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Aus: Ausgabe vom 01.06.2024, Seite 12 / Thema
Kuba

»Wir schicken weder Polizei noch Streitkräfte«

Über die anhaltende Aggression der USA, BRICS als Perspektive und lateinamerikanische Integration. Ein Gespräch mit dem kubanischen Präsidenten Miguel Díaz-Canel
Von Ignacio Ramonet
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Havanna setzt große Hoffnungen in das BRICS-Bündnis. Treffen chinesischer und kubanischer Delegierter am Rande des 15. Gipfels im südafrikanischen Johannesburg (23.8.2023)

Kubas Präsident Miguel Díaz-Canel ist skeptisch, ob sich an der feindseligen Haltung Washingtons gegenüber seinem Land nach den US-Präsidentschaftswahlen etwas ändern wird. Statt dessen setzt er auf engere Beziehungen zu Russland, eine mögliche Mitgliedschaft im BRICS-Bündnis und die Stärkung der lateinamerikanischen Integration. Über seine Einschätzung der internationalen Lage, aktuelle innenpolitische Herausforderungen und wirtschaftliche Perspektiven Kubas sprach Díaz-Canel am 11. Mai 2024 mit dem französisch-spanischen Journalisten Ignacio Ramonet. Mit dessen freundlicher Genehmigung veröffentlicht junge Welt an dieser Stelle redaktionell bearbeitete Auszüge aus dem außenpolitischen Teil des umfangreichen Interviews. (jW)

Ignacio Ramonet: Seit Jahren verurteilt die Generalversammlung der Vereinten Nationen die illegale Blockade der Vereinigten Staaten gegen Ihr Land. Aber offensichtlich hat dieser Erfolg nicht zu konkreten Ergebnissen geführt. Alle bisherigen US-Regierungen haben nicht nachgegeben, sondern die Blockade fortgesetzt und sogar verschärft. Mit welchen neuen Initiativen versucht Kuba, die Beendigung der Blockade zu erreichen? Mich interessiert zum Beispiel, ob Sie versucht haben, direkt mit Präsident Joseph Biden zu sprechen.

Miguel Díaz-Canel: Wir haben der gegenwärtigen Regierung der Vereinigten Staaten auf direktem und indirektem Wege mitgeteilt, dass wir bereit sind, uns zu fairen Bedingungen an einen Tisch zu setzen, um ohne Auflagen über alle Fragen der Beziehungen zwischen Kuba und den Vereinigten Staaten zu sprechen. Wir sind daran interessiert und dazu bereit, uns über alle Fragen auszutauschen, die sie diskutieren wollen. Aber bitte ohne Vorbedingungen und auf Augenhöhe zu gleichberechtigten Konditionen.

Ramonet: Wie reagiert die derzeitige US-Regierung?

Díaz-Canel: Wir sind zu der Überzeugung gelangt, dass die derzeitige US-Regierung nicht gewillt ist, ihr Verhältnis zu Kuba zu normalisieren. Das liegt vor allem daran, dass sie ihre Politik in dieser Angelegenheit vorrangig auf die Interessen einer Minderheit, der kubanisch-amerikanischen Mafia mit Sitz in Florida, ausgerichtet hat. Das erschwert es, die Art von Beziehungen zu führen, die wir gerne hätten. Trotz aller ideologischer Differenzen, die wir immer haben werden, würden wir eine zivilisierte Beziehung zwischen Nachbarn begrüßen, in der es eine Zusammenarbeit, einen wirtschaftlichen, kommerziellen, wissenschaftlichen, finanziellen und kulturellen Austausch in allen Lebensbereichen geben könnte.

Ramonet: Wie erklären Sie sich, dass Präsident Biden, der ja immerhin zwei Amtszeiten lang der Vizepräsident von Barack Obama war, diese Position einnimmt, nachdem Obama die Atmosphäre zwischen beiden Ländern, sagen wir, verändert und die Beziehungen etwas verbessert hatte?

Díaz-Canel: Das lässt sich nur dadurch erklären, dass es in den Vereinigten Staaten nicht so sehr um die politischen Positionen der Parteien geht. Ein Demokrat handelt heute oft genauso wie ein Republikaner. Es gibt einen militärisch-industriellen Komplex, es gibt eine andere Machtstruktur dahinter, die im Schatten die Politik der US-Regierung bestimmt, und das sind imperiale Positionen. Und es gibt auch eine Unterordnung unter eine Interessengruppe: eine – vor allem aus wahltaktischen Gründen erfolgte – Übernahme von Positionen der kubanisch-amerikanischen Mafia.

Ramonet: Haben Sie die Hoffnung, dass die nächsten Wahlen diese Situation ändern werden?

Díaz-Canel: Ich wünschte, sie würde sich ändern, und ich wünschte, wir hätten den Raum, um alle unsere Positionen von Angesicht zu Angesicht zu diskutieren. Ich wünschte, dass es eine andere Art von Beziehung gäbe und dass die Blockade aufgehoben würde. Aber meine Überzeugung ist, dass wir die Blockade aus eigener Kraft überwinden müssen, mit unserer Kapazität, mit unserer Arbeit, mit unserem Talent, mit unserer Intelligenz und mit unserer Anstrengung. Das wäre die beste Antwort auf die Hartnäckigkeit, mit der diese völkermörderische Blockade gegen unser Volk aufrechterhalten wird.

Ramonet: Die Biden-Regierung führt Kuba weiterhin in einer US-Liste von Ländern auf, die angeblich den »Terrorismus« unterstützen. Eine Maßnahme, die Donald Trump noch kurz vor seinem Auszug aus dem Weißen Haus verabschiedet hatte.

Díaz-Canel: Ja, Biden hat diese willkürliche Entscheidung – wie auch die meisten anderen der unter Trump verschärften zusätzlichen Sanktionen – beibehalten. Aber darüber hinaus hat die Regierung Biden neue und sehr perverse Aktionen gegen Kuba gestartet. Ich denke an das Beispiel der Lungenbeatmungsgeräte während der Covid-19-Pandemie. Als wir nicht ausreichend medizinischen Sauerstoff hatten und ihn aus Ländern in der Region kaufen wollten, die das benötigte Produkt in kürzester Zeit hätten liefern können, hat die Regierung der Vereinigten Staaten Druck auf Unternehmen ausgeübt, die uns beliefern wollten. Sie wollten verhindern, dass dieser Sauerstoff nach Kuba gelangt. Das ist doch eine absolut kriminelle Handlung. Stellen Sie sich das einmal vor, dass mitten in einer Pandemie den Menschen mit Atemproblemen auf den Intensivstationen diese Versorgung verweigert werden muss und sie damit zum Tode verurteilt werden. Das ist etwas, was man nicht vergisst. Ebenso die Art und Weise, wie sie die Covid-19-Situation in Kuba manipuliert und uns attackiert haben. Trotzdem haben wir die Folgen der Pandemie besser gehandhabt als die US-Regierung, obwohl sie über viel mehr Geld und Ressourcen verfügt. Aber sie riefen »SOS Cuba« und veranstalteten unter dieser Parole eine riesige Medienmanipulation über die Ereignisse des 11. Juli 2021 (landesweite Proteste, jW). Heute sind sie so zynisch und behaupten, dass sie wegen der Vorgänge am 11. Juli nicht bereit sind, die Beziehungen zu Kuba zu normalisieren. Das ist ein ungeheurer Zynismus und eine ungeheure Lüge, mit der sie ihre Position vor der Welt rechtfertigen wollen.

Ramonet: Eine Information, die im Moment kursiert, lässt vielleicht etwas Hoffnung aufkommen, nämlich dass Biden im Falle eines Sieges möglicherweise nicht mehr Kamala Harris, sondern Michelle Obama zur Vizepräsidentin machen könnte. Glauben Sie, dass es Hoffnung gibt, wenn sich das bestätigen würde?

Díaz-Canel: Ich denke, dass dies alles sehr spekulativ ist und es heute in der gegenwärtigen Situation in den Vereinigten Staaten nicht möglich ist, objektiv vorherzusagen, wie das Votum der Wähler ausfallen wird. Deren Verhalten wird sehr stark von der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes beeinflusst, von innenpolitischen Themen wie der Frage der Abtreibung sowie von internationalen Themen wie Palästina und dem Krieg in der Ukraine. Es gibt also eine ganze Reihe von Problemen, die für das Leben der US-amerikanischen Bevölkerung eine Rolle spielen. Deshalb glaube ich nicht, dass man voraussagen kann, wie die Wähler abstimmen werden. Außerdem gibt es noch viele Unentschlossene. Auf jeden Fall könnte aber die Ankündigung der Kandidatur einer Persönlichkeit wie Michelle Obama die Situation erheblich beeinflussen.

Ramonet: Nun zu einem anderen Thema. Sie sind kürzlich aus Moskau zurückgekehrt, wo Sie am 9. Mai an den Feierlichkeiten zum Jahrestag des Sieges über den Nazifaschismus und an der Plenarsitzung des Obersten Eurasischen Wirtschaftsrates (Supreme Eurasian Economic Council, jW) teilgenommen haben. Suchen Sie nach neuen wirtschaftlichen Allianzen? Rechnet Kuba damit, auf die eine oder andere Weise dem BRICS-Bündnis beizutreten?

Díaz-Canel: Wir waren auf Einladung von Präsident Wladimir Putin in Russland und haben dort auch zum ersten Mal direkt an einem Treffen des Obersten Rates der Eurasischen Wirtschaftsunion, der EAWU, teilgenommen. An vorangegangenen Treffen hatten wir uns wegen der Pandemie nur virtuell per Videoschaltung beteiligt. Es geht also nicht darum, ein neues Bündnis einzugehen. Bei der EAWU handelt es sich um ein Bündnis, das wir schon seit langem eingegangen sind. Die jetzige Tagung des Obersten Rates fand zum zehnten Jahrestag der EAWU-Gründung statt. Daher war es auch an der Zeit, eine Bilanz über die Ergebnisse dieser regionalen Integration zu ziehen, in der wir den Status eines Beobachterlandes haben. Wir begingen zudem den Jahrestag der Aufnahme der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Kuba, die heute mit der Russischen Föderation fortgesetzt werden. Da die heutigen EAWU-Mitgliedsländer zuvor alle zur UdSSR gehörten, sagte Belarus’ Präsident Alexander Lukaschenko mir gegenüber: »Dieses Jubiläum gehört eigentlich uns allen, weil wir alle auch Teil der Sowjetunion waren.«

Ramonet: Welche Chancen bietet die Zusammenarbeit mit der aus Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgistan und Russland bestehenden Union für Ihr Land?

Díaz-Canel: Ich glaube, dass die Eurasische Union in den vergangenen zehn Jahren eine bedeutende wirtschaftliche und handelspolitische Dynamik gezeigt hat. Das Bruttoinlandsprodukt dieser Länder in der Region ist beträchtlich gewachsen, und sie steht für sehr faire Prinzipien in bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung und die Komplementarität zwischen diesen Ländern. Für uns bietet das viele Möglichkeiten, denn wir können insbesondere in Bereichen wie der Biotechnologie und der pharmazeutischen Industrie einen Beitrag leisten. Wir können diesen Raum nutzen, indem unsere Arzneimittel von den Regulierungsbehörden dieser Länder anerkannt werden, und wir können auch in einen Markt eintreten, der für uns leichter zugänglich ist, denn auch sie haben Absichten und Bedürfnisse für diese Arzneimittel und für den Transfer von Technologien und für gemeinsame Investitionen. Das eröffnet zudem Investoren aus diesen Ländern die Möglichkeit, sich an wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsprogrammen in unserem Land zu beteiligen. Es geht dabei auch um die Ernährungssouveränität, eines der Ziele, die wir mit der gesamten Union teilen, sowie um die ökologische Nachhaltigkeit und die Entwicklung erneuerbarer Energiequellen. Es ist also ein wichtiger Bereich für uns.

Ramonet: Welche Rolle spielt das BRICS-Bündnis aufstrebender Volkswirtschaften für Sie?

Díaz-Canel: Die BRICS-Länder sind heute eine der Alternativen in der Welt. Sie bilden einen Block von Staaten und Volkswirtschaften, der die Aussicht eines Bruchs mit der US-Hegemonie in den internationalen Beziehungen eröffnet. Daher sind die BRICS heute zu einem bedeutenden alternativen und integrativen Raum geworden. Und die BRICS sind offen für die Länder des Südens.

Ramonet: Sie haben sich ja erst am 1. Januar erweitert.

Díaz-Canel: Die BRICS haben sich gerade erweitert. Sie haben ihre Bereitschaft gezeigt, noch engere Beziehungen mit dem afrikanischen Kontinent, mit Lateinamerika und der Karibik zu knüpfen. Sie sind dabei, eine Beziehung mit größerem Konsens, größerer Gleichberechtigung und größerem Respekt aufzubauen. Andererseits schlagen die BRICS auch eine Alternative zum US-Dollar vor und fördern den Handel mit den Währungen der einzelnen Länder oder auch den Handel mit Ausgleichszahlungen auf der Grundlage des Austauschs von Produkten und Dienstleistungen, die von jedem der Länder erzeugt werden. Und die fünf Länder an der Spitze (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, jW), die Gründer der BRICS, sind alles Länder, die ausgezeichnete Beziehungen zu Kuba unterhalten. Wir beobachten das Bündnis mit großem Interesse und wir haben es auch jetzt bei dem Treffen mit Präsident Putin besprochen, dass Kuba den Beitritt zu den BRICS anstrebt.

Ramonet: Das nächste BRICS-Gipfeltreffen findet ja im Oktober im russischen Kasan statt. Werden Sie daran teilnehmen?

Díaz-Canel: Das hängt natürlich vor allem davon ab, wie sich die Ereignisse bis dahin entwickeln.

Ramonet: Es sieht so aus, als wolle man eine neue Art von Mitgliedschaft schaffen, als »Partner« oder »assoziiertes Mitglied«. Wäre das eine Art Erweiterung, in der Platz für Kuba wäre?

Díaz-Canel: Es gäbe Raum für Kuba, aber es hängt natürlich von dem Konsens ab, der mit den Ländern erreicht wird, die die BRICS anführen. Sie scheinen dafür aufgeschlossen zu sein, denn sie ließen Kuba im vergangenen Jahr am Südafrikagipfel des Blocks teilnehmen; nicht nur als Land, sondern auch als Vertreter der »Gruppe der 77 plus China«, deren Vorsitz wir damals innehatten. Den Vorschlägen der »G77 plus«, die Kuba in ihrem Namen vorbrachte, und auch der kubanischen Position wurde große Aufmerksamkeit geschenkt. Ich denke, dass dies ein sehr günstiges Umfeld für die Süd-Süd-Beziehungen ist und dass es eine neue Perspektive für die notwendige neue internationale Wirtschaftsordnung eröffnet.

Ramonet: Kommen wir zur Lage in Lateinamerika und der Karibik, wo sich die Krisen derzeit häufen. Ich denke zum Beispiel an den Angriff auf die mexikanische Botschaft in Ecuador. Das US Southern Command errichtet Militärbasen in Guyana, was eine Bedrohung für Venezuela und seinen historischen Anspruch auf den Essequibo darstellt. In Argentinien macht Präsident Javier Milei einen in Jahrzehnten erreichten sozialen Fortschritt zunichte. In Haiti ist kein Ende der Unruhen in Sicht. Wie beurteilen Sie diese Situationen? Und wie kann Kuba zur Förderung von Souveränität, Frieden und Fortschritt in dieser Region beitragen?

Díaz-Canel: Was Sie beschreiben, ist ein Ausdruck der Widersprüche, die auf globaler Ebene bestehen und die sich auch auf regionaler Ebene im Falle Lateinamerikas und der Karibik manifestieren. Ich denke, es ist auch eine Folge der Beharrlichkeit des Imperiums, die Monroe-Doktrin aufrechtzuerhalten, mit ihrem imperialistischen Konzept von »Amerika für die Amerikaner«. Aber dieses Konzept sieht keine Region Lateinamerika und die Karibik für uns alle, die wir auf diesem Kontinent leben, vor. Es ist darauf ausgerichtet, dass lateinamerikanische und karibische Länder sich den USA und der Macht des Imperiums unterordnen. Dies ist ein Ausdruck der US-Vision, der Verachtung für unsere Völker und der Vorstellung von Lateinamerika und der Karibik als ihrem Hinterhof. Allerdings gibt es mittlerweile in unserer Region eine Reihe von Regierungen, die revolutionäre Prozesse aufrechterhalten, obwohl sie großen Rückschlägen, Druck, Sanktionen, Beleidigungen, Aggressionen und Einmischungen ausgesetzt waren, wie Kuba, Venezuela und Nicaragua. Es gibt auch eine ganze Reihe fortschrittlicher Regierungen, die ebenfalls für eine günstige Korrelation der linken Kräfte in der Region stehen: Luis Arce in Bolivien, Lula in Brasilien, López Obrador in Mexiko, Xiomara Castro in Honduras, Gabriel Boric in Chile oder Gustavo Petro in Kolumbien tragen dazu bei, Stabilität zu schaffen und die Zusammenarbeit und den Austausch zu erleichtern. Aber die Vereinigten Staaten geben keine Ruhe und versuchen ständig, rechte Kräfte mit, ich würde sagen, bisweilen sehr schmutzigen Mechanismen zu mobilisieren, um Instabilität in diesen Ländern zu provozieren, um zu verhindern, dass linke Prozesse oder linke Regierungen an der Macht bleiben. Wo die Linke verloren hat, halten sie die Rechten an der Macht. Dabei handelt es sich um eine Rechte, die sich der US-Regierung und den Plänen der Vereinigten Staaten völlig unterwirft und außerdem Streitigkeiten über bestimmte Fragen schürt, die eine historische Komponente haben. Sie fördert Brüche, Verleumdungen, schürt Spaltungen, um Uneinigkeit in der Region zu provozieren. So gibt es heute einige Regierungen, die die gesamte US-Politik auf dem Kontinent unterstützen, einschließlich der Präsenz von NATO-Truppen auf dem Gebiet Lateinamerikas und der Karibik. Es gibt Regierungen, die das Recht auf Souveränität und Selbstbestimmung von Gebieten ihrer eigenen Länder leugnen, in denen es Kriege gegeben hat und in denen es Helden und Märtyrer gibt, die für die Unabhängigkeit und die Souveränität gestorben sind. Regierungen, die zudem über eine mediale Projektion verfügen, in der ihre Prinzipien dominieren, die aber völlig beleidigend und verletzend gegenüber jenen ist, die anders denken, gegenüber jenen, die meinen, die Dinge anders zu machen, oder gegenüber jenen, die eine andere Sicht verfechten, wie die Welt aussehen sollte.

Ramonet: Grund für Resignation?

Díaz-Canel: Nein. Ich werde immer danach streben, und wir werden alle unsere Anstrengungen auf eine andere, bessere Welt richten, die möglich ist. Wenn wir eine Position vertreten, tun wir es direkt und frontal. Wir lassen uns nicht auf eine Show für die Medien ein, auf Kraftausdrücke, auf Beleidigungen, auf diese Art von, ich würde sagen, politischer Vulgarität, zu der sich andere in der Welt hergeben. Als Standpunkt Kubas werden wir gegenüber den Ländern Lateinamerikas und der Karibik immer die Achtung der Souveränität und der Unabhängigkeit dieser Länder verteidigen, die Achtung ihrer Selbstbestimmung über das von ihnen angenommene sozio-politische System und die Bereitschaft, unabhängig von Systemen und Ideologien respektvolle, unterstützende und kooperative Beziehungen mit jedem dieser Länder zu pflegen, und das tun wir auch mit den meisten von ihnen. Wir brechen die Beziehungen zu lateinamerikanischen Ländern niemals ab und versuchen, durch Dialog, durch Diskussion, durch Argumentation jede Frage zu lösen, zu der wir unterschiedliche Positionen vertreten. Ich glaube, dass die Solidarität Kubas mit Lateinamerika und der Karibik ein beredtes Zeugnis für die Übereinstimmung mit diesen Überzeugungen sind. Wir haben Ärzte und Lehrer, internationalistische Mitarbeiter, auch im Ingenieurwesen und anderen Bereichen der Wirtschaft und Gesellschaft, in mehrere lateinamerikanische und karibische Länder entsandt. Wir schicken weder Polizei noch Streitkräfte nach Haiti – noch marschieren wir ein. Heute, inmitten einer Situation, in der einige Leute eine Intervention oder eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Haitis propagieren, haben wir dort eine medizinische Brigade, die dem haitianischen Volk hilft. Einem Volk, das meiner Meinung nach den größten Respekt verdient für all das, was es erlitten hat, weil es die erste Nation in der Region war, die einer Revolution zum Sieg verhalf.

Ramonet: Welche Rolle kann Kuba angesichts der eigenen Probleme heute in der Region spielen?

Díaz-Canel: Die größte Unterstützung, die wir der lateinamerikanischen Einheit und Integration geben können, besteht darin, mit gutem Beispiel voranzugehen. Unser Amerika, von dem Simón Bolívar und José Martí so respektvoll sprachen, hat eine gemeinsame Geschichte, eine gemeinsame Kultur, wunderbare, fleißige, intelligente und kreative Menschen. Die präkolumbianischen Kulturen Lateinamerikas brauchen die mesopotamischen Kulturen oder die Kulturen des alten Griechenlands nicht zu beneiden. Diese waren zuerst bekannt, aber wenn Sie in der Geschichte zurückgehen, sehen Sie, dass unsere Kulturen in der Art, wie sie die Zeit gemessen haben, wie sie Wasser kanalisiert haben, wie sie produziert haben, genauso entwickelt waren wie diese, und das ist ein Teil unserer Wurzeln. Das kann man in jedem der lateinamerikanischen und karibischen Länder sehen. Unser kultureller Reichtum, das fortschrittliche Denken in Lateinamerika und der Karibik, die Ansätze unserer Denker, Philosophen, Akademiker sind fortschrittliche Positionen, die die Wurzeln der lateinamerikanischen und karibischen Identität verteidigen. Darüber ist unsere Region, in der sich heute leider die größte Ungleichheit zwischen ihren Völkern manifestiert, reich an Ressourcen.

Ich träume davon und bin überzeugt, dass der lateinamerikanische Kontinent mit diesen Tugenden und Reichtümern so integriert sein könnte, dass er für die ganze Welt zu einem Beispiel für Emanzipation werden kann, und dafür, dass er den Menschen in den Mittelpunkt all dessen stellt, was für die Welt getan wird. Ich glaube, dass dieser Moment eher früher als später kommen wird. Unsere Völker haben Aggression erlebt, sie haben Verachtung erlebt, sie haben Interventionen erlebt, sie haben Praktiken der Ungleichheit erlebt, sie wurden von Prozessen ausgeschlossen, sie wurden von Möglichkeiten ausgeschlossen und streben jetzt nach Gerechtigkeit.

In Lateinamerika und der Karibik gibt es noch viel Analphabetismus zu bekämpfen. Es gibt noch viel zu tun in der Geschlechterfrage. Es gibt noch viel zu erreichen für die Emanzipation der wunderbaren lateinamerikanischen und karibischen Frauen. Es gibt noch viel zu überwinden in bezug auf die Gleichberechtigung aller unserer Völker und die soziale Gerechtigkeit. Aber es gibt ein historisches Potential, ein kulturelles Potential. Ich bin sicher, dass wir weiterhin Fortschritte bei der Integration machen werden und dass dies die Botschaft, die Unterstützung und das Beispiel ist, das Kuba geben kann. Ein lateinamerikanisches Land wird niemals das Gefühl haben, dass Kuba eine Gefahr für es darstellt. Im Gegenteil, in Kuba werden sie immer selbstlose Solidarität, Unterstützung, Verständnis und die Bereitschaft finden, sich zu integrieren und voranzukommen.

Übersetzung aus dem Spanischen und redaktionelle Bearbeitung: Volker Hermsdorf

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