Sie sieht vier Polizisten ... Kleines Klangrätsel (1/4)
Anne-James Chaton ist einer der interessantesten französischen Schreiber. 45 Jahre, geboren in Besançon, wohnhaft meist in Paris. Er ist ein »Poète sonore«, einer, für den Poesie nicht (nur) geschriebenes Wort, sondern Klang ist. Seine Lesungen sind Trommelwirbel. Er hat Musiker dabei. Er ist Performer und bildender Künstler. In seinem neuen Buch »Elle regarde passer les gens …« (»Sie schaut, wie die Leute vorbeigehen«, erschienen bei Gallimard, es gibt noch keinen deutschen Verlag) stellt Chaton die Biographien von 13 Frauen der Zeitgeschichte vor. Er nennt die Namen der Frauen nicht. Er beginnt jeden Satz mit »Sie« (Elle). Er beschleunigt und bremst. Er lässt die Fakten sprechen. Er löst das Rätsel nicht auf. Er möchte, dass die Sätze mit monotoner Stimme laut gelesen werden. Er kennt die junge Welt nicht. Er wartet auf Reaktionen der Leser.
Aus Kapitel 2, »La Grande Guerre«:
»Sie ist vor den Sozialdemokraten auf der Hut. Sie vertraut ihnen nicht. Sie isst zu Abend. Sie geht zu Bett. Sie liest. Sie schläft ein… Sie fährt nach Berlin zurück. Sie sieht Paul Levi wieder. Sie trifft Leo Jogiches. Sie durchmisst die Alleen der Hauptstadt. Sie mischt sich unter bewaffnete Soldaten. Sie kapiert, was los ist. Sie will, dass man ihr zuhört. Sie wird eine Zeitung leiten. Sie wird Herausgeberin der Roten Fahne. Sie gründet ein Redaktionskomitee. Sie wartet auf Eberts üblen Schlag. Sie erfährt von der Schließung der Rotationspresse. Sie hört, wie man an die Tür schlägt. Sie öffnet. Sie sieht vier Polizisten …«
(Vorspann und Übersetzung: Hansgeorg Hermann)
Fortsetzung morgen (die folgenden drei Rätsel werden weniger leicht zu lösen sein, Auflösungen in der Montagausgabe)
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