläge auf Bundeswehrausrüstung verurteile. Diesen Beitrag schrieb Inge Viett im Auftrag der jW, um sich darüber mit der Vorsitzenden der Linkspartei, Gesine Lötzsch, und anderen auf einer Podiumsdiskussion zu streiten. Noch im Verfahren gegen die junge Welt drei Wochen zuvor stellte Strafrichter Nikolai Zacharias vom Gericht fest, daß die Äußerung von Viett nur dann als Straftatbestand gewertet werden könne, wenn sie tatsächlich Bezug auf verübte Brandanschläge genommen hätte. Sie hätte solche aber nicht erwähnt, also könne man ihr dies auch nicht unterstellen.
Staatsanwalt Matthias Weidling sieht das anders. Nicht Viett, sondern er zählt eine Reihe von Brandanschlägen auf, die vor der Äußerung Vietts auf Privat- und Firmenwagen durchgeführt und von Viett gebilligt worden seien. Meinungsfreiheit werde zudem eingeschränkt durch andere Rechte. Er spricht nicht von Abwägung dieser Rechte. Im abschließenden Plädoyer kann er sich selbst nicht mehr im Zaum halten, wendet sich wie die Angeklagte Viett eher zum Publikum als zur Richterin. Er fordert eine Haftstrafe für den jW-Beitrag, ohne Bewährung. Zur Begründung führt er erstaunlich offen aus: Bei Inge Viett sei von einer »gefestigten politischen Einstellung« auszugehen, ihr Beitrag sei Ausdruck einer »ideologischen Verfestigung« (was immer das auch sei), weshalb keine günstige Sozialprognose abzugeben sei.
Am Mittwoch wurde Inge Viett vom Amtsgericht ganz offen wegen ihrer politischen Einstellung und Geschichte zu einer Geldstrafe verurteilt: Ein Skandal. Die zahlreich anwesenden Medienvertreter nehmen das nicht zur Kenntnis. In ihren Berichten ziehen sie hämisch über die Verurteilte her. Wie den Staatsanwalt interessiert sie nicht die Frage, was im Rahmen des Artikels 5 Grundgesetz erlaubt ist und was nicht. Es ist die von ihnen geschaffene Medienfigur der »Terror-Oma«, von der man sich im Prozeß als »abhängig wie Hunde an der Laufleine« beschimpfen läßt, um es ihr dann in der Berichterstattung heimzuzahlen. Und ihr damit Recht gibt.
Nur eine halbe Stunde später beginnt im selben Gebäudekomplex der Prozeß gegen Thies Gleiss, fast alle Medienvertreter sind verschwunden. Auch hier geht es um Meinungsfreiheit. Fast 80 Jahre nach dem Freispruch von Carl von Ossietzky, der in seiner Zeitschrift Kurt Tucholsky das berühmte Zitat »Soldaten sind Mörder« schreiben ließ, sitzt Thies Gleiss vor dem Berliner Gericht, weil er in junge Welt Bundeswehrsoldaten als »Mördersoldaten« beleidigt habe. Vor 80 Jahren stand hinter dem Verfahren die Reichswehr, diesmal ist es die Bundeswehr. Für die meisten Medien uninteressant. Die Richterin sprach Gleiss frei und hob damit das vorherige Urteil des Amtsgerichts Tiergarten auf. Ihre Begründung war einleuchtend: Der Beitrag wurde im Rahmen einer kontroversen Diskussion geschrieben, hier seien Zuspitzungen möglich und straffrei, weil in einer Abwägung der Artikel 5 Grundgesetz, der die Meinungsfreiheit sichert, höher zu bewerten sei. Inge Viett wird in zweiter Instanz dieses Recht ebenfalls zugesprochen werden. Doch Staatsanwaltschaft und die meisten Medienvertreter wird das nicht interessieren. Die einen werden weiter gegen unliebsame Meinungen mit allen juristischen und anderen Mitteln vorgehen. Die anderen werden auch weiter nicht bemerken, daß damit bürgerliche Rechte immer mehr beschnitten werden.
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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
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