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Aus: Ausgabe vom 01.06.2024, Seite 15 / Geschichte
Palästina

Im Wartestand

»Ministaat«. Vor 50 Jahren debattierte der Palästinensische Nationalrat über eine mögliche Regierung von Teilen Palästinas
Von Knut Mellenthin
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Der Anführer der PLO, Jassir Arafat, bei einem Treffen der Arabischen Liga (Rabat, 26.10.1974)

Vor 50 Jahren, am 8. Juni 1974, beschloss der in Kairo tagende Palästinensische Nationalrat (PNC) ein Zehn-Punkte-Programm, das im Rückblick als erster kleiner Schritt in Richtung einer Zweistaatenlösung – anstelle des Alleinanspruchs auf das gesamte ehemalige britische Mandatsgebiet – gelten kann. Der PNC verstand sich damals als eine Vertretung aller Palästinenser innerhalb und außerhalb des eigentlichen Palästinas und aller Sektoren der weltweiten palästinensischen Gemeinschaft. Es war seine zwölfte Tagung. Insgesamt fanden in den 27 Jahren zwischen 1964 und 1991 zwanzig Sitzungen statt. Spätestens seit dem ersten Oslo-Abkommen 1993 hat der PNC jede praktische Relevanz verloren und tritt nur noch selten zusammen.

Unmittelbares Ergebnis der kontrovers diskutierten Entscheidung vom 8. Juni 1974 war die Spaltung des Dachverbandes Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO). Mehrere Gruppen, die als besonders radikal und militant galten, schlossen sich unter der Bezeichnung »Ablehnungsfront« zusammen, ohne jedoch wirklich eine gemeinsame Politik und Praxis zu entwickeln. Die bedeutendste und international bekannteste unter ihnen war die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP). Ihr Prestige verdankte sie hauptsächlich einer gründlich geplanten Aktion, bei der sie im September 1970 fünf Passagierflugzeuge gekapert hatte, von denen drei auf ein Flugfeld in der jordanischen Wüste umgelenkt wurden. Das Unternehmen verlief fast unblutig.

Souveräne Autorität

Die umstrittenste Aussage des Zehn-Punkte-Programms ermächtigte und verpflichtete die PLO, »alle Mittel einzusetzen, an erster Stelle den bewaffneten Kampf, um palästinensisches Territorium zu befreien« und eine souveräne »Autorität über jeden Teil Palästinas zu errichten, der befreit wird«. Die Gegner dieser Formulierung sprachen sarkastisch von einem »Ministaat« und unterstellten eine Preisgabe des nationalen Rechts auf ganz Palästina. Sie ließen sich auch nicht dadurch beeindrucken, dass dieser Anspruch im Zehn-Punkte-Programm ebenso bekräftigt wurde wie die Weigerung, den Staat Israel anzuerkennen, und die Ablehnung der Resolution 242 des UN-Sicherheitsrats vom 22. November 1967, in der die Palästinenser nur als Flüchtlingsproblem auftauchen.

Die Befürworter der Formulierung verwiesen darauf, dass sich nach dem Oktoberkrieg 1973 und der Einleitung von Verhandlungen zwischen den Kriegsgegnern Ägypten und Syrien einerseits, Israel andererseits diese Frage tatsächlich stellen könnte. Sie argumentierten mit der Möglichkeit, dass die israelischen Streitkräfte sich aus Teilen der besetzten Gebiete zurückziehen könnten, die dann an das Königreich Jordanien fallen könnten.

In Wirklichkeit hat diese Konstellation und die daraus konstruierte Frage nach der Taktik der PLO niemals bestanden, weil letztlich keine relevante Kraft in Israel einen Verzicht auf die Kontrolle über die im Junikrieg 1967 eroberten Gebiete Westbank und Gazastreifen in Betracht zog. Aber zum Zeitpunkt der zwölften Sitzung des PNC schien es Anzeichen zu geben, dass der Verhandlungsprozess nach dem Oktoberkrieg auch das Schicksal der Palästinenser einbeziehen könnte. In Genf hatte am 21. Dezember 1973 eine Nahost-»Friedenskonferenz« stattgefunden, bei der die USA und die Sowjetunion als aufsichtsführende »Beisitzer« fungierten. Die direkt Beteiligten waren die Außenminister Israels, Ägyptens und Jordaniens. Die ebenfalls eingeladene syrische Regierung hatte ihre Teilnahme davon abhängig gemacht, dass auch die PLO zugelassen werden sollte. Da Israel und die USA diese Forderung ablehnten, blieb auch Damaskus fern. Die Konferenz wurde nach nur einem Tag, an dem Reden vorgetragen wurden, ohne praktische Folgen »vertagt« – und trotz anders lautender Ankündigungen nie fortgesetzt.

Dabei hatte sich die sowjetische Führung von der Genfer Konferenz die gemeinsame Entwicklung eines Weltmanagements an der Seite der USA erhofft. Unter diesem Aspekt hatte die mit der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) eng verbundene Demokratische Befreiungsfront Palästinas (DFLP) die Aufnahme der »Ministaat«-Formel in das Zehn-Punkte-Programm initiativ vorangetrieben. Die US-Regierungen – zunächst unter Richard Nixon, dann unter seinen Nachfolgern Gerald Ford und Jimmy Carter – entschieden sich jedoch für einen diplomatischen Alleingang statt einer Partnerschaft mit der Sowjetunion. Am 17. September 1978 wurde das Camp-David-Abkommen unterzeichnet und am 26. März 1979 der Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel, der trotz kleiner Gefährdungen immer noch Bestand hat.

Anerkennung der PLO

Der Friedensvertrag enthält einen Anhang, in dem den Palästinensern der besetzten Gebiete eine Beteiligung an künftigen Verhandlungen, die Wahl einer »Selbstregierung« und ein schrittweiser Abzug der israelischen Truppen versprochen wurden. Spätestens drei Jahre nach Bildung der »Selbstregierung« sollten Verhandlungen über eine »volle Autonomie für die Einwohner« beginnen. Insgesamt sollte die »Übergangsperiode« nicht länger als fünf Jahre, also maximal bis zum Frühjahr 1984, dauern. Realisiert wurde so gut wie nichts davon. Nachdem Israel die 1972 und 1976 gewählten Bürgermeister in den besetzten Gebieten abgesetzt hatte, von denen viele der PLO nahestanden, versuchten das israelische Militär und die Besatzungsbehörden, die Ämter mit gefügigen Kollaborateuren zu besetzen. Das scheiterte in der ersten Hälfte der 1980er Jahre am palästinensischen Widerstand, der in einzelnen Fällen bis zu Mordanschlägen ging.

Aber zunächst stellten sich für die 1964 als Instrument arabischer Staaten gegründete, seit 1969 von Jassir Arafats Al-Fatah dominierte PLO geradezu phantastische Anfangserfolge ein, die nicht zuletzt auf den taktischen Schachzug mit dem »Ministaat« zurückgeführt werden können. Am 14. Oktober 1974 beschloss die UN-Vollversammlung mit 105 Stimmen gegen nur vier Neinstimmen – bei 20 Enthaltungen und neun Nichtabstimmenden –, Arafat zu einer Ansprache einzuladen. Eine Gipfelkonferenz der Arabischen Liga, die vom 25. bis 28. Oktober 1974 in der marokkanischen Hauptstadt Rabat stattfand, »bekräftigte« die Rolle der PLO als einzige legitime Vertreterin des palästinensischen Volkes. Auch Jordanien, das selbst Anspruch auf die besetzte Westbank erhob, stimmte zu. Am 13. November folgte Arafats spektakulärer Auftritt in der UN-Vollversammlung mit Kufija, uniformähnlichem Outfit und leerer Pistolentasche. Acht Tage später entschied die Vollversammlung mit 95 gegen 17 Stimmen, bei 26 Enthaltungen oder Nichtanwesenheiten, der PLO den Beobachterstatus zuzuerkennen.

Auf dem Weg zur Einheit

1. Die bisherige Haltung der PLO zur Resolution 242 zu bekräftigen, die das nationale Recht unseres Volkes unkenntlich macht und die Sache unseres Volkes als ein Flüchtlingsproblem behandelt. Der Rat lehnt es deshalb ab, mit dieser Resolution auf irgendeiner Ebene etwas zu tun zu haben. (…)

2. Die PLO wird alle Mittel, an erster Stelle den bewaffneten Kampf, einsetzen, um palästinensisches Gebiet zu befreien und die unabhängige kämpferische Nationalautorität für das Volk über jeden befreiten Teil des palästinensischen Territoriums zu errichten. Das wird weitere Veränderungen des Kräfteverhältnisses zugunsten unseres Volkes und seines Kampfes erfordern.

3. Die PLO wird jeden Vorschlag für ein palästinensisches Gebilde bekämpfen, dessen Preis in der Anerkennung (Israels), (…) im Verzicht auf nationale Rechte und darin besteht, dass unser Volk seines Rechts auf Rückkehr und seines Selbstbestimmungsrechts auf dem Boden seines Heimatlandes beraubt wird.

4. Jeder Schritt, der in Richtung Befreiung unternommen wird, ist ein Schritt zur Verwirklichung der Strategie der PLO, den demokratischen palästinensischen Staat zu schaffen, der in den Beschlüssen früherer Sitzungen des Nationalrats beschrieben ist. (…)

8. Wenn sie errichtet ist, wird die palästinensische Nationalautorität danach streben, eine Vereinigung der Konfrontationsstaaten zu erreichen, mit dem Ziel, die Befreiung des gesamten palästinensischen Territoriums zu vervollständigen, und als ein Schritt auf dem Weg zur umfassenden arabischen Einheit.

Aus dem Zehn-Punkte-Programm des Palästinensischen Nationalrats vom 8. Juni 1974

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