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Aus: Ausgabe vom 31.05.2024, Seite 8 / Ansichten

Über »Schlafwandel«

NATO-Debatte über Ukraine
Von Arnold Schölzel
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Kriegstreiber unter sich: US-Präsident Biden, NATO-Generalsekretär Stoltenberg und der unvermeidliche ukrainische Staatschef Selenskij (v. l. n. r., Vilnius, 12.7.2023)

Das Bild von den »Schlafwandlern«, die angeblich im geistigen Dämmerzustand 1914 einen schnellen Krieg in Europa durchziehen wollten, ist verlogen. Als es 2013 vom Historiker Christopher Clark erfunden wurde, mussten bereits die endlosen unpopulären völkerrechtswidrigen Weltordnungskriege der USA und ihrer Vasallen für urheberlos erklärt werden – von Jugoslawien über Afghanistan, Irak bis Libyen. Da bot sich an, auch die 100 Jahre alten imperialistischen Feldzüge, die lange vor 1914 geplant wurden und nach vier Jahren zum Ende von drei Monarchien, zu Revolutionen und antikolonialen Aufständen rund um den Globus geführt hatten, aus Umnachtung herzuleiten. Das erlaubt es, weniger von Interessen, von Kapitalismus und Aufteilung der Welt zu schreiben.

Das Schweigen davon ist ein Markenzeichen heutiger westlicher Kriege und der sie begleitenden Propagandamärchen – sei es in der Ukraine, sei es in Gaza oder im gesamten in mehr als 30 Jahren verheerten Westasien und Westafrika. Egon Bahr hat dazu 2013 das Nötige gesagt, als er Heidelberger Gymnasiasten aufzuklären versuchte: »In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.« NATO-Expansion bis kurz vor Moskau, Kündigung aller Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge mit Russland, Aufbau eines Angriffspotentials, das auch in der Ukraine stationiert werden sollte, Wiederbelebung faschistischer und nationalistischer antirussischer Hetze – seit 1991 gab es im Westen vorwiegend Altes und davon jede Menge.

Die Planer hatten Russland als »Regionalmacht« (US-Präsident Barack Obama 2014) ausgemacht, das flugs zu »ruinieren« (Annalena Baerbock 2022) sei, dessen »Wirtschaft ist in Fetzen, sage ich, in Fetzen« (Ursula von der Leyen 2023) oder wenigstens ein »wirtschaftlicher Zwerg«, »wie eine Tankstelle, deren Besitzer eine Atombombe hat« (EU-Außenbeauftragter Josep Borrell 2023). Sind die Eigentumsverhältnisse hinreichend irrational und machen insbesondere deutsche Untertanen überwiegend wieder Männchen bei Kriegsgebrüll, ist Realitätsverlust eine Konsequenz.

Mit Schlafwandeln hat das nichts zu tun, das Sein bestimmt auch dabei lediglich das Bewusstsein. Das reichte in den USA und angeschlossenen Staaten bislang zum Hineinstolpern in eine Situation, in der russische Streitkräfte – so General a. D. Roland Kather am Donnerstag auf Welt TV – »das militärische Geschehen bestimmen« und der »Ausweg«, Ziele in Russland anzugreifen, »eine weitere Eskalation« bedeutet. Das ist in Washington immerhin angekommen. Am Mittwoch titelte die Washington Post: »Die USA sind besorgt über Angriffe der Ukraine auf russische Atomradarstationen.« Die deutschen Bürgermedien berichten erst gar nicht. Das heißt dann Schlafwandel.

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  • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (2. Juni 2024 um 02:31 Uhr)
    Angeblich ist die Menschheit doch die am weitesten entwickelte Spezies unter den Säugetieren. Wie kann es dann sein, dass es einer extremen Minderheit von der überwältigenden Mehrheit immer wieder gestattet wird, ihre Art ungestraft in selbstschädigende und existenzgefährdende Katastrophen zu führen. Jedes Wolfsrudel hätte solche asozialen Schädlinge längst schon ausgestoßen.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (4. Juni 2024 um 13:24 Uhr)
      Es lässt tief blicken, wenn Sie ausgerechnet ein Wolfsrudel als Modell für soziales Verhalten anführen. Wo doch das Fressen und Gefressen werden in der Tierwelt an der Tagesordnung ist. Ein Wolfsrudel könnte man eher mit den aktuellen Kriegstreibern der NATO vergleichen. Nur ein paar Beispiele für die Wolfsmetaphorik der Nazis: In privaten Kreisen ließ sich Hitler mit dem Decknamen »Wolf« anreden, sein Hauptquartier nannte er »Wolfsschanze«. Türkische Faschisten nennen sich »Graue Wölfe«.
  • Leserbrief von C. Bender aus Düsseldorf (2. Juni 2024 um 00:11 Uhr)
    »machen insbesondere deutsche Untertanen überwiegend wieder Männchen bei Kriegsgebrüll« – tun sie das? Es hat Jahre der Trommelei und medialen Kriegspropaganda gekostet, die Umfragezahlen von 80 Prozent gegen Waffenlieferungen an die Ukraine (2015) auf heutige 40 Prozent dafür zu bringen. In den Facebook-Spalten der Nachrichtenportale toben Auseinandersetzungen zwischen Kriegsgegnern und Kriegsbefürwortern. Bizarr an der Situation ist, dass sehr viele, die sich klar gegen einen Krieg mit Russland positionieren, erkennbar der AFD nahestehen und auf ihren Profilen gleichzeitig ausländerfeindliche, rassistische und antifeministische Propaganda dreschen. Es kursiert sogar der Slogan, »wer Frieden will, wählt AFD«. Es ist verkehrte Welt! Die Situation ist also doch etwas komplizierter, als dass man sie auf einen »deutschen Untertanengeist« verkürzen könnte.
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (31. Mai 2024 um 10:12 Uhr)
    Die Schlafwandler sind zurück. Aber das Bild trügt! Die endlosen, oft völkerrechtswidrigen Kriege der USA und ihrer Verbündeten – von Jugoslawien bis Libyen – brauchten eine Erzählung ohne Verantwortliche! Auch die imperialistischen Feldzüge vor 1914, die das Ende dreier Monarchien und revolutionäre Umbrüche brachten, wurden so zur Folge von vermeintlicher Umnachtung erklärt. Dieses Schweigen über die wahren Interessen, über Kapitalismus und Machtpolitik, prägt auch heutige Konflikte – sei es in der Ukraine, Gaza oder anderswo. »In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte, sondern um Interessen.« Die NATO-Expansion, die Kündigung von Rüstungsverträgen und die Stationierung von Angriffspotential in der Ukraine sind keine neuen Strategien, sondern alte Pläne im neuen Gewand. Russland als »Regionalmacht« zu ruinieren, wie es westliche Politiker fordern, ist eine gefährliche Illusion. Während Washington inzwischen die Risiken erkennt, bleibt der deutsche Medienkonsument im Dunkeln. Das hat nichts mit Schlafwandeln zu tun. Es ist schlicht Realitätsverlust, wenn politische Entscheidungen von irrationalen Eigentumsverhältnissen und dem Willen zur Macht bestimmt werden.
  • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (30. Mai 2024 um 20:06 Uhr)
    »In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.« (Egon Bahr / 2013) Und nicht einmal um die Interessen ganzer »Staaten«, sondern um die des einen Prozentes (also des herrschenden Teils) in diesen imperialistischen Staaten.

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