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Aus: Ausgabe vom 29.05.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Geschichte der DDR

Das langweilige Zentralorgan

Die Widersprüchlichkeit des Generalsekretärs: Zum 30. Todestag des Kommunisten und Antifaschisten Erich Honecker
Von Frank Schumann
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Erich Honecker und Jassir Arafat bei den X. Weltfestspielen der Jugend und Studenten (Berlin, 1.8.1973)

Erich Honecker hatte eine sentimentale Ader. Seine besondere Zuneigung gehörte auch im Alter der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und ihrer Zeitung, der Jungen Welt. Was natürlich auch der Tatsache geschuldet war, dass EH zu den Mitbegründern des Jugendverbandes gehörte und auch mit dafür verantwortlich war, dass Junge Welt zur auflagenstärksten Tageszeitung der DDR wurde.

Indirekt natürlich. Und das kam so: Ende der 70er Jahre hatte der britische Verleger Robert Maxwell Honeckers Autobiographie »Aus meinem Leben« herausgegeben, die auch in der DDR erscheinen sollte. Zuvor, so meinte man im Politbüro, müsse man den Text in einer DDR-Zeitung in Fortsetzungen veröffentlichen. Harry Tisch, der Gewerkschaftsvorsitzende, machte sich anheischig, die Autobiographie im Organ des Freien Deutschen Gewerkschaftsbunds Tribüne zu publizieren. Joachim Herrmann, Chefredakteur des Neuen Deutschland, reklamierte das Zentralorgan als angemessenen Platz, und Verteidigungsminister Heinz Hoffmann meinte, mit einer Veröffentlichung in der Volksarmee, der Wochenzeitung der Politischen Hauptverwaltung der NVA, ließe sich die ideologische Front der DDR-Streitkräfte stärken. Honecker, der wie immer das Prä bei solch existentiellen Entscheidungen hatte, erteilte der Jungen Welt den Auftrag. So druckte das Organ der FDJ »Aus meinem Leben« kapitelweise. Und ich musste vor Insatzgabe alles kollationieren, also den Urtext mit der Zeitungsfassung vergleichen.

In der DDR bekam jede Zeitung eine bestimmte Menge Papier zugewiesen (womit auch die Auflage gesteuert wurde). Bei der JW – das Monatsabo kostete 2,70 Mark – war die Nachfrage stets größer als das bewilligte Papierkontingent. Chefredakteur Dieter Langguth nutzte listig die Chance des Vorabdrucks, um die Auflage der Zeitung der tatsächlichen Nachfrage im Lande anzupassen. Die Partei könne ihn ja nicht dafür bestrafen, dass er die Memoiren des Generalsekretärs millionenfach verbreitet, erklärte er. Und in der Tat: In jener Zeit wurde unsere Auflage siebenstellig. Diese Zahl durfte öffentlich fortan nicht mehr genannt werden, denn das Neue Deutschland lag nunmehr abgeschlagen auf Platz zwei. Später, als Langguth stellvertretender Abteilungsleiter im Zentralkomitee und damit Funktionär geworden war, sprach er von einer Partisanenaktion, die er heute nicht mehr durchgehen lassen würde.

Honecker, der die JW aus den erwähnten sentimentalen Gründen immer mit Nachsicht behandelte, schaute selbstredend auch hier durch die Finger. Einmal ließ er fallen, dass er morgens als erstes zur Jungen Welt greife, obgleich er doch zunächst das Zentralorgan lesen müsse. Doch das empfinde er als langweilig. Dass es so war, musste er sich allerdings selbst anlasten, denn er konzipierte oftmals die erste Seite selbst. Die Frage nach der Ursache von erkannten Problemen stellte er sich hier so wenig wie in anderen wichtigen Fällen.

Allein darin zeigte sich die ganze Widersprüchlichkeit seiner Person. Erich Honecker war ein standhafter Antifaschist und Kommunist, der unter den Nazis zehn Jahre für seine Überzeugung in einem Zuchthaus saß. Und er war ein engagierter Friedenskämpfer, der mit Geschick und Leidenschaft im Kalten Krieg dafür sorgte, dass Frieden in Europa blieb. Auf der anderen Seite jedoch war er mit seinen Ämtern überfordert, er war, nüchtern betrachtet, seinen Funktionen, in die er sich selber gebracht hatte, nicht gewachsen. Und auch wenn das heutzutage weltweit auf die meisten Politiker zutrifft, macht es die Sache nicht besser.

Gleichwohl: Erich Honecker blieb vor dem Klassenfeind immer standhaft. Bis zuletzt, als er am 3. Dezember 1992 im Berliner Gerichtssaal in einer fulminanten Rede – vermutlich der besten, die er je gehalten hatte – seinen Peinigern entgegenschleuderte: »Ich habe für die DDR gelebt. Ich habe einen beträchtlichen Teil der Verantwortung für ihre Geschichte getragen. Ich bin also befangen und darüber hinaus durch Alter und Krankheit geschwächt. Dennoch habe ich am Ende meines Lebens die Gewissheit, die DDR wurde nicht umsonst gegründet. Sie hat ein Zeichen gesetzt, dass Sozialismus möglich und besser sein kann als Kapitalismus.« Und er gab seiner Hoffnung Ausdruck: »Immer mehr ›Ossis‹ werden erkennen, dass die Lebensbedingungen in der DDR sie weniger deformiert haben, als die ›Wessis‹ durch die ›soziale‹ Marktwirtschaft deformiert worden sind, dass die Kinder in der DDR in Krippen, in Kindergärten und Schulen sorgloser, glücklicher, gebildeter und freier aufwuchsen als die Kinder in den von Gewalt beherrschten Schulen, Straßen und Plätzen der BRD. Kranke werden erkennen, dass sie in dem Gesundheitswesen der DDR trotz technischer Rückstände Patienten und nicht kommerzielle Objekte für das Marketing von Ärzten waren. Künstler werden begreifen, dass die angebliche oder wirkliche DDR-Zensur nicht so kunstfeindlich war wie die Zensur des Marktes. Staatsbürger werden spüren, dass die DDR-Bürokratie plus Jagd auf knappe Waren nicht so viel Freizeit erforderte wie die Bürokratie der BRD.«

Ihm blieben danach nur noch wenige Monate in Freiheit. In Chile lebte er in einem Häuschen, das ihm die PLO und deren Vorsitzender Jassir Arafat geschenkt hatten: Als Dank für die Solidarität, die der Internationalist Honecker den Palästinensern erwiesen hatte.

Hintergrund: Das Teufelszeug

Erich Honecker (25. August 1912 bis 29. Mai 1994) stand in den siebziger und achtziger Jahren an der Spitze der DDR und der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Mehr noch als mit der Wirtschafts- und Sozialpolitik der SED ist sein Name mit einer engagierten sozialistischen deutschen Friedenspolitik verbunden. Als die NATO Ende der siebziger Jahre mit dem maßgeblich von BRD-Kanzler Helmut Schmidt (SPD) initiierten Raketenbeschluss eine neue Welle der Hochrüstung lostrat, reagierte die Sowjetunion mit der Stationierung atomar bestückter Kurz- und Mittelstreckenraketen auf dem Territorium der DDR und dem Abbruch aller Abrüstungsgespräche mit den USA. Der DDR-Staatsratsvorsitzende und SED-Generalsekretär hingegen erklärte: Jetzt erst recht! Das Teufelszeug muss weg!

Honecker setzte sich für eine systemübergreifende »Koalition der Vernunft« ein, führte dazu unzählige Gespräche im In- und Ausland. Bei einem Treffen in Moskau – das Gorbatschow verhindern wollte – erklärten er und Schmidts Nachfolger, Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU), gemeinsam: »Die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Achtung der territorialen Integrität und der Souveränität aller Staaten in Europa sind eine grundlegende Bedingung für den Frieden. Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg, von deutschem Boden muss Frieden ausgehen.«

Diese Verpflichtung, die das bleibende Verdienst des Friedenspolitikers Honecker ist, hielt bis 1999. Fünf Jahre nach seinem Tod und der politischen Abrechnung mit der DDR beschloss die »rot-grüne« Regierungskoalition die Teilnahme am NATO-Krieg gegen Jugoslawien. Erstmals seit 1945 ging wieder von deutschem Boden Krieg aus. Laut Selbstdarstellung der Bundeswehr sind in den vergangenen 25 Jahren mehr als eine halbe Million deutsche Soldatinnen und Soldaten auf drei Kontinenten »im Einsatz« gewesen. Und aktuell wird die Stationierung einer »kriegstüchtigen Brigade« (Boris Pistorius) an der russischen Grenze in Litauen vorbereitet. (fs)

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  • Leserbrief von Frank Fischer aus Bitterfeld-Wolfen (6. Juni 2024 um 10:42 Uhr)
    Zu jener Zeit war mir wohl schon klar, was Erich Honecker für die »Ossis« prophezeit hatte. Wichtig ist mir hinzuzufügen, dass ich mich von der DDR vor Kriminalität und Gewalttaten um ein Vielfaches besser geschützt fühlte als hier von der BRD. Und ich müsste nicht die pausenlosen und abscheulichen Hetztiraden gegen Russland und Putin ertragen, die einem die Schamröte ins Gesicht treiben angesichts der unfassbaren und ungesühnten Verbrechen der Deutschen in der UdSSR im Krieg und dem Vergeben danach ohne nachhaltige Vergeltungsgelüste.
  • Leserbrief von E. Rasmus (30. Mai 2024 um 12:30 Uhr)
    Dank an Frank Schumann für seinen Artikel, insbesondere zur Episode mit dem Zentralorgan des FDJ-Zentralrats junge Welt, die man im Grunde ja als ein sozial lebendiges Erbgut von Erich Honecker und der DDR betrachten kann. Ausgezeichnet, weil 100prozentig gerade für diese asozial und kriegslüsterne Gegenwart zutreffend – da denke ich an Georgi Dimitroff – finde ich die ausgewählten Anklagezitate. Ganz persönlich erlebe ich dieses Krankenunwesen, wo man beispielsweise bei akuter Gehbehinderung mit Schmerzen auf Grund des neuen Gesundheitsgesetzes eines den menschenfeindlichen Zustand der SPD dokumentierenden Ministers anstatt gleich zum Orthopäden, erst den Hausarzt, so es den noch gibt, um eine Dringlichkeitsüberweisung auch mit verbundener Wartezeit bitten muss. Am nächsten Tag, wenn nicht das Wochenende noch dazwischenliegt, darf man in der Anmeldeschlange zur Akutsprechstunde stehen, um Stunden bis zur Arztkonsultation zu warten – ganz zu schweigen von Rettungsstellen, an die man verwiesen wird. In der DDR hätte es einen Aufstand gegeben, wäre diese Situation eingetreten. Für das heutige Deutschland ist sie Normalität. Und von Medikamenten, will ich hier gar nicht reden, die oft gar nicht verfügbar sind. Der Mensch ist eine Ware, die sich verkaufen muss und zum Wegwerfen dient. »Immer mehr ›Ossis‹ werden erkennen, dass die Lebensbedingungen in der DDR sie weniger deformiert haben, als die ›Wessis‹ durch die ›soziale‹ Marktwirtschaft deformiert worden sind (…) Kranke werden erkennen, dass sie in dem Gesundheitswesen der DDR trotz technischer Rückstände Patienten und nicht kommerzielle Objekte für das Marketing von Ärzten waren.« Leider aber wurde dank forciert betriebener Demagogie diese Erkenntnis bewusstlos gemacht beziehungsweise durch den auch bereits in der DDR schlummernden Opportunismus als Markenzeichen für die spätere Linke weitgehend stranguliert. Unbedingt zu ergänzen bleibt bei der Würdigung weniger »Die Widersprüchlichkeit des Generalsekretärs: Zum 30. Todestag des Kommunisten und Antifaschisten Erich Honecker« als vielmehr sein Friedensflug nach Osten. Im »Arbeitskreis Geschichte der Jugendhochschule Wilhelm Pieck« heißt es: »Vom 19. Juli bis zum 5. August 1947 besuchte eine Delegation des Zentralrates der Freien Deutschen Jugend unter Leitung Erich Honeckers, als Vorsitzenden des FDJ-Zentralrates, die Sowjetunion und nahm als Gast an der Sportparade der Völker der Sowjetunion in Moskau teil. Anschließend suchten die Mitglieder der Delegation die Heldenstädte Stalingrad und Leningrad auf.« Dies sei den Kriegstreibern um Baerbock … und Pistorius ins Stammbuch geschrieben. Die DDR stand in Übereinstimmung mit dem Potsdamer Abkommen für unbedingten Frieden – die BRD steht offenbar für Scheinheiligkeit und Krieg.
    • Leserbrief von Rainer Robert Klee aus Bad Kreuznach (30. Mai 2024 um 18:09 Uhr)
      Zusatz: Ein nationalsozialistisch sozialisierter DDR-Bürger und Theologe, mit 10 Geboten der protestantischen Kirche im Rucksack, namens Gauck, brachte es zu absoluten Friedenszeit nicht fertig, an den Olympischen Spielen in Sotschi als oberster Vertreter des »wiedervereinten« Deutschlands teilzunehmen. Danke Frank Schumann, Sie haben mich zu diesem Schachtelsatz ermuntert!
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Christel Harke aus Aschersleben (29. Mai 2024 um 19:15 Uhr)
    Frank Schumann gilt mein herzlicher Dank für den sehr lesenswerten Artikel. Der Einsatz Erich Honeckers für den Frieden war beispielhaft. Die heutige Zeit bräuchte mehr Männer und Frauen wie ihn. Aber jetzt haben Pistolius, Zack-Zimmermann und Konsorten ihre große Stunde. Von einer ganz großen Koalition wird die Bevölkerung indoktriniert, kriegstüchtig zu werden. Feststellen muss man, dass es bei einem Großteil unserer Mitbürger Wirkung zeigt; entweder folgen sie den »Argumenten« unserer Regierung oder sie sind in einem Maße desinteressiert, dass einem angst und bange werden kann. Auch die vergleichende Voraussicht Erich Honeckers schon Anfang der 90er Jahre, dass die »Ossis« mit der Zeit erkennen werden, dass das Leben in der DDR sorgloser war und die DDR-Bürger umsorgt waren, ist etwas, was viele Menschen erst im Laufe der Jahre feststellen mussten. Ich muss mich auch immer wieder wundern, mit welcher Chuzpe der Westen von den Ossis erwartet, dass wir doch nun endlich unseren Platz in der besten aller Demokratien finden und die Einheit bejubeln sollen. Glauben die Leute an maßgeblicher Stelle etwa, wir hätten die feindliche Übernahme mit ihren z. T. gravierenden Ungerechtigkeiten so einfach vergessen, oder wir würden die Häme, die jeden Tag auch nach mehr als 30 Jahren über die DDR und ihre Bürger ausgegossen wird, einfach so wegstecken? Nun, immer schreibt der Sieger die Geschichte, aber es ist noch nicht aller Tage Abend!
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marian Rose (30. Mai 2024 um 18:47 Uhr)
      Nur ungern widerspreche ich Ihnen. Nach 34 Jahren Erkenntnis im Sinne dieser Rede von Erich regen sich die betroffenen DDR-Bürger immer noch nicht und leisteten auch bisher keinen Widerstand. Das Erbe der DDR ist leider unrettbar verloren. Diesbezügliches hätte längst geschehen müssen.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ralph Dobrawa aus Gotha (29. Mai 2024 um 09:19 Uhr)
    Frank Schumann hat einen ebenso interessanten wie aufschlussreichen Beitrag zum 30. Todestag von Erich Honecker geschrieben. Er zeigt darin wichtige menschliche Seiten Honeckers auf, die gern von seinen politischen Gegnern ignoriert und ausgeblendet werden. Seine bedeutsame Rede in dem gegen ihn und andere Mitglieder des Politbüros geführten Prozess wird die Zeiten überdauern und untrennbar mit der politischen Strafverfolgung von DDR-Hoheitsträgern nach 1990 verbunden bleiben. Ralph Dobrawa, Gotha

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