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Aus: Ausgabe vom 22.11.2017, Seite 11 / Feuilleton
Literatur

Keine von hier

Von Gerd Bedszent

Ein Sturmtief zieht über Deutschland. Der Dauerregen wird zum Unwetter, eine Überschwemmung zur Flutkata­strophe. Eine Handvoll Menschen flüchtet sich vor den Wassermassen der tobenden Werra in ein einsames Gehöft auf einem Hügel. Dort versuchen sie, ihr Überleben zu organisieren.

Ist dies ein Roman über die Folgen der Klimakatastrophe? Nein, hier geht es um eine Katastrophe ganz anderer Art. Als ein Floß bei den durch das Hochwasser vom Rest der Welt abgeschnittenen Leuten anlanden will, werden die Neuankömmlinge brüsk abgewiesen: »Verschwindet!« Weshalb? Ihre Hautfarbe ist dunkel. »Das sind keine von hier.«

Der Roman, anfangs eher ein Thriller, wird dann zusehends surreal. Die Autorin Anne Kuhlmeyer – eine Medizinerin und Therapeutin – stellt Fragen aus dem Grenzbereich von Philosophie und Psychologie, zitiert Werke der Welt- und Gegenwartsliteratur, bringt die Überlegungen in neue Zusammenhänge. Kann man unsterblich werden? Wie reagieren Menschen, wenn es für sie keinen Tod mehr gibt? Was fangen sie mit dem Wissen an, dass sie all ihre Mitmenschen überleben werden? Woraus resultiert der krasse Egoismus vieler Menschen, die Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod anderer?

Um die Motivation ihrer Helden und Antihelden zu erklären, geht die Autorin tief in die Vergangenheit zurück. Dann wieder finden sich ihre Protagonisten ganz unvermittelt in anderen Regionen unserer Gegenwart wieder. Zum Beispiel in den zerfallenden Altbauvierteln der kubanischen Hauptstadt Havanna. Oder im umkämpften, von nationalistischen Banditen heimgesuchten Osten der Ukraine. Oder in den bettelarmen Roma-Dörfern im Süden des Balkan. Alles nur Träume? Oder ein buntes Mosaik phantastischer Reisen in die Abgründe der Vergangenheit und Gegenwart unserer schönen neuen Welt? Auf jeden Fall gibt die Autorin in dieser Ebene des Romans den unbekannten Namenlosen Namen und Gesichter.

Das Unwetter hat sich schließlich irgendwann ausgetobt. Rettungskräfte der Bundeswehr evakuieren – mit vorgehaltener Waffe – die Eingeschlossenen. Die Welt scheint wieder in Ordnung. Aber im Keller sind Leichen zurückgeblieben. Und zumindest bei der Hauptfigur ein Gefühl der Scham und der Hilflosigkeit. Das Bewusstsein, versagt zu haben. Die sogenannte Flüchtlingskrise des Jahres 2015 wird im Buch mit keinem Wort erwähnt. Und doch ist sie in weiten Teilen des Werkes präsent. Das Ende des Buches ist zugleich sein Beginn. Wenn man Geschichten aufschreibt, schreibt man auch über potentielle Geschichte. Und die Geschichte vergangener Katastrophen kann nützlich sein für die, die nach uns kommen.

Anne Kuhlmeyer: Drift. Argument-Verlag, Hamburg 2017, 317 Seiten, 12 Euro

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