Mit dem Bärtigen
Von Daniel BratanovicWinkewinke machen, Hände schütteln, lachen. Kurt Beck konnte das gut: Volksnähe simulieren, »nah bei de Leut« sein, wie er im Idiom seiner Heimat sagte. Störend ist da, wenn das Publikum nicht mitmacht. Als der damalige Vorsitzende der deutschen Sozialdemokratie im Dezember 2006 auf dem Wiesbadener Sternschnuppenmarkt mit drei Nikoläusen posierte und das ganze von seiner Partei besorgte Elend hinweggrinsen wollte, platzte Henrico F. der Kragen. Der erwerbslose Mann dankte dem rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten lauthals für seine Misere und für Hartz IV. Die Arbeitsmarktreform, von der SPD ins Werk gesetzt, war zu dieser Zeit noch keine zwei Jahre in Kraft und noch immer Reizthema. Aus Beck entwich alle landesväterliche Jovialität. Er sehe nicht so aus, als ob er in seinem Leben schon viel gearbeitet habe, herrschte er Henrico F. an und schenkte ihm einen guten Rat: »Wenn Sie sich waschen und rasieren, haben Sie in drei Wochen einen Job.«
Waschen und rasieren. Wer es damit nicht so genau nimmt, macht sich in der Leistungsgesellschaft verdächtig und hält das sozialdemokratische Arbeitsethos – alles, wofür Beck steht – zum Narren. Die Liederlichkeit fiel auch an einem anderem, sehr viel elaborierteren Kritiker der Verhältnisse auf. In einem 1853 angefertigten Spitzelbericht der preußischen Polizei über den Mann aus Trier, heute in Rheinland-Pfalz gelegen, hieß es: »Im Privatleben ist er ein höchst unordentlicher, zynischer Mensch, ein schlechter Wirt; er führt ein wahres Zigeunerleben, Waschen, Kämmen und Wäschewechsel gehört bei ihm zu den Seltenheiten; er berauscht sich gern.«
Unangenehmer als der beschriebene Lebenswandel musste den Verteidigern der bestehenden Ordnung allerdings aufstoßen, dass dieser Karl Marx den Schein der bürgerlichen Gesellschaft durchschaute und einige unbequeme Wahrheiten bereit hielt, die auch in der Gegenwart Gültigkeit beanspruchen dürfen: Der Kapitalismus produziert ein wachsendes Heer an »Überflüssigen«, die – staatlich alimentiert und drangsaliert – die verbliebenen Erwerbstätigen durch ihre bloße Masse disziplinieren sollen, damit die nicht auf dumme Gedanken kommen und etwa exorbitant höhere Löhne fordern. Heute bestimmt dieser Staat mit Hartz IV die untere Preisgrenze der Ware Arbeitskraft und spricht damit eine beständige Drohung für alle anderen aus.
Wer über diese Vorgänge grundsätzlich Aufklärung verlangt und möchte, dass es anders wird, sollte Marx studieren. Wer wissen will, warum die ganze alte Scheiße noch immer da ist, aber weg soll, der muss die marxistische Tageszeitung junge Welt lesen und abonnieren. Bei beiden lässt sich lernen, dass kapitalistische Verhältnisse mitnichten unveränderliche Naturgegebenheit sind. Beck sieht das naturgemäß anders. Der Pfälzer Hartz-Bube mit der Aura einer Leberwurst hatte nach dem Vorfall auf dem Wiesbadener Sternschnuppenmarkt eine Poesiealbumweisheit parat, die Unveränderlichkeit bis in alle Ewigkeit postulierte: »S’ Lebbe iss doch, wie’s iss.« Man möchte Beck zurufen: Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei.
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