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Aus: Ausgabe vom 29.05.2024, Seite 4 / Inland
Debatte über Ostdeutschland

Auf halbem Weg stehengeblieben

Nicht ohne Jargon: In Magdeburg trafen sich Linke, um über Ostdeutschland zu sprechen
Von Roland Zschächner
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Blühende Landschaften: Das leerstehende ehemalige Konsum-Kaufhaus im sächsischen Seifhennersdorf (4.5.2023)

Der Osten der Bundesrepublik hat immer mal Konjunktur. Derzeit ist die Aufmerksamkeit hoch. Das liegt nicht nur an Büchern wie denen von Dirk Oschmann oder Katja Hoyer, die die herrschende westdeutsche Erzählung über Ostdeutschland zumindest teilweise in Frage stellen. Hinzu kommt, dass im September in Sachsen, Thüringen und Brandenburg gewählt wird. Am vergangenen Samstag hatte das Sozialkombinat Ost nach Magdeburg zur sogenannten Ostdeutschlandkonferenz geladen. Gekommen waren rund 100 Menschen, die meisten jung und erst nach der Zerschlagung des Sozialismus geboren. Denen, die aus dem Osten kommen, ist im Durchschnitt ein geringes Erbe, niedrigerer Lohn und eine kleinere Rente gewiss.

Gründe also, um sich Gedenken darüberzumachen, wie die Gegenwartsgesellschaft verfasst ist. Warum die Lage ist, wie sie ist, skizzierte Dominik Intelmann in seinem Vortrag über die »Die Filialökonomie Ostdeutschlands«. Der Zerstörung der DDR folgte die Zerstörung ihrer ökonomischen Substanz. Durch D-Mark und »Treuhand« fand eine in Friedenszeiten beispiellose Deindustrialisierung statt. Das lag im Interesse westdeutscher Unternehmen, die die Konkurrenz beseitigten und sich über billige und gefügige Arbeitskräfte freuen konnten. Zurück blieb eine Gesellschaft, die mehr verbraucht als produziert. Diese sogenannte Produktionslücke wird von Transferleistungen aus dem Westen gefüllt, um den »sozialen Frieden« zu wahren. Wohlgemerkt: Das Geld fließt durch Konsum oder Mieten wieder zurück in den Westen. Heraus kommt eine auf Dauer abhängige Gesellschaft im Osten, die wegen niedriger Löhne und schwacher Gewerkschaften höchstens die Rolle einer verlängerten Werkbank spielt.

Erfahrungswissen darüber, fremdbestimmt zu sein, ist im Osten verbreitet. Früher war es die PDS, die auf die besondere Lage hinwies; die Nachfolgepartei Die Linke hat dieses Alleinstellungsmerkmal aus der Hand gegeben. Die AfD hat kein Interesse daran, an den ostdeutschen Zuständen etwas zu ändern. Statt dessen gelingt es ihr, mit Rassismus und dem Gestus der Opposition das Bedürfnis zu befriedigen, politisch wirkmächtig zu sein. Das hat auch Auswirkungen auf die gewerkschaftliche Arbeit, wie Stefan Bornost beim Workshop »Konfliktbewusste Tarifpolitik. Einblicke in die Praxis ostdeutscher Arbeitskämpfe« erläuterte. Der Verdi-Sekretär für Abfallwirtschaft in Berlin und Brandenburg beschrieb dabei zwei sich scheinbar widersprechende Entwicklungen: Wegen des Arbeitskräftemangels wächst die Verhandlungsmacht der Beschäftigten, die Gewerkschaften gewinnen an Boden. Anderseits orientieren sich nicht wenige neue Mitglieder politisch an der AfD.

Besser bezahlte Jobs und betriebliche Mitbestimmung seien kein Schutz vor rechten und autoritären Einstellungen, unterstrich auch André Schmidt vom Leipziger Else-Frenkel-Brunswik-Institut auf dem Abschlusspodium. Dort sollte es um die Frage gehen, was aktuell die Aufgabe einer gesellschaftlichen Linken in Ostdeutschland sei. Abgesehen von Allgemeinplätzen blieb eine Antwort allerdings aus – auch wegen politischer Beliebigkeit, geschichtlichem Desinteresse und theoretischer Selbstbeschränktheit.

Judith Dellheim von der Rosa-Luxemburg-Stiftung führt aus, dass Ostdeutschland ein Modellfall für eine soziale und ökonomische Transformation hätte werden können. Das hätte eine andere Arbeitsteilung und eine regionale Entwicklung mit demokratischen, sozialen und ökonomischen Standards bedeutet. Daraus wurde bekanntlich nichts, die Transformation lief nach kapitalistischem Drehbuch ab. Sozial und ökologisch, diese Schlagwörter wurden auch von Stefanie Hürtgen ins Feld geführt. Was darunter zu verstehen ist, wie das mit der von der Sozialwissenschaftlerin angesprochenen »Klassenpolitik auf Höhe der Zeit« aussehen könnte und was das alles mit dem Begriff »strukturelle Heterogenität« zu tun hat, blieb offen. Leider entstand nicht nur an dieser Stelle der Eindruck, dass es auch bei diesem Thema das Bedürfnis gibt, alles so weit zu theoretisieren, bis nur noch ein kleiner Kreis der in den Jargon Eingeweihten versteht, worum es geht.

Hürtgen sprach sich gegen einen »verengten« ostdeutschen Blick aus. Das führe nur zu Borniertheit, statt dessen gehe es um eine transnationale Perspektive. Der Salzburger Professorin kam gar nicht in den Sinn, dass die Menschen in Schwedt oder auf Rügen bereits wissen könnten, dass sie nicht allein auf der Welt sind. Schließlich wird – Stichwort PCK und LNG-Terminals – auf ihren Rücken ein internationaler Konflikt ausgetragen. Es gibt, das zeigte sich hier, keine Vorstellung davon, wer überhaupt das Subjekt des politischen Kampfes sein kann und soll.

Ohnehin gilt: Wer im Wissenschaftsbetrieb überleben will, muss eine gewisse Distanz zu den Problemen des Ostens demonstrieren. Die dortige Entwicklung sei gar nicht so besonders schlecht gewesen, fand Hürtgen – zumindest im Vergleich mit anderen. Das würde ein Regierungssprecher nicht anders sagen. Solche Einschätzungen verdecken den Schatz an Erfahrungen, den die 40 Jahre DDR hinterlassen haben. Das Interesse daran scheint international viel größer zu sein als in Deutschland. Was der untergegangene Sozialismus mit dem Heute zu tun haben könnte, schien zumindest kurz bei Judith Braband auf. Sie sei dankbar, als Frau in der DDR aufgewachsen zu sein, unterstrich sie. Heute steht für sie fest: »Frieden ist die wichtigste Frage unserer Zeit.« Die Debatte blieb an dieser Stelle stehen. Eine Diskussion mit dem Publikum war nicht vorgesehen. Dass diese notwendig ist, zeigt das Interesse am Thema Ostdeutschland, aber auch die politische Perspektivlosigkeit der Linken.

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