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Aus: Ausgabe vom 31.05.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Klandestin an der Elbe

Heinz Jürgen Schneiders Roman »Rote Marine« erzählt vom antifaschistischen Widerstand in Hamburg bis 1933
Von Raoul Wilsterer
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Polizeistreife in den Straßen Altonas am Tag nach den Kämpfen zwischen Kommunisten und Nazis (Hamburg, 18.7.1932)

Der Roman beginnt mit einem politischen Mord am 14. März 1931. Ernst Henning war schon beim historischen Hamburger Aufstand 1923 dabei gewesen, jetzt wird der Bürgerschaftsabgeordnete in einem Autobus durch Pistolenschüsse auf ihn angesetzter SA-Leute niedergestreckt. Er hatte keine Chance. Die Hitlerbanden machen überall Jagd auf Linke, verbreiten Terror, die Zahl der Getöteten geht in die Hunderte, und die Braunen versuchen dreist, Fuß zu fassen in tiefroten proletarischen Vierteln Hamburgs. Die »Rote Marine« hat viel zu tun.

Ein Mann, »gut in den Dreißigern«, wird »Claus« genannt, ein Tarnname. Im bürgerlichen Leben heißt er Hans Bredel und leitet in Hamburg den geheimen Nachrichtendienst der KPD, parteiintern auch »der Apparat« genannt. Den Mord an Henning haben die konspirativ Tätigen nicht verhindern können. Claus und sein Stellvertreter Arthur Katz alias »Maus« stehen vor neuen Herausforderungen.

Wie auch der seit 1929 verbotene Rotfrontkämpferbund (RFB, 100.000 meist parteilose Mitglieder) müssen sie sich auf die rasant zuspitzende Gefahrenlage einstellen, illegale Quartiere besorgen, klandestine Treffs in Hinterzimmern von Gaststätten organisieren, Personen und Meetings schützen, Verstecke ausmachen, Depots anlegen. Bei allem fällt auch Jonny Wilhelm Wanger von der »Roten Marine« eine wichtige Rolle zu, Untergruppe des RFB für Seeleute, einige hundert Mann stark. Eine erfahrene, umsichtige, auch keinesfalls zimperliche Truppe.

Vorsichtig, wie es seine Art ist, wirbt »Claus« Annemarie Kröger alias »Sophie« als Kurierin an, ein Zimmermädchen im Hotel »Graf Moltke«, junge Kommunistin mit geduldiger Mutter und sozialdemokratischem Vater. Sie hat es auch deswegen nicht leicht in ihrer Familie. Antifaschistische Geschlossenheit wäre zwar das Gebot der Stunde, doch die Arbeiterbewegung ist seit anderthalb Jahrzehnten gespalten, organisiert in zwei zerstrittenen Teilen, eine Annäherung, wenn überhaupt, findet an der Basis statt, aber zögerlich. In beide Richtungen. Sozialdemokraten und Kommunisten sehen sich zwar gleichsam mit den wütenden Nazihorden konfrontiert, reagieren aber äußerst unterschiedlich darauf, entweder mit »Abwarten und Teetrinken« oder sektiererischer Militanz, eingeengt von »Burgfrieden«-Illusion oder »Sozialfaschismus«-These.

Als Kundschafterin hat »Claus« bereits Alma Kalender gewonnen, eine Kunststudentin und überzeugte Antifaschistin jüdischer Herkunft mit intellektuellem Bekanntenkreis. Sie wird für den »Apparat« den exklusiven, wenig bekannten Auftritt Hitlers vor den ökonomischen Eliten der Hansestadt im Hotel »Atlantic« auskundschaften – über ein Jahr schon vor dessen berühmt gewordener Rede im Industrieklub, Parkhotel Düsseldorf. Almas riskante, aber souverän bewältigte Undercovermission könnte als Ergebnis für weitere Klarheit sorgen über den Charakter des Faschismus – erkenntnisreich sogar für die Gegenwart wie das gesamte Geschehen vor 1933, sollte man meinen …

Doch die Verhältnisse, die sind nicht so, und die Umstände, unter denen dieser politische Roman geschrieben und vorgelegt wurde, sprechen derzeit eher dagegen, liegt doch das Thema weder inhaltlich noch kommerziell in irgendeinem Trend. Der Autor Heinz Jürgen Schneider hat es trotzdem gewagt. Es ist ein Prinzip der Kunst, sagte er sich mit Peter Weiss, es trotz aller Widerstände unbedingt zu tun, und investierte Jahre in die Recherche dieses wenig erforschten historischen Stoffs.

Nunmehr liegt das Werk in Buchform vor, und wer die 500 Seiten liest, erhält nicht nur einen tiefen, in dieser dramaturgischen Form einmaligen Einblick in die vorfaschistische Zeit und speziell in das Hamburg jener Tage. Die politische Analyse ist präzise auf den Punkt formuliert. Zudem gelingt es dem Autor, jene für das hanseatische Arbeitermilieu so typische, trocken-derbe Ästhetik einzufangen und den dort üblichen spöttisch-hintergründigen Humor in Geschichten zu fassen. Auch so sorgt er anhaltend für Spannung, und in manchen Szenen riecht man förmlich Hafen, Tabak und Alkohol der proletarischen Kneipen.

»Rote Marine« führt hautnah in den von einer gewissen Vergeblichkeit begleiteten Widerstand und die insofern voraussehbare Tragik, »deutsches Miserere« (Brecht/Eisler 1943). Das kann in seiner Dimension keine der Hauptfiguren ahnen, wird aber trotzdem vom Lesenden mitgedacht. Wichtig dabei, dass die bis heute immer noch meist im Psychologischen angesiedelte Frage, wie es so weit kommen konnte, dass die Mörder an die Schalthebel gelangen, beantwortet wird – wozu dann auch die Zweifel und Probleme im antifaschistischen Lager gehören.

Schneider hat langjährige politische und jede Menge juristische Erfahrungen. Jahrgang 1954, 30 Jahre profiliert als Rechtsanwalt in Strafprozessen, in denen er neben anderen Mitglieder der RAF und der PKK vertrat, Koautor des Standardwerks »Die Rechtsanwälte der Roten Hilfe Deutschlands« (Köln 2002) hat sich später als sozialkritischer Krimiautor im Stil von Sjöwall/Wahlöö einen Namen gemacht, drei seiner inzwischen sechs historischen Romane, verlegt bei Boyens in Heide, spielten ebenfalls vor 1933 in einem eher provinziell geprägten Rahmen. Und jetzt also das Tor zur Welt, in die Hafenstadt, die zugleich »Stadt der Pfeffersäcke« ist, ein Umschlagpunkt von Kolonialwaren, von ungeheurem, ungleich verteiltem Reichtum.

Indem Schneider diese Szenerie ausleuchtet, bringt er Licht in den nebulös verhüllten Klassencharakter von Machtverhältnissen. Immer noch ist die Erkenntnis verdächtig, dass Faschismus eine Herrschaftsvariante des Kapitals ist. Folglich wurde jüngst angesichts der Anti-AfD-Demonstrationen im Namen einer nicht hinterfragten Demokratie Horkheimer zitiert. Wer vom Kapitalismus nicht reden wolle, solle auch von Faschismus schweigen, hatte dieser gemeint. Schneider folgt dem. »Rote Marine« klärt auf.

Heinz Jürgen Schneider: Rote Marine. Verlag Tredition, Hamburg 2024, 500 Seiten, 19 Euro (Softcover), 25 Euro (Hardcover)

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