Kommentar: Deutsche Maßstäbe

Wo liegt eigentlich dieses Mali, von dem man derzeit so viel hört und liest? »Vor unserer Haustür«, gibt Guido Westerwelle, der es eigentlich wissen müßte, Auskunft. Deshalb glaubt er, daß Deutschland nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht hat, dort kräftig mitzumischen.

Als Kind hatte ich einen Bleistiftanspitzer in Form eines bunten kleinen Globus. Vielleicht orientiert sich unser Außenminister heute noch an so einem Ding. Das würde auch erklären, warum das Ende der Kolonialzeit an ihm weitgehend vorbeigegangen ist. Denn damals, zur Zeit dieses Anspitzers, gehörten noch stolze 37 Prozent des afrikanischen Kontinents zum französischen Imperium. Der Rest war überwiegend britisch, und mittendrin lag der riesige Kongo-Staat, der 75mal größer war als das kleine Belgien, das ihn sich im 19. Jahrhundert als Kolonie unter den Nagel gerissen hatte.

Aber zurück zu Westerwelles Haustür. Von seinem Ministerium bis zum nordmalischen Timbuktu beträgt die Entfernung in Luftlinie 4230 Kilometer. Das ist mehr als das Doppelte der Strecke Berlin–Moskau. Die beiden Hauptstädte liegen nur 1600 Kilometer voneinander entfernt. Selbst nach Stalingrad, das zur Zeit noch Wolgograd heißt, sind es gerade mal schlappe 2220 Kilometer. Liegt Rußland demzufolge nicht bloß vor unserer Haustür, sondern fast schon in unserem Wohnzimmer? Und welche politischen Schlußfolgerungen im Sinn einer Verpflichtung zur militärischen Einmischung in russische Geschehnisse, beispielsweise in Tschetschenien – Berlin–Grosny: zirka 2500 Kilometer – ließen sich unter geeigneten Umständen daraus ziehen?

Aber das ist nur der Anfang: Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Klaus Naumann, erklärte im Gespräch mit Springers Welt am 17. Januar den gesamten afrikanischen Kontinent zu »Europas Vorfeld« und räsonierte: »Bei Gefahr dort muß Europa handeln.« Dagegen war Kaiser Wilhelms »Panthersprung« während der zweiten Marokkokrise 1911 – Distanz Berlin–Agadir: 3090 Kilometer – nur ein Katzensprung.

(km)