Hilsenrath 90
Edgar Hilsenrath nennt sich einen »jüdischen Schriftsteller, der zufälligerweise deutsch schreibt«. Am heutigen Samstag vor 90 Jahren wurde er als älterer von zwei Söhnen des Kaufmanns David Hilsenrath und dessen Frau Anni in Leipzig geboren. Die Familie zog nach Halle/Saale um, wo der Vater ein gutgehendes Möbelgeschäft betrieb und Hilsenrath als einziges jüdisches Kind in der Klasse zur Zielscheibe antisemitischer Angriffe wurde. Die Familie floh zum Großvater nach Rumänien, wo ab 1941 die Faschisten regierten und Hilsenraths in ein jüdisches Ghetto auf dem Gebiet der heutigen Ukraine deportierten, wo sie 1944 durch sowjetische Truppen befreit wurden. Hilsenrath ging nach Palästina, wo er als Knecht und Tellerwäscher arbeitete. 1947 traf er in Lyon seine Eltern und seinen Bruder, sie hatten überlebt. 1951 wanderte er nach New York aus, wurde amerikanischer Staatsbürger und kehrte 1975 nach Deutschland zurück.
1964 war bei Kindler sein Debütroman »Nacht«, in dem er die Zeit im Ghetto verarbeitete, in Kleinauflage erschienen. Wahrgenommen wurde das Buch erst bei der Neuauflage 1978, nachdem Hilsenrath mit seinem zweiten Roman »Der Nazi & der Friseur«, der 1971 in übersetzter Fassung in den USA erschienen war, internationale Erfolge gefeiert hatte. Er erzählt darin die fiktive Geschichte eines Nazimassenmörders, der nach 1945 unter dem Namen seines von ihm ermordeten jüdischen Jugendfreundes nach Palästina auswandert, um dort zum Volkshelden aufzusteigen. 60 deutsche Verlage lehnten dieses Manuskript ab – so dürfe man nicht über den Holocaust schreiben. Es erschien schließlich 1977 im kleinen Kölner Verlag Helmut Braun. Dieser habe ihn »praktisch in der Bundesrepublik durchgesetzt«, erzählte Hilsenrath 2007 dieser Zeitung. »Der ist mit dem Buch persönlich zum Spiegel gegangen und hat die gebeten, es zu besprechen. Fritz Rumler hat im Spiegel eine große Rezension geschrieben, und das hat das Ganze in Schwung gebracht.« Braun aber ging 1978 pleite und Hilsenrath war bei verschiedenen deutschen Verlagen, am längsten bei Dittrich in Köln, wo auch eine Edition seines Gesamtwerks erschien, bis Hilsenrath sich abwandte.
2004 schrieb Robert Heinle über ihn in dieser Zeitung: »Trotz mehr als fünf Millionen verkaufter Bücher weltweit ist Hilsenrath ein weithin unbekannter Autor, ein ewiger Geheimtip. Der Erzähler fand zwar zeitweise Beachtung, wurde vom bürgerlichen Feuilleton jedoch nie so hofiert wie seine Kollegen Grass oder Walser. Schullektüre werden Hilsenraths Romane wohl auch nicht abgeben. Dass junge Leser Hilsenraths Werk aus sich heraus für sich entdecken, wäre hingegen wünschenswert, denn der Autor nähert sich dem deutschen Faschismus mit anarchischem Humor und anarchischem Ernst.« (jW)
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