Lenin, Leute, Literatur
»›Mama, ich werde nie sterben.‹ – ›Warum denkst du das?‹ fragte Mama. ›Alle sterben. Sogar Lenin ist gestorben.‹ Sogar Lenin … Ich weiß nicht, wie ich das alles erzählen soll.« So geht es zu in »Secondhand-Zeit«-Buch von Swetlana Alexijewitsch, das auch Zitate von Lenin selbst enthält, die so wunderbar pointiert sind, dass man die Quellenangabe wirklich schmerzlich vermisst: »Ich bin bereit, in einem Schweinestall zu leben – wenn darin nur die Sowjetmacht herrscht.« Aus späteren Tagen der UdSSR überliefert der Wälzer passable Witze wie »Warum gibt es keine Bisammützen mehr? Weil sich die Nomenklaturkader schneller vermehren als die Biber.« Als Fundgrube für Geschichten über Sowjethelden und andere Perestroika-Verlierer ist diese Collage von O-Tönen kaum zu überschätzen. Aber handelt es sich um Literatur im engeren Sinne? Für die Feuilleton-Chefin der Zeit, Iris Radisch, jedenfalls nicht. Alexijewitsch mache »großartigen Journalismus«, ließ Radisch am Donnerstag wissen, sei aber für einen Literaturpreis »denkbar ungeeignet«. Man kann verstehen, dass Liebhabern bürgerlicher Romane etwas fehlt, wenn nur noch leicht begradigte Interviewauszüge montiert werden, wie kunstvoll auch immer. Da muss doch was erzählt sein wollen! Da fehlt es an Gestaltungskraft, Durchdringung des Materials! Noch bessere Gründe gibt es, auf Frau Radischs Hochkultur zu pfeifen und Dialoge wie den eingangs zitierten zu riesengroßer Literatur zu erklären. Sollte ein Schnösel sich nach der Poetik erkundigen, die diesem Befund zugrunde liegt, dann summt man einfach eine Melodie aus dem »Abendgruß« des DDR-Kinderfernsehens: »Geschichten erzählen, die noch keiner weiß – frag doch die Leute, frag doch die Leute, hmmm hm«. (xre)
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