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Aus: Ausgabe vom 13.05.2015, Seite 11 / Feuilleton

Zur Kompensation

Der Philosoph Odo Marquard, der am Sonnabend im Alter von 87 Jahren starb, war ein Skeptiker. Allerdings keiner von jenen, die es sich mit der Devise »An allem ist zu zweifeln« bequem machen. Karl Marx erhob diese Formel auf einem Fragebogen seiner Töchter zu seiner Lieblingsmaxime, war aber vor allem materialistischer Dialektiker und Humanist. Das schützt vor skeptizistischer Dauernörgelei über Wahres oder über Begriffe und damit oft verbundener Verachtung für alles und jeden. Marquard hatte mit Revolution nichts am Hut, war jedoch ebenfalls ein kritischer Menschenfreund. Aus Marxens elfter Feuerbach-These machte er z. B.: »Die Geschichtsphilosophen haben die Welt nur verschieden verändert, es kömmt aber darauf an, sie zu verschonen.« Wobei er darauf hinwies, dass schon bei Marx unklar sei, ob die Welt oder die Philosophen mit dem jeweils letzten Wort gemeint seien.

Marquard war ein Konservativer, der sich über sich selbst und seine Profession lustig machte. Deren Zustand fasste er in dem Terminus »Inkompetenzkompensationskompetenz« zusammen und erläuterte: In der Antike war die Philosophie kompetent für alles, im Mittelalter wurde sie Magd der Theologie, später der Politik, heute ist sie nur noch kompetent dafür, die eigene Inkompetenz zu kompensieren. Die praktische Konsequenz sei die Nebentätigkeit: Der Mensch ist das tätige, der heutige Philosoph das nebentätige Wesen auf allen denkbaren Feldern, beide also von Mängeln bestimmt. So werde Philosophie nach ihrem Ende betrieben. Dem zum Trotz schrieb Marquard zahlreiche Abhandlungen philosophischer Natur mit Titeln wie »Abschied vom Prinzipiellen« oder »Apologie des Zufälligen« und nahm von 1965 bis 1993 einen philosophischen Lehrstuhl an der Universität Gießen ein. Die teilte nun seinen Tod mit.

Arnold Schölzel

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